Wer ist Loki Estraven?
Wer ist Loki Estraven?…
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1. Der Kapitalismus ist eine Lüge – nicht Freiheit, nicht Wirtschaft, nicht alternativlos oder effizient. Allem voran dient dieses System nicht der Individualität, die es in bunten Werbebannern vor sich herträgt. Freiheit brennt in den Wäldern Australiens. Gleichheit brennt im nahen Osten. Geschwisterlichkeit brennt in der Ukraine. Und was tut die Welt? Sie starrt in den Abgrund von Klimawandel, Neo-Imperialismus und Techno-Feudalismus, ohne ihn zu sehen. Wandel durch Handel wurde Mord durch Profit. Konsumfetischismus erschöpft sich in extern stimulierten Reizen, die keiner Persönlichkeit bedürfen. Das Poster einer schönen neuen Ökonomie klebt der Menschheit vor den Augen. Ein Parasit des Geistes. Selbst den Blick der Kritik weiß dieses Biokontrollsystem in kommerzialisierten, nutzlosen Gesten der simulierten Rebellion aufzufangen. Wir stehen vor der großen Aufgabe, uns diese Augen – diesen gegebenen Blick des Parasiten– auszubrennen und wirklich sehen zu lernen. Der Totalitarismus im Neoliberalen kann nur von einer letzten Generation besiegt werden, die ihre Sache auf nichts gestellt hat. Wir stehlen. Wir kopieren. Wir besetzen. Wir befreien, wo wir fressen. Wir wachsen. Wir bauen.
2. Neohumanismus kam als Reaktion gegen die Willkürlichkeit der sogenannten Postmoderne auf, nur um sofort wieder in dieselben Löcher zu stürzen. Die schärfste Kritik an einer Postmoderne der Beliebigkeit hat sich als ihre willigste Vollstreckung erwiesen. Der neue Atheismus machte sich zum Einfallstor des 4chan-Faschismus. Der Neo-Imperialismus ist in den Irak, Hongkong, Syrien und die Ukraine einmarschiert. Die politische Ökonomie fälscht ihre Statistiken, um sie ideologisch auf Linie zu trimmen. Börsen-Kultismus betreibt Greenwashing, faselt von achtsamen Denken und einer Pflicht zur Sparsamkeit für alle außer den Kleptokraten von Davos, die weiter ungestraft alles plündern dürfen, was ihnen unter die Finger gerät. Sie reden nun mit Blumen, haben aber dasselbe Blut an den Händen wie der Reichtum ihrer Vorfahren.
Und was ist mit der humanistischen Kritik der Kritik? Wie der revolutionäre Liberalismus im 18. und der utopische Sozialismus im 19. Jahrhundert verweist sie auf das schwere Herz, hat aber eine lahme Hand. Materialismus ist als Realismus zur Substanz von Träumen der Kontrolle geworden, die ein Aufwachen unmöglich erscheinen lassen. Das bedeutet: Wir müssen zuallererst verändern, wie wir träumen (Zizek).
3. If nature is unfair change nature! Für den Xenofeminismus gibt es keine gegebene Ordnung. Natur ist Möglichkeitsraum. Shulamith Firestone forderte schon 1970 eine Verschmelzung des ästhetischen und technologischen Modus des Denkens. Wir subjektivieren unsere objektiv determinierte Existenz, indem wir ihr virtuell eine eigene Welt überstülpen (Zizek). Während weder das ästhetische noch das technologische Denken allein ausreichen, zusammen können sie Träume erschaffen, die betreten werden können. Wo diese Fähigkeit, die eine Fähigkeit der Natur in sich selbst ist, verschwindet, regiert die Wüste. Wahrheit lässt sich in der gegebenen Vernunft der technowissenschaftlichen Landschaft (Virilio) und des kapitalistischen Realismus (Fisher) ebenso verschleiern wie durch vorindustrielles magisches Denken. Im Anschluss an Mark Fishers Worte über Spinoza, möchte ich unsere Antwort auf die Krise der Rationalität daher psychedelische Vernunft nennen. Sie versteht sich als anti-dualistisch und anti-totalitär, anti-naturalistisch und anti-esoterisch – und ist positiv besetzt in einer Geschichte der Ereignisse, im Gefühl als Treibstoff der Vernunft und einer Kunst, die realer ist als die Realität. Die Imagination ist für die psychedelische Vernunft ebenso ein Werkzeug wie die Kausalität. Alan Moore versteht Magie demnach als einen Affekt der Sprache, der in der Manipulation von Symbolen (Wörter, Bilder, Geräusche) Veränderungen im Bewusstsein erzeugen kann. Verändert sich das Bewusstsein, kann es uns eine versteinerte Realität wieder als Möglichkeitsraum wahrnehmen lassen und umgekehrt. Wie Bühnenmagier wissen wir, dass gegebene Vernunft am Einfachsten zu täuschen ist. Wie Bühnenmagier wissen wir, dass wir nur Bedeutung kommunizieren und Orientierung bieten, nichts Übernatürliches verkörpern. Anders als Bühnenmagier sind wir nicht lediglich leere Theatralik. Für die Einzigen – gegen Götter und Könige – beanspruchen wir die Sterne. Wir sind es allein, die den Kosmos aus der Leere hervorbringen – in Träumen, die betreten werden können.
4. Effektives Handeln wirkt schwieriger denn je. Der Einzelne scheint auf verlorenem Posten zu stehen. Die Gruppe hat nichts anzubieten als die Gespenster einer überkommenen Vergangenheit. Aber der Gegensatz, den die klassische Moderne zwischen Individualismus und Kollektivismus, Eigen- und Fremdbestimmung durch den großen Anderen aufbaut, unterliegt einem grundsätzlichen Missverständnis. Schon ein Mensch ist kein Einzelwesen, sondern die Summe von vergangenen biologisch wie kulturell sich überlagernden Masken (Deleuze/Guattari). Jedes Individuum ist im Sinne Spinozas die Summe der Teile, die in ihm verschwinden. Was es der Welt schenkt, ist angehäufte Perspektive. Dieser zentralste Anti-Dualismus als Grundstoff der Politik ist so tief verschüttet in unserer gegebenen Gesellschaft, dass er wie ein Mythos wirkt. Dabei kann ein ethischer Egoismus der Einzigen (Stirner) nicht zuletzt der effektivste Weg sein, die vom Kapital gesponnenen Träume der Kontrolle von innen heraus zu zerstören. Wie? Nun, die Philosophie war stets zugleich Archäologin und Okkultistin. Wir sollten zunächst vermessen und freilegen, was wir hinter uns lassen wollen, bevor wir das heraufbeschwören, was der Zukunft gehört. Die europäische Moderne begann im Museum.
5. Die Geschichte des Kommunismus war ebenso eine Tragödie wie eine absehbare Katastrophe. Der Spott, den Marx und Engels über Stirner niederregnen ließen, rächte sich prompt im Schicksal der real existierenden kommunistischen Revolutionen – in der Macht der fixen Idee selbst über die radikalsten Absichten. Aus dialektischem wird allzu leicht eschatologischer Materialismus, der – um bei Marx zu bleiben – zu den neuen Blumen auf den Ketten der Verdammten wird. Das Kapital nahm das Bild dieser grauen, lustlosen Bürokratie dankend an, um den eigenen Sklavenhandel nach 1968 als ihr Gegenteil reinzuwaschen. Nützliche Idioten und Staatskirchen sind das wahre Erbe der orthodoxen Linken. Ein hohler Anti-Imperialismus, der noch Putin, Xi Jinping und Nordkorea verteidigen kann, ist an arroganter Dummheit und autoritärem Charakter nicht zu überbieten.
Was sich heute noch marxistisch nennen kann, sind – allenfalls und ineffektiv – bequem im Exil des Professorensessels sitzende Linksintellektuelle und ein maskierter Krawalltourismus auf der Straße, der die bürgerlichen Nachrichten mit Selbstbestätigung füttert. Dem Einzelnen wird so eingeredet, dass der Cum-Ex-Skandal ihn nicht betrifft, aber das Auto, das auf dem Bildschirm brennt, könnte das eigene sein! Beides ist Spektakel (Debord). Beides ist Anbiederung ohne Bewusstsein. Der Marxismus hat sich wie das Christentum zuvor, mehr oder weniger freiwillig, aber materialistisch perfekt in die »Trifunktionalität« (Piketty) der neuen techno-feudalistischen Weltordnung eingegliedert. Um diesen Umstand zu verschleiern, hat sich eine zynische Ideologie durchgesetzt (Zizek/Fisher): Sie wissen genau, was sie tun, aber sie tun es trotzdem.
6. Politisches Cosplay ohne Bewusstsein hatte aber nie einen materialistischen Wert und steht für etwas noch viel Schlimmeres als der Tod. Denkfaulheit und roter Traditionalismus stehen nicht nur symptomatisch für die Bedeutungslosigkeit der politischen Linken in der Gegenwart, sondern für den Tod des radikalen Denkens an sich. Markige Sprüche beeindrucken niemanden mehr, der in den Nachrichten sehen kann, wie die (post-)sowjetische Welt verrottet. Im 21. Jahrhundert hat sich das Politische daher nur in der terroristische Gewalt einer neuen Reaktion äußern können. Islamismus. Rechtsterror. Incels…
Aber Blutvergießen ist sinnvoller Weise wenig populär und auch nicht so radikal, wie es sich gibt. Das gibt uns Zeit, diesen Entwicklungen mit psychedelischer Vernunft entgegenzuwirken. Widerstand muss auch Widerstand sein und nicht eine weitere Spielart von Unrecht. Wäre eine vergleichbare Logik wehrhafter Dezentralität nicht beim »Anti-Terroranschlag« viel besser aufgehoben? In der theatralischen Logik hat jedenfalls selbst die Tragödie mehr Wert als die Feigheit einer Linken, die vor ihrer eigenen alltäglichen Komplizenschaft mit dem System innerlich emigriert ist. Das zeigt sich am Beispiel von Chiles ehemaligem und rechtmäßigen Präsidenten Salvador Allende: »Sie können uns überwältigen, aber soziale Bewegungen können nicht durch Verbrechen oder Gewalt gestoppt werden.« Diese letzten Worte werden ewig und anklagend nachhallen. Eine verlorene Zukunft, die uns gestohlen wurde. Was lässt sich im Vergleich noch Positives über Stalin sagen, ohne ausgelacht zu werden? Was wäre möglich gewesen, wenn alle Kommunisten wie Allende gewesen wären? Hätten ihre Mörder sich jetzt noch in Augen sehen können? Es gibt schlimmere Schicksale als den Tod. Deus Sive Machina.
7. Nostalgie spüren wir nur für die gestohlene Zukunft – die Arkologie-Wolkenkratzer, Post-Scarcity-Ökonomie und Solarpunk-Gärten, die uns zustehen – nicht für kommunistische Staaten, die nie existiert haben. Im Auftrag einer Welt, die frei sein könnte (Marcuse), muss die letzte Generation ihren alten Göttern das Feuer stehlen und die Welt anders aus den Angeln heben. Prägnant formuliert: Eine Zukunft für die Linke ist linksakzelerationistisch (Snircek/Williams) und individualistisch (Wilde) oder nicht-existent. Demnach darf sich unser »Prometheanismus« (Brassier) auch nicht länger an überkommene Gedankenbilder des Marxismus-Leninismus klammern. Unsere Museen werden nur für die Zukunft gebaut. Die Ideen von »Acid Communism« (Fisher), »Postcapitalism« (Mason) und »Howard-Roark-Communism« (Zizek) haben gerade erst ihren Anfang genommen. Wie Katniss Everdeen schießen wir sowohl dem Kapitol als auch der falschen Revolution einen Pfeil in die Brust. In diesem Sinne sprechen wir von Prometheus (Brassier) als Selbstermächtigung im Selbstbildnis und von Promethea (Moore) als Selbstbildnis in psychedelischer Vernunft. Titanen, die den Göttern das Feuer stehlen, sind Anarchist:innen.
8. Der Anarchismus ist eine ewige Hydra der Rebellion, mehr nomadische Tendenz als Theoriegebäude, kontinuierlich enthauptet in der repressiven Gewalt von Staatsmaschinen. Was den Anarchismus für unser politisches Projekt aber so wertvoll macht, ist seine vermittelnde und verneinende Position zwischen den beiden großen, progressiven Staatstheorien der Weltgeschichte. Im 18. Jahrhundert erschien der Markt wie eine Flucht vor der Unterdrückung durch die Monarchie. So kämpften wir an der Seite der Liberalen. Als sich der Landraub durch den Nationalstaat und die Verelendung durch die marktgetriebene Industrialisierung im 19. Jahrhundert fortsetzten, fiel unsere Gunst dem Marxismus zu, der auf überzeugende Weise einen Ausweg versprach. So kämpften wir auf der Seite des Kommunismus. Doch wie die amerikanischen und französischen Republikaner verrieten auch die Bolschewiki ihre Sache. Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs machten wir uns so in wechselnden Allianzen zum wissenschaftlichen und kreativen Treibstoff von politisch ungerichteten Gegenkulturen in Wissenschaft, Philosophie und Kunst. Wir wurden Jugendbewegung und Dorn im Auge des Anstands, Analytiker:innen der Macht und Künstler:innen des Widerstands. Die vibrierenden Energien der sexuellen Revolution, die Ideen zur anti-autoritären Erziehung, der Wertewandel in der Anthropologie, die politisierende Vitalität der Musiksubkulturen, die Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der Hacktivismus des frühen 21. Jahrhunderts wären nicht möglich gewesen ohne den Einfluss des Anarchischen. Dabei hatte keiner der Blöcke im kalten Krieg unsere uneingeschränkte Unterstützung, aber das reichte nicht aus. 1968 wurde dem Neoliberalismus einverleibt. Die verbliebenen nationalbolschewistischen Regime des real existierenden Kommunismus kann niemand bei Verstand als Alternativen zur parlamentarischen Demokratie verkaufen. Das nutzte der Kapitalismus aus und nun sind wir immer noch Gefangene. Von Anti-Monarchist:innen in Amerika und Frankreich zu Bauernmilizen in Spanien und der Ukraine zu Punk und Anonymous – was hält das neue Jahrtausend also für Anarchist:innen bereit? Ist es nicht an der Zeit aus dem Schatten der großen Geschwister als ihre Synthese und Verneinung hervorzutreten? Wir sind beides und nichts.
9. Become ungovernable! Anarchie ist ein Lebensweg, kein asketisches Ideal. Doch auch diese altehrwürdige Stimme, die (im Sinne Chomskys) als die einzig wirkliche Erbin aufklärerischen Denkens verstanden werden muss, hat ihre Gedankenbilder, die es zu überwinden gilt. Die anarchistischen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts, die in den Gefängnissen von Monarchen, Republikanern, Faschisten und Kommunisten gefoltert und ermordet wurden, hatten genug Anlass für die radikale Ablehnung des Nationalstaats. Dem Staat wird nicht vergeben. Dem Staat wird nicht vertraut. Aber ihn morgen abzuschaffen, käme einer sofortigen Kapitulation vor dem Techno-Feudalismus gleich, der schon heute hinter den Kulissen die Fäden zieht. Nur das unebene Terrain staatlicher Regulierung bietet der Versklavung durch Rechtslibertäre heute noch die Stirn. Auch ist Staatlichkeit selbst durch die digitale Vernetzung, die Innovationen im Transportwesen und die zunehmende kulturelle Durchmischung, die sich den Verhältnissen von vor der Erfindung von Landesgrenzen und Personalpapieren wieder annähert, eine andere geworden. Nicht einmal Rechtspopulisten können noch nationalistisch gebunden agieren und berufen sich stattdessen auf überstaatlich konstruierte Neogemeinschaften (Ethnien, Religionen, etc.). Dank des Neoliberalismus – und das ist das Einzige, wofür man ihm dankbar sein kann – ist der Nationalstaat hirntot, mehr Landschaft als Subjekt in der Weltgeschichte. Ein technokratischer Marktstaat wird zumindest in der liberalen Demokratie von diversen Kräften in Gang gesetzt oder behindert: Lobbyismus, Medienereignisse, Machtpolitik, Wirtschaftsinteressen und Kampagnen. Taktiken der alten Linken (»Der Hauptfeind steht im eigenen Land«) machen hier genauso wenig Sinn wie die romantische Rückbesinnung auf dörfliche Idyllen. Der einzige Weg ist vorwärts. Unsere anarchische Opposition ist demnach technobarbarisch, cybersozialistisch aufgestellt und strebt eine Solarpunk-Kosmopolis an, die zugleich überall und nirgendwo Wurzeln schlagen darf. Das 21. Jahrhundert ist das Jahrhundert der nomadischen Maschine. Alles ist Sand, das in das Getriebe der dysfunktionalen Technokratie gestreut werden kann. Reine Verneinung hat dabei aber keinen Wert für sich. Im Marktstaat können blinde Flecken schamlos und konsequent für »Anti-Terroranschläge« ausgenutzt werden. Das libertäre Kapital tut mit seinen Steueroasen und Seasteading-Plänen dasselbe, warum sollte es uns also verboten sein?
10. So ließe sich die Idee vom »Nachtwächterstaat« umdeuten. Wo sich die Kapitalisten eine Verwaltung wünschen, die den unternehmerisch organisierten Räuber bei Tageslicht vor dem Messer des blassen Kriminellen in der Nacht schützt, könnte einer anarchistischen Version dieser Idee – der Tagwächterstaat – einzig und allein die Aufgabe der ökonomischen Grundversorgung übertragen bekommen, die das Verbrechen aus ökonomischen Motiven überflüssig macht. Alle sonstige Einmischung in die Geschicke des Lebens wären dieser Verwaltung verboten. Keine Biopolitik, kein Patriotismus und Nationalismus, kein Militär, keine fixierten Gesellschaftsverträge – kein gutes oder schlechtes Leben. Die Übersetzung von Reichtum in Macht (Piketty) ist bereits an der Wurzel zu verhindern. Der Tagwächterstaat ist somit ein nomadisches Gebilde, das nur in Bewegung existiert und jede:n einzelne:n Bürger:in im vollen Bewusstsein zur Einzigkeit erzieht oder neu verhandelt werden muss. Demokratisch gewählte und aufkündbare Vereine, Räte und Gewerkschaften verwalten die »Commons« in jeder lokalen wie föderierten Gemeinschaft, die unter sich in digitaler Infrastruktur vernetzt sind. Eine Regierung der Logistik allein. Die sanktionierenden Gewalt ginge in kooperative Kultivierung über – mit den technologischen wie industriellen Kapazitäten und den moralischen Erfahrungen des 21. Jahrhunderts. Diese Zukunft ist aber kein Schalter, der sich umlegen oder durch revolutionäre Gewalt erzwingen ließe. Sie bedarf eingehender Vorbereitung und einer zivilgesellschaftlichen Transformation (Gramsci), die wiederum schon morgen beginnen kann. Ökonomische Unabhängigkeit und wirklich unabhängige Bildung hängen hier eng zusammen. Ist ein kopfloses Bewusstsein für den Tagwächterstaat erst einmal entzündet, hält sich die Flamme im Habitus (Bourdieu) über Generationen hinweg von selbst am Leben. Wie mächtig ein solches Verständnis des Menschen sein kann, hat sich in der parlamentarischen Demokratie schon teilweise realisiert. Sie ist mit ihrer limitierten, aber flächendeckenden Bildungsversorgung und sozialdemokratischen »New Deal«-Grundsicherung weiter zum Kommunismus vorgedrungen als jeder marxistisch-leninistisch organisierte Staat. Das gilt es auch in der radikalen Linken anzuerkennen. Genauso ist es aber kein Grund sich zufriedenzugeben, zumal die Erfolge nie allen zu Gute kamen und uns im Neoliberalismus zur Zeit Stück für Stück wieder genommen werden. Das Basiseinkommen wäre – gekoppelt mit einer adäquaten freischwebenden (Mannheim) Bildungsrevolution – der nächste Schritt.
11. All seine Entscheidungen muss der Tagwächterstaat vor denen rechtfertigen, die sie betreffen. Jede Form der Teilhabe und Verantwortung wäre somit eine Angelegenheit tatsächlichen Wettbewerbs, weil sie zwischen vertragsfähigen Einzigen auf Augenhöhe verhandelt werden müsste. Dem Kanalarbeiter stünde dann vermutlich mehr Lohn zu als dem Bankenmanager. Die entstehenden Mehrkosten gäben einen ökonomischen Anreiz, syndikalistisch für die möglichst effiziente Vollautomatisierung von notwendigen Arbeiten und das Glück von Angestellten vorzusorgen. Die Sklaven dieser Gesellschaft wären keine Menschen mehr, sondern Maschinen (Wilde). Das Schenken, welches bisher nur an einzelnen Festtagen wie dem christlichen Weihnachtsfest das Denken bestimmt, würde den Alltag übernehmen. Die Mächtigen müssten sich in ihrer Großzügigkeit bewähren oder Zwerge bleiben. Ihr Prestige könnte dem ökonomischen Denken vollständig entzogen werden, wie es beim Kula-Handel der Trobriander (Malinowski) und dem Potlatch (Mauss) schon in vorindustriellen Gesellschaften der Fall war. Vergleichbare cybersozialistische Unterfangen wären vermutlich im (Extrem-)Sport, der (geistig oder physisch extremen) Reise oder in der kollektiven Kunst (Computerspiele, Filme) oder in anderen Großprojekten (z. B. Prachtbauten) zu suchen. Hier kann sich dann eine tatsächliche Elite – und der Tagwächterstaat will mehr Eliten hervorbringen als jede andere Gesellschaftsform – vor den Augen einer urteilsfähigen und ökonomisch unabhängigen Gemeinschaft Respekt verdienen.
12. Zu diesem Zweck müsste auch in bester liberaler Tradition (Smith und Ricardo) Landbesitz enteignet werden, da er vampiristisch funktioniert und anders als Landwirtschaft, Handwerk, Kunst und Verwaltung keinen tatsächlichen Mehrwert für das Leben produziert – genauso wie Finanzspekulation, geplante Obsoleszenz oder »Bullshitjobs« (Graeber). Die Arbeit der Aneignung ist aber den Gewerk- und Genossenschaften – d. h. dem Streik und der gemeinschaftlichen Übernahme – zu überlassen und nicht dem Staat, der seine Unfähigkeit in dieser Hinsicht historisch unter Beweis gestellt hat. Ein nationalistischer Staat verwittert nicht. Ihm darf keine subjektivierende Macht übertragen werden. Das ist die zentrale Lehre aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Der Tagwächterstaat tritt erst dann in Erscheinung, wenn der Nationalismus schon vergessen ist. Es bedarf dann keiner Polizei mehr, da Eigentum nur noch verpflichtet und nicht mehr als externalisierter Affekt existiert. Die Ahndung der letzten, nicht-ökonomischen Verbrechen – das Leben wird nie ungefährlich sein – muss nach dem Vorbild indigener Rechtsprechung rein restaurativ erfolgen. Ansonsten schafft jedes Verbrechen nur weitere Verbrechen. Ich habe in Anbetracht dieser Ideen weder Angst davor, von der traditionellen Linken liberal genannt zu werden, noch fürchte ich mich vor der Bezeichnung Kommunist. Ich bin beides und nichts von beidem. Traditionelle linke Theorie krankt daran, dass sie nicht mehr radikal genug denken will. Sie ist nur noch der eigenen Tradition verpflichtet. Unsere Museen werden für die Zukunft gebaut. Wie ein Setzling braucht ein solcher Gesellschaftsentwurf Zeit und Vorbereitung sowie konstante Revision, um sich zu entfalten – genauso wie der Nationalstaat Zeit und Pragmatismus brauchte, um den Menschen zu deformieren.
13. Alle Zeltlager des Politischen bestehen aus Zellstoff und heißer Luft. Nach Spinoza ist das Vollkommene immer nur das Realisierte. In dieser Hinsicht ist der Marxismus ebenso an seinen Zielen gescheitert wie der Liberalismus. Was sich von beidem noch retten lässt, sollten wir nicht davon abhängig machen, was uns am Zellstoff emotional affektiert. Jede Aufhebung funktioniert nur in einem doppelten Maskenspiel aus Verneinung und Affirmation. Erst in der Verdrehung durch ein Spiegelbild kann man sich erkennen. Was fehlt ihnen? Was fehlt uns? Was lässt sich dagegen errichten? Rousseau hatte Kondiaronk. Marx hatte Hegel. Hayek hatte Keynes. Und wir? Zulange haben sich der universitäre Marxismus und Liberalismus mit der Frage aufgehalten, was die neue Rechte ideengeschichtlich von Linken gestohlen hat (Gramsci, Popart, usw.). Aber lag der eigentliche Erfolg der neuen Rechten nicht gerade in einem der Zeit angemessenen, adäquaten Denken begründet, dem die Linke in ihrer etablierten Form nichts entgegenzusetzen konnte? Deswegen hat Mark Fisher Recht, wenn er Nick Land als den Antagonisten bezeichnet, den die Linke braucht. Der Gedanke des Akzelerationismus kann als Keimzelle einer radikalen Politik des 21. Jahrhunderts gedeutet werden. Als Rechtsakzelerationist hofft Land auf die vollständige Überwindung der Menschheit in der Verschmelzung von künstlicher Intelligenz und Marktlogistik. Sein Libertarismus ist kosmisch, mechanisch – das eisige Wasser eines mathematisierten Realismus als poetische Theologie der Auflösung in der Maschine (Noys). Kapitalismus könne nur künstliche Intelligenz produzieren und künstliche Intelligenz könne nur dem Markt entspringen. Land verwechselt hier die deterritorialisierende Kraft hinter dem Kapitalismus mit dem Kapital selbst (Fisher). Auf jede Auflösung der Formsysteme (»Alles wird Dampf«) folgt die Reterritorialisierung im Techno-Feudalismus, der in seinem Hamsterrad nur noch auf der Stelle tritt.
Steht Land für die radikalste Spitze der transhumanistischen, libertären Rechten im Silicon Valley, so verkörpert Aleksandr Dugin symptomatisch die Wende, die sich ideologisch in den neoimperialistischen Staaten des ehemalig sowjetischen Einflussgebiets materialisiert hat. Die vierte Staatstheorie vereint Faschismus, Neoliberalismus und Sowjet-Kommunismus unter Heidegger, der sich aus einer Metaphysik der Trümmer erheben soll. Dasein wird historisches Subjekt. Das ist postmoderne Verblendungspolitik im Gewand der Metamoderne. Eine Rückkehr zu religiösem Traditionalismus mag sinnstiftend wirken, ist letztendlich aber stets suizidal angelegt und gegen das Leben gerichtet – wie Putins Flirt mit dem Atomkrieg eindeutig zeigt. Der chinesische Staat verkörpert Aspekte von Land und Dugin in einer hochtechnisierten Staatsmaschine, die mit ihrer ökonomischen Kriegsführung in naher Zukunft zum zentralen Antagonisten individualistischen Denkens werden könnte.
Dass Land wie Dugin wahnsinnige Lösungen vorschlagen, sollte uns nicht davon abhalten, ihre Analysen und ihre Poetik bis zu einem gewissen Grad ernst zu nehmen – allein schon deswegen, weil sie im Gegensatz zu allen Entwürfen der traditionellen Linken noch Interesse auf sich ziehen. Hier lässt sich im Allgemeinen auch entdecken, was an der Praxis des neurechten Politikspektrums innovativ ist: Land und Dugin sind zutiefst idiosynkratisch, interdisziplinär orientiert und in Praxis wie in Theorie vergegenwärtigt, ohne jedoch ihren ideologischen Kern aufzugeben. Idiosynkrasie, Interdisziplinarität und Vergegenwärtigung sind alles Dinge, die in der heutigen Zeltlager-Linken nicht gern gesehen werden. Man gibt sich mit einem revolutionären Etikettiergerät zufrieden. Deswegen scheitern wir auf breiter Linie. Das Vermächtnis unseres eigenen Versagens wird uns nicht retten. Sieht Dugin in der vierten Staatstheorie die Weiterentwicklung des Nationalbolschewismus, so können wir in der fünften politischen Theorie eine Entfaltung des Anarchismus in seiner vollsten Blüte verorten, dem im 19. und 20. Jahrhundert ebenso jede Eigenständigkeit abgesprochen worden ist und bis heute aus den Geschichtsbüchern heraus redigiert wird, obwohl sich Liberale wie Kommunisten stets zu eigenen Zwecken am Anarchismus bedienten.
14. Wir sollten Land wie Dugin daher als »terroristische Pornografen« (Angela Carter) einer beginnenden Ideengeschichte des 21. Jahrhunderts verstehen und in dieser Hinsicht allein zu Verbündeten erklären. Laut The Sadeian Women (1979) tat der Marquis de Sade – vielleicht unbeabsichtigt (es spielt keine Rolle) – einiges für den Feminismus, indem er schonungslos alles unter der bürgerlichen Pseudomoral Verdeckte und Geleugnete in den Mund nahm. Alle Poster von der Welt werden in der Welt geschreddert, das Innerste des bürgerlichen Materialismus ins Äußerste verkehrt. War de Sade ein materialistischer Terrorist der Aufklärung, folgt nun – im Anbetracht der Verkehrung der historischen Umstände – der Anschlag auf das Bild des Realen aus den materiellen Landschaften des Traums heraus. Die erfolgreiche Entheiligung aller zynischen Kontrollsysteme – Lands theologischer Technozentrismus, Dugins Metaphysik der Trümmer – kann demnach zum Fundament für eine angemessene, adäquate Antwort (»moralische Pornografie«) werden, die ebenso radikal gegen den Realismus als Ideologie sticht, ohne aber die Vernunft dem Wahnsinn preis zu geben. Diese Verneinung der Verneinung nimmt an einem Ort allein ihren Anfang: Im Ich, das die Welt in sich auflöst. Nur so lässt sich posthumanistisch ein Humanismus erschaffen, der nicht bloß in leeren, abstrakten Phrasen existiert. Alles Leben ist Wasser, braucht Wasser. Wasser bringt in der Tiefsee wie an der Küste die unglaubliche Farbenpracht und Vielfalt an Geschöpfen hervor, die eine Wüste des »Herzlands« niemals tragen könnte. Eau du vide. Das Wasser ist schöpferisches Nichts. Wasser der Leere. Universelles Lösungsmittel. Wir verneinen aber die technische Kälte der Abstraktion. Lands kosmischer Libertarismus ist ein eingezäunter Bereich auf offener See, wo wir ohne Neoprenanzug und Sauerstoffgerät in die Tiefe springen sollen: Rapture, R’lyeh, ein Wasserpark für Roboter. Wir wollen zwar noch viel tiefer tauchen, aber ohne im Prozess zu erfrieren, und wir mögen ebenso die warmen Küsten mit ihren wundervollen Korallenriffen, die es für unser Vergnügen und unsere Bildung zu schützen gilt. Ohne Wasser kein Leben. Ohne Erde kein Halt. Am Strand zwischen zwei Todeszonen gründet sich unser Kult um Dagon, wo wir mit Fischen zu schlafen lernen, bevor sie uns begegnen – Fischsprecher:innen. Küstengänger. Traumwandler. Fischmenschen.
15. So schlage ich in der psychedelischen Vernunft und im Tagwächterstaat die Bündlung und Verneinung der anderen Hälfte des politischen Spektrums vor: Demokratischer Sozialismus, Anarchie und Liberalismus. Der Kommunismus muss sich vom Ein-Parteienstaat und all seinen alten Götzen lossagen, die historisch so eindeutig gescheitert sind. Genauso werden liberale und libertäre Werte nur dann mehr als Worte sein, wenn sie sich vom Kapitalismus verabschieden. Die liberalen Vordenker konnten in ihrem Konflikt mit der Monarchie noch nicht das volle Bild des Kapitalismus erkennen (Chomsky), ebenso wenig wie der Kommunismus im Akt der Revolution das Bürgerliche im Traum und den Autoritarismus im Realen überwinden konnte. Linker wie rechter Konservatismus ist eine Krankheit zur Durchsetzung automatisierter Macht. Die Autorität der Bilder. Gib mir das Kind, ich gebe dir den Erwachsenen, sagen Sekten. Wir nehmen das Kind, sodass es erwachsen niemandem mehr gehören muss. Humboldts Bildungsideale spielen hier ebenso eine Rolle wie Mannheims Gedanken zur freischwebenden Intelligenz und Stirners Ideen zur Erziehung. Das schöpferische Nichts (Stirner), ein erlernter Körper ohne Organe (Deleuze/Guattari), ist die einzige Antwort auf das Dasein als historisches Subjekt.
16. Doch wie der »Fortschritt« von Gesellschaften der Souveränität zu Gesellschaften der Disziplin zu biopolitischen Gesellschaften der Kontrolle zeigt: Gegebener Affekt ist die stärkste aller Ketten. Aldous Huxley warnte schon in den 1930ern ästhetisch vor dem libidinösen Totalitarismus, den er im amerikanischen Gesellschaftsmodell kommen sah und in seinem bekanntesten Roman Brave New World zu Papier brachte. Es ist symptomatisch für unsere Zeit, dass sein viel adäquateres Werk hinter der Angst vor einem Totalitarismus nach Orwell verschwindet, das als Bild falschen Bewusstseins nun für jede Schicksalswende zu Ungunsten der neoliberalen Politik herhalten muss. William S. Burroughs schrieb ebenso in den 1950ern, dass wir in einer Gesellschaft der Süchtigen leben. Ihm verdanken wir den Begriff »Kontrollgesellschaft«. Eine Kontrollgesellschaft erhält sich nicht in physischer Gewalt, sondern in Besessenheit und konditionierter Abhängigkeit. Positive wie negative Affekte werden externalisiert, machen so abhängig von gegebener Gratifikation. Das 21. Jahrhundert versklavt im Bild der Person, im Genuss einer Bewegung ohne Gedanken. Die einfachste und zugleich durchsichtigste Form dieses Biokontrollsystems ist die physische Drogenabhängigkeit. Bioshocks Adam. Huxleys Soma. Deswegen arbeitet sich die gegenwärtige Öffentlichkeit auch so sehr an der Suchtkrankheit ab. Sie ist ihr ein unerträgliches Spiegelbild geworden, eine terroristische Pornographie. Burroughs’ Gedankenkontrollpyramide. Zwei »Opiums of the People: Opium and the People« (Zizek). Mache, aber denke nicht darüber nach, was du machst. Vor allem: Besitze nicht, was du machst. Füge dich in das Zeltlager ein, was wir dir als Totenbett bereitet haben. Lass dich besitzen vom dir eingepflanzten Affekt, für den wir zum rechten Preis auch gleich die externalisierte Gratifikation bereitstellen. Das Denken steht zum Götzen gemeißelt im Sportwagen, im Influencer, im NFT, aber ebenso im Ratgeber, im akademischen Titel, im Lebenslauf – kurz: in der »Aura« (vermeintlicher) Kompetenz. Mit jeder Gewöhnung an dieses Bildnis geht für den Einzelnen die indoktrinierende Akzeptanz einher. Abhängigkeit potenziert sich in ihrer Vermehrung und oftmals sind die Dealer abhängiger vom Stoff als die Konsumenten. Die wirtschaftlichen Anreize hinter der Verschiebung des Handelns in den Affekt haben kein Interesse daran, dass Willen anders konsumiert werden kann, als im Ratgeber vorgeschlagen wird. Dann könnte sich das Publikum für etwas interessieren, wofür es womöglich keine Kompetenz dieses Typs gäbe. Der einzige Anreiz dieser Traumindustrie ist es daher, mehr Ratgeber zu verkaufen und so den Traum, der betreten werden kann, ins Niemandsland des externalisierten Affekts zu verschieben. Die profitable Pest der Coaching- und Selbsthilfe-Sekten steht symptomatisch für diese Mauer, die im 21. Jahrhundert zwischen der gegebenen Kompetenz und der ermächtigenden Bildung aufgebaut worden ist. Wir wollen sie schleifen. Sie steht dem Interesse, etwas von Wert zu werden, im Weg.
17. Damit das gelingen kann, muss die liberal-eschatologische Verortung der Subjektivität in einer gegebenen Vernunft endgültig für gescheitert erklärt werden. Der (kapitalistische) Realismus (Fisher) und seine verschiedensten politisierten Derivate haben in ihrer Mitte – in der Natur-Deutung – der Unvernunft unangefochten die Herrschaft überlassen. Der Esel hat sich durchgesetzt im prefigurativen Bild der Dinge, wie sie nun mal sind. Esel sagen zu allem, was als anständig präsentiert wird ja und sehen in allem, was im Schatten wächst den Teufel manifestiert, auch wenn sie diejenigen sind, die dort etwas haben verkümmern lassen. Hypnotisiert von einem Poster der Welt deuten sie und nennen es kritisches Denken. Unser Ziel ist der Mensch jenseits aller Menschenbilder – der Mensch als Subjektmaschine, die sich hinter der Sprache versteckt. Hier erst werden Ich und Raum zu einer produktiven Allianz. Es gibt keinen Boden der Erkenntnis, sondern immer nur den tautologischen Kern eines Bezugssystems, kurz: eine Kulturtotalität (Mannheim), die für die psychedelische Vernunft nur mehr eine Maskierung und Facette ist. »Realismus« suggeriert in der Leugnung der Maske genau das Gegenteil und wird so allzu leicht Opfer einer Natur werdenden Maskierung. So subjektiviert die Totalität – durch Selbstaufgabe einerseits, durch das Bild des Ichs ohne Ort andererseits – allein den Raum, aus dem sie gekrochen kam. Ideologie härtet zu Wänden aus. Common Sense. Logos ohne Logik. Facts don’t care about your Feelings. Als ewige, unveränderliche Natur waren Marxismus wie Liberalismus Insassen ihres je spezifisch gefärbten eschatologischen Materialismus, der sich noch die schlimmsten Verbrechen an der Menschlichkeit schönzureden vermochte, ohne sie auch nur zu sehen. Die Frage nach dem Subjekt ist demnach eine Frage des Raums und umgekehrt. Das Konzept der Hyperstition – Fiktionen, die sich selbst real machen (Land) – als Ideenraum (Moore) ist mächtig. Ideologie funktioniert bereits so, nur ohne Bewusstsein. Wenn die neue Rechte Alpträume real werden lassen kann, gibt es keinen Grund, warum Anti-Ideologie freischwebend (Mannheim) nicht dasselbe für Utopien erreichen kann. Die menschliche Neigung, das Irrationale dem Rationalen vorzuziehen, lässt sich nicht überwinden. Aber es gibt keinen Grund, warum sich das Irrationale nicht rational lenken ließe. Bei einem psychedelischen Subjektbegriff sollten wir in materialistischen Entsprechungen zu den Begriffen Beschwörung, Exorzismus und Besessenheit denken. Kunst ist stets realer als die Realität gewesen und somit als Ort der Prophetie – Religion ist Kunst, die vergessen hat, dass sie Kunst ist – und Selbstfindung zu rehabilitieren: Ein modernistischer Schamanismus (Moore) ohne Dogmatik oder Totalität.
18. Träume, die betreten werden können, haben Menschen wie Gesellschaften stets auf einer der elementarsten Ebenen der Virtualität geprägt und verändert – d. h. bis die Kunst von der Kulturindustrie (Adorno/Horkheimer) um die ihr ureigene Rolle betrogen wurde. Der Marvel-Film steht synonym für die allgegenwärtige geistige Armut einer an den Profit verschwendeten Kreativität. Die Werbeindustrie presst die Kunst aus, um sie als Opium unter das Volk zu bringen und produziert so pure Infantilität (Virilio) im Publikum und mehrt dessen Abhängigkeit von externalisierter Gratifikation (Moore). Stimmt es, dass die Postmoderne dem Surrealen das Unterbewusstsein geraubt hat (Jameson), so besteht eine der ersten Aufgaben für eine neue Menschheit darin, diese Verbindung wiederherzustellen. Das klingt verrückt? Kunst kann nichts verändern? Nun, warum kleistern die Kapitalisten ihre Städte mit Werbebannern zu und geben Unsummen für Public Relations aus? Der echte modernistische Schamane läuft nicht mit Heilkristallen durch den Wald, sondern praktiziert gehirngewaschen in den Denktraditionen von Edward Bernays und Walter Lippmann für Konzerne und Staaten. Hier entstehen Träume der Kontrolle, die Menschen nicht zu sich selbst führen, sondern in die Fänge eines Dutzends externalisierter Affekte. Wir sollten Dugins Analyse eines technisch ferngesteuerten Posthumanismus (»Angelopolis«) hier sehr ernst nehmen – auch, wenn er ihn falsch verortet. Träume der Kontrolle produzieren [-]Dividuen, also nach oberflächlichen Reizen (externalisierten Affekten) zerstückelte, gesprengte Wesen. Die kapitalistische Kontrollgesellschaft hält sich gerade dadurch aufrecht, dass sie ihren Kollektivismus für die Reichen im Bild eines Individualismus für die Armen verschleiert und ihnen als emotionales Bindemittel Simulationen der Rebellion in der traditionellen Linken bereitstellt. Es braucht eine große Verweigerung (Marcuse) gegenüber diesen Kräften und ihren rücksichtslosen Exorzismus aus dem Selbst. Freiheit ist nie gegeben und Schaffen schmerzt. Die Saat der Leere brennt ihren Weg durch Körper und Geist wie die alten Aufnahmerituale vorindustrieller Kulturen.
19. Die Antwort auf das, was noch nicht geboren werden kann, ist weder Verzweiflung noch Angst, sondern – wie Deleuze es in den 1990ern prophetisch formulierte – die Suche nach neuen Waffen. Chirurgische Waffen einer materialistischen Prophetie, die auf alles eselhafte Priestertum spuckt. Fiktion als Skalpell. Einer affektierend gestalteten Architektur ist es möglich, den Wahnsinn des Einzelnen in Besitz zu nehmen, zu aktivieren und zu lenken. Der Nationalstaat entstand im Museum, welches die Identität eines ethnisch konsistenten Volkes und die Idee linearer, kultureller Entwicklung erst hervorbrachte. Die neue Rechte entstand auf der digitalen Plattform im Labyrinth von Social Media. Solche Orte beherbergen nicht nur Gespenster. Sie sind Spuk. Stephen King hat mit The Shining einen der wichtigsten anti-autoritären Romane des 20. Jahrhunderts geschrieben. Die neue Rechte beschwört in Jack die subjektivierte Gewalt des Overlook-Hotels herauf. The Shining ist eine Geschichte über den autoritären Charakter (z. B. Dugin, Land), der von der Geschichte im Raum besessen wird. Trauma zwingt sich zur Wiederholung. Sind wir der ballardianischen Subjektivität dieser Räume, in denen wir uns wie Gäste bewegen, ausgeliefert? Es stimmt, Körper (mit dem Geist als Organ des Körpers) werden Teil einer Landschaft, sobald sie sie betreten haben. Aber sie sind als Räume für sich ebenso ihre Heimsuchung. Das Virus ist nicht mehr als eine Nano-Hülle und ein Code. Doch trotzdem hat Corona eine ganze Welt in den Stillstand gezwungen. Die Einzelnen mögen im Virus nur den Effekt erkennen (eine Krankheit, ein Lockdown). Doch das ist evolutionsgeschichtlich arg verkürzt betrachtet. Viel interessanter ist das Wie eines Virus, nicht das Was. Die Einzige, die um diese Situation weiß, betritt nun den Raum – ein Arbeitsamt, ein Museum, ein Internetforum oder eine Kathedrale – nicht als Insassin, sondern als Virtualität – wie das Kind Dany, das den Spuks wie ein Uhrwerk anzustoßen, zu navigieren, täuschen und letztendlich im eigenen Erwachen zu zerstören vermag. Das Overlook-Hotel brennt (Roman) oder erfriert (Film) als Nicht-Ort. Der Unmensch – Dany, nicht Jack – erwacht. Die Einzige ist nicht lediglich ein Gespenst, sondern Herrin und Beschwörerin von Gespenstern – Nekromantin in einer Welt, die sie weder liebt noch hasst.
20. Das Potenzial des Computers als psychedelische Maschine wurde gravierend unterschätzt. Die »Informationsbombe«, vor der Paul Virilio warnte, ist in den 2010ern tatsächlich explodiert. War die Entwicklung der Atombombe mit der technischen Realisierbarkeit einer mythischen Endzeit gleichzusetzen, stand die Ankunft der virtuellen Technologien im 21. Jahrhundert für die technische Materialisierbarkeit von Gespenstern und Dämonen. Diese Gespenster werden beschworen. Diese Dämonen werden gerufen. Manchmal entstehen sie als Nebenaffekt und Unfall. »Fake News« und »Nudging« sind zwar keine neuen Erfindungen in der Menschheitsgeschichte. Doch ihr Rahmen als Institution und Technologie ist hinter der Plattform verschwunden, was ihre Effektivität enorm potenziert. Der liminale Raum (Turner) ist nun überall und nirgends. Man ist ergriffen. Besessen. Algorithmen kontrollieren, indem sie vermeintlich nicht räumlich existieren. Die Funktionsweise dieser virtuellen Technologien bleibt trotz ihrer nachgewiesen desaströsen Auswirkungen auf das menschliche Gesellschaftsleben im »besten aller Systeme« Firmengeheimnis und könnte aufgrund ihrer zunehmenden Abhängigkeit von den Lernprozessen künstlicher Intelligenz vom Gehirn vermutlich bald auch kaum mehr verstanden werden. Die spontanen Strategien der Einzigen gegen diese Inbesitznahme durch den Raum können daher nur der psychedelischen Vernunft entnommen werden. Widerstand im »Plattformkapitalismus« (Snircek) muss den Raum als Traum verstehen und virtualisieren, um sich ihm verweigern zu können. Wie Warcrafts Illidari trinken wir Dämonenblut, ohne besessen zu werden. Dämonenjäger und Dämonenjägerinnen zwischen Overlook-Hotel und Angelopolis. Augenbinden, hinter denen die spektrale Macht psychedelischer Vernunft glüht. Beides und nichts. Ihr seid nicht bereit.
21. Im kulturellen Stillstand, den der Spätkapitalismus produziert hat, spiegelt sich die Unfähigkeit des einzelnen bürgerlichen Individuums, in der Kunst mehr als Dekorationsobjekt, Museumsstück, Geldanlage oder Unsinn erkennen zu können. Wie zur Zeit Walter Benjamins durchschauen sie die Macht der ästhetisierten Politik nicht und nennen Kunst unpolitisch, obwohl sie diejenigen sind, die nicht politisieren wollen und demnach posthumanistisch politisiert werden. Demgegenüber stellen wir eine neue Menschheit. Ein neues Sehen. Ein neues Denken. Ein neues Lieben. Eau du Vide. Wasser der Leere. Kurz: Räume der Zukunft, die zur Besessenheit vom Möglichen verführen sollen.
Der Aufstand kann nur in einer robusten und verführerischen Gegenöffentlichkeit ausgetragen werden, die ihre Sache auf nichts stellt. Die Aufklärung hat in Caféhäusern ihren Anfang genommen. Die alten Griechen haben ihre intensivsten Gedanken beim Symposion und auf der Agora geteilt. Der Fall des russischen Zarentums wurde in Geheimgesellschaften und im Lesen verbotener Bücher vorbereitet. Für das 21. Jahrhundert könnte hier der Rahmen einer psychedelischen Vernunftsreligion nach den »Earthseed«-Romanen der afrofuturistischen Schriftstellerin Octavia E. Butler ebenso angestrebt werden wie neue Subkulturen von Cottagecore bis Solarpunk. Der Linksakzelerationismus von Srnicek und Williams wirbt für die Gründung von Thinktanks nach dem Vorbild der Gesellschaften, die die neoliberalen Wende unter Thatcher und Reagan vorbereitet haben. Mark Fishers »Acid Communism« spricht sich für gemeinschaftliche Bewusstseinsbildung nach dem Vorbild des Feminismus der zweiten Welle in den 1960ern und 1970ern aus. Hier teilten Frauen ihre Erfahrungen (sexuelle Gewalt, Unmündigkeit, unbefriedigte Fantasien), um ihre soziopolitischen Ursachen hervorzubringen und Barrieren im Selbst gemeinschaftlich zu überwinden. Diese Praxis bietet sich vor allem dort an, wo unter dem gegenwärtigen neoliberalen Regime kontinuierlich gelogen wird: In Bezug auf Umwelt, mentale Gesundheit, Bürokratieabbau und Individualität.
Es ist nur wichtig, dass an diesen Orten tatsächlich das Neue, das Andere (Differenz) im Mittelpunkt steht und nicht irgendeine Wiederholung des Etablierten, sei sie links oder rechts motiviert. Die Vergangenheit ist Quelle für Ressourcen, mehr nicht. Allem voran hat sie keinen Respekt verdient oder Schulden einzutreiben. Stattdessen muss das gemeinschaftliche und nachhaltige Wachstum im Vordergrund stehen. Der einzige Weg ist vorwärts. Hierfür muss aber auch das langfristige Interesse gepflegt und nicht lediglich der spontane Affekt bedient werden. In liberalen Diskussionsrunden wird immer nur das verhandelt, was gerade modisch ist oder im Kanon als etabliert gilt. Ist Hannah-Arendt-Gedenkjahr wird Hannah Arendt gelesen. Das Neue entsteht nicht im Zentrum, sondern erscheint in der Distanz. Caféhäuser für die Zukunft existieren als Grenzerfahrungen in einer Gesellschaft, die für den Zusammenbruch ihrer eigenen Simulation – was Alan Moore als Apokalypse bezeichnet – probt und die Saat für ein Anderes in Umlauf bringen will. Unabhängig davon, wie diese Praxis im 21. Jahrhundert Gestalt annehmen mag, sollte eines klar sein: Ohne antizipative und gründliche »kognitive Kartierung« (Jameson) wird es unsere Zukunft nicht geben. Es braucht Portale für diese Zukunft und wie ein Virus müssen diese einen Schlüssel zur Gegenwart besitzen, um ihr die Zukunft einpflanzen zu können. »Portal Politics« (Fisher).
22. Wie kaum ein anderes Kulturprodukt der Informationsgesellschaft beherrschte das Meme die Gegenkulturen des frühen 21. Jahrhunderts. Die Doppelstruktur dieser Kommunikationsform, die der deleuzischen Unterscheidung von Wiederholung und Differenz entspricht, verkörpert eine morphologische – morphistische – Idee kulturellen Ausdrucks. Sie ist materiell und zugleich virtuell. Jede Vorlage (»Template«) hat so unendlich viele, verschiedene Gesichter, dass sie auf keinen einzelnen Ursprung reduziert werden kann. Ihre einzige Struktur als Prozess ist ein Rhizom der Anreicherung. Kein Meme kann verboten oder besessen werden, weil höchstens eine einzelne Version und nicht die einzige Vision beansprucht werden kann. Wird strikte Vereinzelung (wie im Kontext von NFTs) erzwungen, macht sich der Investor nicht nur lächerlich, sondern besitzt nach wie vor nicht mehr als ein Abbild des Originals und dazu noch das geistig ärmste, weil blanke Template. Diese Entwicklung als Zufallskunst zu verwerfen, ist hochgradig problematisch und spricht für die Kluft, die zwischen etabliertem Intellektualismus auf der einen Seite und radikalen Kulturschaffenden am anderen Ufer entstanden ist. Quer über das politische Spektrum ist die Erfahrung der letzten Generation durch den Neo-Dadaismus des Memes geprägt. Traditionelle Kunst wird niemals unabhängig von ihrer »Aura« (Benjamin) existieren können. Digitale Kunst kann das und insbesondere dann, wenn sie (wie ein Meme) sehr einfach herzustellen ist. Für den kommunistischen Künstler führte im 20. Jahrhundert der verlässlichste Weg in die Häuser der Superreichen über das modernistische Bild, das als Bloßstellung eben dieser Elite geplant war. Ein Meme kann allein schon wegen Konflikten um das Copyright und die Flüchtigkeit von Relevanz nicht auf dieselbe Weise besessen werden. Es erzeugt »Aura« erst im Prozess. Es ist reine Heimsuchung.
23. Was im digitalen Raum so prominent hervortrat, kann aber auch auf den analogen Raum übertragen werden. Die situationistische Internationale experimentierte mit dieser in den Alltag getragenen Heimsuchung. Allerdings fehlten ihr für die Umsetzung dieser Strategie in politische Effekte die notwendigen viralen Technologien und die spezifischen Krisen des Affekts, die im Kontext der virtuellen Technologien des 21. Jahrhunderts nun sehr deutlich hervortreten. In einer eingeschränkten Medienlandschaft und während der Konsensjahre nach dem zweiten Weltkrieg blieben das bewusst ziellose Wandern (dérive) und die Aneignung von Irritationen in der Mitte des öffentlichen Raum (détournement) notgedrungen hinter ihren Möglichkeiten zurück. Außerdem waren die Interventionen in ihrer Prägung durch die zu dieser Zeit bereits tödlich etablierten Avantgarde viel zu abstrakt, um verstanden zu werden, geschweige denn um mobilisieren zu können. Also löste sich die situationistische Internationale auf, bevor die Zeit von Smartphones und Social Media gekommen war. Aber sie hat ihre vergegenwärtigten Äquivalenten.
24. Die Wiederaneignung des Radikalen durch Neutralisierung (récupération) im Raum bleibt natürlich ein grundsätzliches Problem jeder antikapitalistischen Kunstform. Doch genau deswegen muss die Heimsuchung durch die psychedelische Vernunft wie eine Art Virus konzipiert sein, das in seiner elementarsten Funktion die Räume (Produktionsmittel, Plattformen, usw.) übernimmt, in die es eindringt. Ohne die nihilistischen Motive des 4chan-Faschismus zu übernehmen, können die Rahmenbedingungen von Debatten schon im Vorfeld ungesehen verschoben werden, zugunsten von Räumen des Möglichen. Wenn der Staatskapitalismus chinesischer Prägung eines bewiesen hat, dann, dass das internationale Kapital den schlechten Deal nicht ausschlagen kann, wenn er sich als kurzfristiger Gewinn präsentiert. Was könnten wir, die wir tatsächlich etwas zu schenken haben mit vergleichbaren Methoden erreichen? Hier befinden wir uns im Bereich des »Anti-Terroranschlags«. Eine an die Wand geklebte Banane wird immer eine an die Wand geklebte Banane – d. h. ein einzelnes Objekt mit »Aura« – sein, unabhängig davon, ob es als Kritik, Gag oder Businessstrategie durchdacht war. Aber wie ist es mit einer Kunst, die sich bewusst als Kopie verkauft und sich so dem Kunstmarkt der Singularitäten entzieht? Im Internet gibt es jetzt schon deutlich mehr talentierte Künstler:innen als in den Museen der Gegenwartskunst hängen. Sie verkaufen ihr Werk direkt als Druck oder Variation einer Einzigkeit oder lassen sich über Crowdfunding finanzieren. Das kann man stärker in den Vordergrund heben und so die innere Widersprüchlichkeit in der »Kunstliebe« von »Kunstliebenden« zugleich mit in den Raum stellen. Was lässt sich mit Patreon oder Kickstarter noch erreichen? Was ist mit der öffentlichen Performance, die tatsächliche Bildungswerte und (politische) Inhalte vermittelt? Das, was sich auf dem englischsprachigen Bildungsyoutube und Plattformen wie Nebula, die aus ihm hervorgegangen sind, findet, ist den traditionellen Gatekeepern wie Verlagen oder Schulen schon jetzt so überlegen, dass sie Content Creator rekrutieren müssen, um als Institutionen relevant zu bleiben. Was im Internet an Philosophie entsteht und vermittelt wird, überflügelt alles, was von offiziellen Stellen in der am Neoliberalismus erkrankten Verlagslandschaft publiziert wird. Der brechtsche Verfremdungseffekt könnte ebenso ein beständiger Gast in unserem Alltag werden. Was ist mit Krisenexperimenten (Garfinkel/Diogenes), die das Soziale im Realen (Lacan) brechen? Was ist mit einer Kunst, die invasiv ist, aber keinerlei bleibende Schäden hinterlässt, die als Vandalismus ausgelegt werden könnten? Das vom Wiener Poeten Helmut Seethaler praktizierte Zetteldichten ermöglicht auf einfache und effektive Weise, (politisierende) Literatur im urbanen Raum unterzubringen. Was ist mit Seedbombs und Guerilla-Gardening? Das sind nur Beispiele. Mehr Kreativität ist gefragt und nichts soll vorbestimmt sein. Eau du vide. Wir müssen externalisierte Affekte bespielen, um sie loszuwerden. In der technowissenschaftlichen Landschaft (Virilio) werden Kunst und Realität zu einer fließenden Einheit. Dieser kulturelle Morphismus ist die metamoderne Antwort auf das Erbe der situationistischen Internationale.
25. Die Frage nach der Überwindung von Geschlechtlichkeit (»Gender Abolition«) ist eines der wenigen Gebiete mit enormen subversiven Potenzial, auf dem die moderne Linke die Deutungshoheit behalten hat. Es liegt im Interesse der Einzigen, sich diese ewige Wiederkehr im Exzess – dem »+« in LGBTIQ+ (Zizek) – anzueignen. Die Psychoanalyse hatte Recht, als sie in der Leere der menschlichen Sexualität den Keim der Kultur erkannte. Doch Freud verzerrte die Qualität dieser Erkenntnis sofort wieder, indem er mit ihr die Notwendigkeit hierarchischer Unterdrückung in der Zivilisation begründete. Diese Fehleinschätzung verlagerte sich mit Lacan, wurde aber erst mit Deleuze und Guattari vollständig in ihr Gegenteil verkehrt. Die schizoanalytische Antwort auf den großen Anderen ist der morphistische Körper des Axolotls: neotenisch, d. h. auf halbem Weg sich den gegebenen Organen verweigernd. Schizophrenisierend. Der Mensch ist ein Mängelwesen (Gehlen), aber ohne Mangel! Dieser Zustand allein hat die Menschheit zu komplexem Werkzeuggebrauch befähigt und muss vor der Verschüttung im Bild bewahrt werden. [+] darf nicht auskristallisieren. Der höchste Gipfel menschlichen Seins ist für uns deswegen, biologisch wie kulturell betrachtet, das Nicht-Binäre und Pansexuelle. Trans+ ohne und mit allen Folgesilben. Es folgt als Notwendigkeit die große Verweigerung – Tumblrs Skeleton-Crew-Meme – vor der fiktiven Geschlossenheit im Natürlichen. Jede Neotenie ist eine Apokalypse, d. h. eine Enthüllung des Bestehenden. Sie ist reine Differenz, die sich jene Transformationen als Entscheidung vorbehält, zu denen sonst nur ein Embryo fähig ist (Deleuze). In den Worten von Ursula K. Le Guins Estraven: »Praise a Creation unfinished!«
26. Neben der kulturellen und sozialen Frage werden Deutungshoheit, Verfügbarkeit über und Verständnis von virtuellen Technologien in den nächsten Jahrzehnten eine erhebliche Rolle spielen müssen. Auch hier hat die anarchistische Linke der marxistischen Linken einiges voraus. So bestand einer der wichtigsten anarchistischen Erfolge des beginnenden Informationszeitalters in der Sicherstellung der Lizenz für Free Open Source Software (F.O.S.S.) durch Richard Stallman und andere Pioniere im Feld. Ohne diesen »Anti-Terroranschlag« auf das geistige Eigentum sähe das Internet heute schon längst düsterer aus. Öffentliche Plattformen wie Social Media, Wikipedia und YouTube wären nie gezwungen gewesen, sich über zahlungspflichtige Angebote oder elitäre Klubs für die obere Mittelschicht hinaus zu entwickeln. Freie Software zwang erst zu freien Angeboten. Kapitalismus erwürgt Fortschritt und hemmt reales Wachstum am Mehrwert (Red Plenty), weil er auf den Mangel angewiesen bleibt (Fisher). Das gilt es hervorzuheben. Der öffentliche Raum des Internets mag zwar zunehmend von Plattforminteressen verzerrt sein, aber ohne beherztes Eingreifen des anarchistischen Prometheus wäre er überhaupt nicht vorhanden. »Open Source Software« beweist kontinuierlich, dass es für »Prometheanismus« (Brassier) mehr braucht als Marxismus-Leninismus mit Ingenieursabschluss. Die bewusste Ausnutzung der Lücken in der Kontrollgesellschaft und eine Mentalität radikaler Aneignung ist auf alle Bereiche der technowissenschaftichen Landschaft auszuweiten und in den Alltag jeder Einzigen zu integrieren. Hierfür braucht es keine Zertifikate, lückenlose Lebensläufe oder andere Ritterschläge durch die institutionalisierte Demenz des Status Quo. Es braucht lediglich »Technomaterialismus« (Hester) und den Willen im Schenken zu handeln. Dabei dürfen wir natürlich nicht naiv sein. Mögen sich die Esel weiter wie die Fachidioten und Konsumobjekte eines Techno-Feudalismus verhalten und glauben, sie wären im Inneren etwas ganz Anderes als die willigen Erfüllungsgehilfen einer untergehenden Weltordnung. Wir arbeiten kontinuierlich an unserem »Open Source Self« (Negarestani), sodass es uns niemand nehmen kann.
27. Der Streik ist die älteste und mächtigste Waffe des zivilen Ungehorsams. Der Streik hat als Instrument des Widerstands nicht nur vor der Arbeiterbewegung existiert, sondern sie erst hervorgebracht. Aber er hat noch deutlich mehr Anwendungsmöglichkeiten als die bloße Empörung über unwürdige Arbeitsbedingungen. Der Streik gegen den Kolonialismus (Satyagraha) hat Indien die Unabhängigkeit eingebracht. Der Streik kann im »Anti-Work«-Aktivismus gegen die Erwerbsarbeit selbst ins Feld geführt werden. Der Aufstand der Jugend im Streik zum Schutz des Klimas ist eine naturwissenschaftliche Notwendigkeit. Aber was historisch den Streik organisierte, formalisierte sich zunehmend und das, was heute an mancher Stelle noch als Demonstration oder Gewerkschaft bezeichnet wird, ist oft zahnlos, partikularistisch und korrupt. Bürokraten kümmert das verschwendete Lebensblut der prekär Versklavten nicht, solange die eigenen, gut situierten Tarifverträge vom Kapital unangetastet bleiben. Dabei sind sie als nächstes dran! Dieses Arbeitsrecht ist das Schattentheater des Techno-Feudalismus, der sich in vorauseilendem Gehorsam nicht die Hände schmutzig zu machen braucht. Kontrollgewerkschaften für eine Kontrollgesellschaft.
Demgegenüber laden wir uns mit dem alten Geist der Revolte auf – »Vereine von Egoist:innen« im stirnerischen Sinne: Jene Konsumtion des eigenen Willens, die sich das rote Halstuch (»red neck«) auch unter der Gefahr umbindet, von Pinkerton-Agenten erschossen zu werden. Erst solche Heldentaten brachten die »New Deal«-Politik des 20. Jahrhunderts hervor. Der Gemeinwohlkonsens der Nachkriegsjahre wurde nicht gegeben oder mit Arbeitsleistung verdient, sondern erkämpft. Die Schwäche der Generationen, die in diesen Privilegien aufgewachsen ist, hat zu ihrer Zerstörung für die letzte Generation beigetragen. Die große Verweigerung ist nun die einzig effektive Möglichkeit zur Durchsetzung einer menschengerechten Zukunft. Der Streik ist ihre universelle Melodie, da Reichtum und Legitimation der bürgerlichen Esel allein auf dem Raub an Arbeitskraft basiert. Arbeitsentzug ist ihr Ende. Deswegen gibt es keine Peitsche ohne Zuckerbrot und letzteres kann wesentlich boshafter sein. Wie Stirner müssen wir wissen: Kontrolle wird nicht gegeben, sie muss genommen werden.
28. Sklaverei ist nicht nur ein historischer Horror materiellen Zwangs, sondern ebenso ein Geisteszustand, den ein »Open Source Self« beständig und konsistent abschütteln muss (Negarestani). Nietzsche erkannte das. Wahre Affirmation ist ebenso nihilierend wie bejahend. Der Haufen macht mit, weil ihm vorgetragen wird, das Anständige zu wollen. Aber wer definiert das Anständige? Die Sklavenhalter des Geistes, die selbst Sklaven der eigenen Geistlosigkeit sind – automatisierte Willenlosigkeit. In der Kontrollgesellschaft muss der Esel zu diesem Zweck nicht einmal gebrochen werden. »Widerstand« arbeitet sich wie die traditionelle Linke, die Querdenker, die Incels und die neue Rechte an für die materielle Logistik der Gegenwart völlig irrelevanten Phantasmen ab. Nick Land hat das vortrefflich herausgearbeitet. Ein Weg, aus diesem ewigen Hamsterrad des Funktionierens endgültig auszubrechen (Zizek) und zugleich Sand ins Getriebe zu streuen, wäre, sich vollends ins Reale (Lacan) zu legen und dort den Ort der Subjektivierung passiv hervorzubringen. Zizek macht dies an Herman Melvilles Bartleby fest. Der Schreiber legt von einem Tag auf den anderen alle Verpflichtungen nieder (»I would prefer not to«), was seinen Chef in einige Gedankenkonflikte bringt. Bartleby steht für resolute Unaffektiertheit, die ein internalisierter Streik ist und in dieser Funktion unsere mächtigste Waffe werden kann. Wir repräsentieren als Einziges das Alles und das Nichts. Für uns ist der Raum virtuell. Zugleich verteufeln wir die Räuber unserer Subjektivität nicht, sondern lernen von ihnen die soziale Technologie des Affektierens, um den Untot der Menschheit an ihr, in uns, aufzuheben. Lernen ist eine Form von Diebstahl, die nicht bestraft werden kann. Jeden Schritt an jedem Tag und jedem Ort lauern wir, um dann das ganze und genährte, einzige Ich einer Aristokratie der Entscheidung gegen die Systeme der Kontrolle werfen zu können. Wie der Vampir vom Blut lebt und sich im Untod der Infektion fortpflanzt, wird sich das Kapital von einem Suchtmittel niemals trennen können: Dem Profit. Wir, als Kreaturen der großen Verweigerung, können auch das.
29. Den Begriff der »Aristokratie der Entscheidung« für eine linke Weltanschauung zu beanspruchen, mag paradox erscheinen. Doch absolute Gleichheit war nie das Ziel linker Politik, auch nicht das des Marxismus. Stattdessen heißt es: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. Nicht jeder wird über das Meer segeln wollen, um eine Perlenkette zu ergattern. Manche mögen es, nach getaner Arbeit von der Veranda aus Dinge wachsen zu sehen und das ist in Ordnung. Linke Gleichheit ist die Freiheit der Wahl zwischen diesen Dingen. Marx und Nietzsche lassen sich ohne Widerspruch kombinieren (Ceika). Angemessen ist gerade daher im Auftrag der Ungleichheit ein nivellierendes Grundeinkommen, das zugleich [+]Grundlage und Anreiz wird. Doch bis es soweit ist, braucht es vor allem die Transformationsgewalt, die nur eine nietzscheanische Aristokratie der Entscheidung kompromisslos gegen alles Gegebene im Selbst und im Sein aufbringen kann – die geistige Herstellung von Ungleichheit im Auftrag des [+]Werdens im Individuum.
Ist dies Autoritarismus? Um wahrhaft anti-autoritär zu werden, muss der Mensch zuerst lernen, ein Diktator im eigenen Verstand zu sein und sich selbst die Kaiserkrone aufzusetzen – wie Napoleon. So lösen wir zwei unlösbare Probleme in einem. Wir verschlingen (1) den großen Anderen (Lacan/Zizek), der nun nur mehr über uns/in uns – für das Einzige existiert und (2) gleichzeitig Distanz zu den externalisierten Affekten und ihrer manipulativen Gratifikation wiederherstellt. Deswegen kann die Nekromantin nicht nur ein weiterer Spuk, sondern eine kybernetische Herrscherin über Gespenster werden. Willen. Unser Verhältnis zur Außenwelt und die Ablehnung alles Faschistoiden verändert sich dadurch nicht. Die innere Autokratie ist in erster Linie ein Krieg gegen parasitäre Ideen, nicht gegen andere Menschen.
Ist dies Disziplin? Disziplin macht abhängig von der disziplinierenden Erfahrung, die als Routine oder Ritual zum externalisierten Affekt wird. Die innere Autokratin wacht über die Konversation und Konversion von internalisierten zu externalisierten Affekten und umgekehrt, macht sie kontinuierlich einem Traum von sich selbst Untertan – verlernt die Sklaverei. Erst wenn das Viele im Einen verschwindet, wird das Schenken als Perspektive in der Außenwelt möglich.
Ist dies Idealismus? Einen Körper ohne Organe (Deleuze/Guattari) zu besitzen, ist eine Pflicht vor der dem Einzigen inhärenten Wunschproduktion (Conatus bei Spinoza), die aber erst gemeinschaftlich und in gesammelter Freude aus uns hervorgebracht werden muss. Dieser Intention steht aber der Anpassungszwang als Überlebensstrategie im Weg, was sich daran zeigt, wie kümmerlich und infantil (Virilio) der Mensch unter der Knechtschaft des Kapitals geworden ist. Raum und Subjekt müssen in der psychedelischen Vernunft einheitlich gedacht werden. Wie die Räuber-Beute-Beziehung in der Natur nur eine sehr begrenzte Form von Komplexität hervorbringen kann (gegenseitige Aufrüstung), so kann der Kampf um das Überleben auf dem Markt im letzten Affekt nur die Monetarisierung von Armut hervorbringen, z. B. Marvelfilme oder Fifa-Spiele. Und wie der Fleischfresser an der Spitze der Nahrungskette in Anbetracht veränderter ökologischer Bedingungen als Erstes aussterben wird, so wird das Bürgertum als Aristokratie der Armut mit den Problemen überfordert sein, die es selbst über sich gebracht hat. Demgegenüber gehört die Aristokratie der Entscheidung dem Raum des Daseins nicht. Der Raum gehört uns. Wir reißen ein als Destruenten. Wir besetzen als Omnivoren. Wir füllen aus als Symbionten (Kropotkin). Wenn unsere Zeit gekommen ist, wachsen wir als adaptive Radiation über alles hinaus, was uns vorangegangen ist. So haben die Säugetiere die Dinosaurier bezwungen. So wird der postkapitalistische Unmensch den bürgerlichen Kapitalisten bezwingen. Auch wenn Nietzsche das Raubtier wie viele andere Denker seiner Zeit falsch idealisiert hat, bringt er doch den Keim unseres Gedankens schon hervor, wenn er zum scharfen Kritiker des Darwinismus und Antisemitismus wird. Rassismus ist externalisierter Affekt. Faschismus ist vollkommene Sklavenmoral – das Ressentiment des kleinen Mannes, der andere, die ihm überlegen sind, unter sich halten will und dazu nur durch uniformierten Opportunismus in der Lage ist. Behauptung ist etwas anderes als Bewahrung. Der Wesenskern einer Aristokratie der Entscheidung ist die Verweigerung vor der Notwendigkeit des Gegebenen und ihre neotenische, morphistische Transformation aus dem Inneren ins Äußerste.
30. Das macht die Aristokratie der Entscheidung aus mehreren Gründen unabdinglich für jede progressive Bewegung unserer Zeit: (1) Die Methode der Masse und die Ästhetik von Solidarität funktionieren nur, wenn ein öffentliches Mandat existiert. Diesen notwendigen Rückhalt in der Bevölkerung hat die Linke in den vergangenen Jahrzehnten systematisch verspielt. Eine Aristokratie der Entscheidung ist demgegenüber weder auf Solidarität noch auf die sich erhebenden Massen der Arbeiterbewegung oder einen spezifischen historischen Zustand der Produktion angewiesen. Sie ist allein der Freude an der Zukunft und dem Schmerz ihrer Hervorbringung im Sein verpflichtet. Eine Aristokratie der Entscheidung kann demnach aus einer absoluten Minderheit heraus irritieren, handeln und empören. Sie kann sofort anfangen, säen und leben, ohne überzeugen zu müssen. Die Überzeugung ist Exempel oder doch zumindest der Dorn im Naturbild der Esel. Eine Brücke. Ihre Beziehung zum externalisierten Affekt ist allenfalls ein Prozess der Internalisierung, der das Angebotene als Energie (als Bein, Flügel, Auge, Vorstellung, Scheiße) zurück in die Welt schenkt. Der internalisierte Affekt kann Bedürfnis sein – wie Essen, Trinken, Behausung etc. notwendig sind – wird jedoch niemals bestimmend werden. Einzige werden immer Dinge haben, die für das Überleben nicht geopfert werden. Als Bartleby oder Seneca verlassen wir lieber eine Welt, die sich am Tod ihrer eigenen Virtualität betrinkt. Torch Nr. X. Wie Zarathustra steigen wir vom Berg in der festen Überzeugung herab, dass sich alles Kämpfen und Ringen um Raum auf ewig wiederholen muss. Wie Stirner vergessen wir dabei nicht, dass wir stets über den Punkt verfügen können, auf dem wir stehen. Wie Spinoza ist uns der eigene, angehäufte Willen (Conatus), der sich im Ruf nach unserem einzigen Rudel, im Tier-Werden (Deleuze/Guattari), potenziert, genug. Deus sive Machina.
31. Mehr als jemals zuvor in der Geschichte bedarf es erneut einer rücksichtslosen Kritik an allem, inklusive einer Kritik an der bisherigen Kritik. Ein Großteil der Marxist:innen heute ist in den fügsamen und selbstgefälligen Trott des utopischen Sozialismus zurückgefallen. Sie sind aller Definition nach bürgerlich und bedienen lediglich noch aus Reflex die ihnen von der Geschichte gegebenen Ressentiments. Die Aristokratie der Entscheidung ist demnach (2) der effektivste Gegenentwurf zur zynischen Moral, da sie nicht auf Appelle an das Mitleid oder die Unterwerfung unter eine andere als grau, trist und extremistisch wahrgenommene Ideologie angewiesen ist. Traditionalismus jeder Form und Farbe ist ihr fremd, ebenso wie die fest abgesteckten Zeltlager der Politik. Sie ist verkörperte Idiosynkrasie. Eine Aristokratie der Entscheidung lacht der heuchlerischen Ernsthaftigkeit identitärer Grenzsteinverschiebungen ins Gesicht und wählt gegen alle gegebene Vernunft das Spiel des Seiltänzers oder Tricksters. Ich unterwerfe mich nicht und wenn die Welt mich dafür umbringt, ist sie um mich, meine Perspektive und meinen Willen, ärmer. Und bin ich bis dahin nicht trotzdem etwas gewesen, was die Welt nicht sehen kann? Wir erkennen keine Grenzen an, die uns fremd sind. Mit diesem Bekenntnis wird im 21. Jahrhundert potenziell jede:r zum Aufstand gegen die Aristokratie der Armut und ein Mosaikstein in der postkapitalistischen Karte der Zukunft (Mason). Die Aristokratie der Entscheidung stößt die Götzenbilder der Sklavenhalter ins Hafenbecken. Sie bestreikt die Schule für das Klima. Sie zerstört die CDU mit einem Faktenvideo, ohne sich zu entschuldigen. Sie zeigt auf die »Bullshitjobs« (Graeber) und den »Marktstalinismus« (Fisher) im „effizientesten aller Systeme“ und fordert das Grundeinkommen.
32. Meine innere Autokratin bleibt Jacobinerin. Man kann Nietzsche vorwerfen, nicht erkannt zu haben, dass eine Aristokratie der Vererbung oder des Reichtums keine Exzellenz garantiert, sondern lediglich traditionsbewusste Blödheit und inzestuöse Blindheit erzeugt. Für diese »Nobilität« gab es ein einziges verdientes, historisches Schicksal: Die Guillotine. Die Welt wird der französische Revolution für die Enthüllung des monarchischen Parasitismus auf ewig zu Dank verpflichtet sein. Doch wie ihre amerikanische Vorgängerin und ihre russische Nachfolgerin ging dieser Aufstand nicht weit genug, weil er keine Lösung für das Problem des »Proprietarismus« (Piketty) fand. Der bürgerliche Materialismus produzierte seine eigene Aristokratie der Armut: geistig ausgetrocknet wie physisch feige, sich an ein langes Leben der beschleunigten Demenz klammernd und ewig dem externalisierten Affekt versklavt. Die »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« (Schelsky) war ökonomisch nie real, doch im Geiste hat sie sich tatsächlich verfestigt. Mittelstandskultur ist Anti-Kultur. War Kultur lange ein Privileg der Oberschichten, bezieht sich der proletarische Adel allein auf den Stolz der Befähigung in der Selbstermächtigung. Die einen schufen Kunst, weil es von ihnen erwartet wurde. Die anderen machten Kunst, um sich selbst zu krönen. Und heute? Das Immergleiche wird zu immer absurderen Preisen verkauft und als externalisierter Affekt standardisiert. In den Worten von Mark Fisher: »No one is bored. Everything is boring.« Bürgerlicher Materialismus ist der Tod der Kunst. Der Esel besitzt nicht einmal den Punkt, auf dem er steht. Der Esel ist der Sklave von Ideen und Kompetenzen, die er (gedankenlos) aufsagt. Vielleicht ist es deswegen notwendig, das Aristokratische als Aufhebung der alten Aristokratie – einer Nobilität im Bild – in der Aristokratie der Entscheidung (3) als neuen revolutionären Bezugspunkt wiederzuentdecken? Nun tatsächlich in ihrem nietzscheanisches Gewand. Eine Vorhut der Aristokratie der Entscheidung könnte nun auch dem Untergang der bürgerlichen Aristokratie der Armut Vorschub leisten, wenn sie (anders als Lenins Parteisklaventum) im stirnerischen Sinne einzig bleibt und konsequent »Anti-Terroranschläge« gegen die nivellierenden Biokontrollsysteme begeht. Die Einzigen brauchen sich das Leben nicht schön zu reden. Es ist die Aufgabe der Gesellschaft, das Leben lebenswert zu gestalten. Sind wir mit dem Gegenteil konfrontiert, wollen wir ein Anderes werden. Die Aristokratie der Entscheidung will die geistige wie die physische Armut vernichten, weil sie den Geist wie den Körper belastet, anekelt und degradiert. Das Elend ist den Einzigen unwürdig und wir wollen so viele Einzige wie möglich um uns sammeln, um das interessante Leben haben zu können. Die Aristokratie der Entscheidung schreckt aber gerade in ihrer Rolle als Vorhut auch nicht vor dem Elend der Armut zurück, um sich als Unabhängiges selbst krönen zu können. Es gibt kein richtiges Leben im Falschen (Adorno/Horkheimer). Nie war die Zeit reif, nie die Ignoranz der Esel weniger schlimm. Wir sagen: Weder Personen- noch Proletenkult. Nietzsche mag den altgriechischen Adel ungerechtfertigt gelobt haben, aber er legte ebenso dem ersten proletarischen Aristokraten Diogenes von Sinope, einem – nach Platon – verrückten Sokrates, die Worte vom Tod Gottes in den Mund. Das asketische Ideal des Kynismus – den ich hier bewusst vom Zynismus abgrenze – ist in unserem Sinne kein Selbstzweck. Der Zyniker weiß, was er tut, aber tut es trotzdem. Der Kyniker weiß, was von ihm verlangt wird und tut es gerade deswegen nicht oder nur in verzerrter wie provozierender Form. Ein lebendiger Verfremdungseffekt (Brecht). Diogenes von Sinope war der erste Punk. »Aber…«, schreien die dekadenten Esel. »Punk ist tot!« Sie wollen das glauben, weil sie für eine Aristokratie der Entscheidung zu schwach wären, in Heuchelei ausgestiegen sind und alle anderen nach ihnen noch schwach halten wollen. [Punk] war nie lediglich eine schrille Haarfarbe oder Musikrichtung und wer das glaubt, ist schon verloren. Form ist Leere. Leere ist Form.
33. Niemand kann von den Einzigen verlangen, sich für die Sache zu opfern. Gleichzeitig wird es aber ständig verlangt. Euer Willen, euer schöpferisches Nichts, ist es allein wert, auch dafür leiden und sterben zu können. Widerstand gegen die Verdrängung dieses Willens kann auf eine Vielzahl von Wegen geleistet werden, von denen ich hier einige anzureißen versucht habe. Nichts davon ist verpflichtend. Nur das Wasser der Leere verpflichtet. Ziran. Conatus. Willen. Differenz. Veränderung. Ton. Wunschproduktion. Gott als Maschine der Natur. Deus sive Machina. Nietzsche sagte, wir können nur das an uns entdecken, was wir immer schon waren, und dass wir Wahnsinn in unserem Herzen tragen müssen, um einen tanzenden Stern zu gebären. Ich will euch nicht besitzen, sondern anhalten, in euch das freizulegen, wofür es zu leiden und zu sterben, also zu leben lohnt. Gleichzeitig müsst ihr nichts. Ihr könnt andere, verdeckte, clevere Wege finden, die denjenigen nicht offenstehen, die im gesellschaftlich fixierten Bild einer historischen Epoche in die privilegierte Position des Außenseiters fallen. Diesen fällt ihr Entweder/Oder (Kierkegaard) leicht, weil es ihnen aufgezwungen wird. Deswegen sind so viele von ihnen (mich einbegriffen) geborene Anarchist:innen. Sie nehmen ihre Rolle in der unsterblichen Hydra des dezentralisierten Aufstands ein, unabhängig davon, ob er in die Befreiung führt oder enthauptet wird – in der Pflicht vor dem Besonderen im Einzigen, das zugleich eine gemeinschaftliche Aufgabe (Fedorov) ist. Amor Fati.
34. Der grundsätzliche Fehler des Tricksters im Mythos besteht darin, sich am Selbst zu übernehmen. Doch alle Veränderung beginnt mit diesem Sprung eines Narren in die Leere: A leap of faith. L’appel du vide. Willen zur Macht. Vielleicht entdecken wir nach dem Akt dann, dass unser Bewusstsein, unsere Interessen gar nicht so unterschiedlich sein können und dass wir im Dienst an unserer gemeinsamen Einzigkeit dem Biokontrollsystem die geraubten Reichtümer der Leere streitig machen dürfen. Das Einzige ist nicht das Atomisierte – das Einzelne. Wir teilen Eigenschaften und das gibt uns Mut, denn wir wissen, dass unser Kampf an anderer Stelle und vielleicht unter besseren Bedingungen ewig wiederkehren wird. An diesen Chor möchte ich mahnen! Erst, wenn ihr die verschütteten Stimmen in euch entdeckt habt, könnt ihr entscheiden, wie viel von euch ihr tatsächlich sein wollt. Dieses Viele im Einen. Multitude. Perspektive. Facette. Für den neuen [+]Menschen beanspruche ich die Sterne. Wie in den besten Abenteuern von Loki und Anansi handelt es sich nicht um eine Aufforderung zur Nachahmung, sondern um eine Herausforderung und Provokation, die beliebig erweitert, verworfen oder ergänzt werden darf. Das wird sowieso geschehen. Ich weiß, dass meine Saat längst im Umlauf ist und ich sie hier nur aufschreiben kann. Amor Fati. Wir sind die Speerspitze, die das Alte sterben lässt. Wir sind der Eisberg, der im Bruch geboren werden will. Wir gehen weiter, als jede totalitäre Uniform des Kapitals es uns erlauben könnte.
35. Wir sind nicht gegeben. Aber wir alle sind zu Teilen gestohlen. Wenn wir in uns und vor uns allein dastehen, singen wir gerade deswegen von den Dingen, die kommen werden. Das macht das Leben selbst zu einem revolutionären Unterfangen. Ungehorsam ist die nobelste aller menschlichen Eigenschaften. Möge die letzte Generation die beste Generation sein. Möge ihre Saat nicht wie im 20. Jahrhundert in den Kriegsmühlen uniformierter Esel verschwendet werden. Eine Zukunft gibt es nur links. Wahre Exzellenz gibt es nur links. Wir Einzigen vor der Zeit machen uns zur Säure dieser neuen Menschheit. Hydra Rhizom Axolotl Schleimpilz Dao Yin Yang Promethea Prometheus Teiresias Kassandra Lauren Alice Loki Anansi Napoleon Diogenes Seneca Aurel Spinoza Natura Machina Humboldt Hegel Stirner Sankt Marx Nietzsche Deleuze Guattari Eintausend Plateaus Dorian Gray Bartleby Crowley Maske des roten Todes Fawkes Dude Earthsea Earthseed Samuel Butler Atreides Asari Geth Gethenian Shepard Reaper Zarathustra Dagon Azathoth Lovecraft Randolph Carter Zizek John Wick Nomade Aang Skelett Illidan Dämonenjägerin Chaosmagierin Nekromantin Trickster Gespenst Pirat Fischmensch Macht Willen Anon Maske Spiegel Spiegelbild Wunsch Wunschproduktion Hauntology Heimsuchung Diebstahl Besessenheit Kopie Simulacrum Freiheit Gefängnis Multitude Perspektive Facette Konfiguration Glitch Virus Strata Archäologie Morphologie Architektur Materialität Virtualität. Alles. Nichts.
(+(+(+(+(+(+(+(+(+(+(+(+(+(-)+)+)+)+)+)+)+)+)+)+)+)+)+)
Ein neues Sehen. Ein neues Lieben. Ein neues Denken. Eine neue Menschheit.
Wir träumen nicht mehr, wir treten ein.
Ich bin Legion
[+]
Weiterführend:
Blumenfeld, Jacob (2018). All Things are nothing to me. The unique Philosophy of Max Stirner.
Butler, Octavia E. (1993). Parable of the sower.
Ceika, Jonas (2021). How to Philosophize with a Hammer and Sickle. Nietzsche and Marx for the 21st-Century Left.
Chomsky, Noam (2013). On Anarchism.
Debord, Guy (1967). La société du spectacle.
Graeber, David (2018). Bullshitjobs. The Rise of pointless work and what we can do about it.
Deleuze, Gilles (1968). Différence et Répétition.
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