Ideologiefuttern am Karfreitag


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Will man die Probleme einer Epoche auf den Punkt bringen, kann man sich auf Don Quijote verlassen: Das Rennen gegen die Windmühlen, auf deren zerrissenen Segel das Versagen der Kulturlinken und der Kapitalkonservativen sichtbar wird. Dreht sich diese globale Welt so viel schneller als noch vor hundert Jahren oder haben wir nur verlernt, den Unterschied zwischen Bewegung und Beschleunigung als solchen zu erkennen? Bewegung ist etwas Sichtbares. Beschleunigung ist etwas Erfahrbares. Vielleicht zieht nur der Film einer verwischten Landschaft an uns vorbei und wir sitzen in einem Abteil fest, das eine Richtung der Beschleunigung vorgibt, aber aufgrund der fehlenden Räder nirgendwo hinführen kann. Trügt uns der Schein gilt es extra Vorsicht walten zu lassen in der Auswahl der richtigen Fragen, die wir an diesen Stillstand stellen, während um uns herum das 21. Jahrhundert an Fahrt gewinnt.
Die Debatte zwischen Slavoj Zizek, dem letzten Hegelianer, und Jordan Peterson, dem kanadischen Jungmystiker, wurde angekündigt als ein Duell der Giganten. Ein Aufeinandertreffen von Memes mit großen Fangemeinden im Äther des Internets. Beide sind Exzentriker ihres jeweiligen Feldes. Beide stellen sich gegen den Zeitgeist der Political Correctness. Am Ende lässt sich sagen: Man wollte den Wind der Zeit auffangen. Doch kam nicht viel Wind zusammen.
Das lag vielleicht auch daran, dass Zizek und Peterson sich gegenseitig sehr respektvoll behandelt haben und auch Lob für die Meinungen des jeweils anderen übrig hatten. Dass Beobachter ohne Skandal wenig mit der Diskussion anzufangen wussten, steht in gewisser Weise auch symptomatisch für die gegenwärtige Aufmerksamkeitsökonomie, die versucht ihre sozialen Spaltungen mit einer Hype- und Shitstorm-Kultur zu überspielen. In dem kurzen Zeitraum, bevor die Amnesie der Aufmerksamkeitsökonomie ihr Werk tun konnte, kam lediglich eine Handvoll journalistischer Artikel und Meldungen zum Gespräch zusammen. Entweder wurde Zizek zum Gewinner deklariert oder man nutzte die Gelegenheit, beide Kontrahenten, die sich in vielen Beobachtungen (weniger in den Lösungen) einig waren, über einen Kamm zu scheren.
Der Grund für die Ruhe nach dem Duell der Giganten liegt auch darin, dass die meisten der Anwesenden das Spektakel suchten und nicht das Denken. Das Publikum macht sich immer wieder lautstark bemerkbar, hatte hörbar Spaß an der Krise. Gleich zu Beginn musste Zizek anmahnen, die Diskussion nicht auf einen billigen Wettkampf zu reduzieren. Es gehe beiden Rednern um mehr als bloßen Schlagabtausch, sondern um ernsthafte Sorgen über den Zustand und die Zukunft der Welt. Eben aus zwei verschiedenen Blickwinkeln. Dementsprechend wurde es ein Dialog, der dem Wellengang des Spektakels erlegen wäre, wenn die Debattierenden sich auf die Ressentiments des Publikums eingelassen hätten.
Was man aus diesem Zusammentreffen lernen konnte, stand nicht im Mittelpunkt, sondern Fanblöcke und digitale Wettzettel. Vielleicht ist auch das symptomatisch für diese Zeit des unverständigen Hinsehens.

Das große Unbehagen

Etwas läuft schief im Ende der Geschichte; so schief, dass selbst Fukuyama sich nun genötigt sieht, ein neues Buch zu veröffentlichen. Die Ausläufer einer Krise lassen sich am Horizont bereits deutlich erkennen. Welche Ereignisse das Fass wann und wo zum Überlaufen bringen werden, ist noch nicht erkennbar. Aber es wäre utopisch zu denken, dass alles so bleiben kann, wie es ist. Ironischer Weise handeln Politik, Kultur und Gesellschaft aller Orientierungen zunehmend aus einem Verständnis heraus, dass nichts Anderes geben kann. Die gesprengte Gesellschaft ist alternativlos. Besser: In den Worten Mark Fishers ist sie einer zuckenden Interpassivität einer konsumbaren Zeitlosigkeit erlegen, die sich nicht mehr um die Zukunft Sorgen kann, die mit neuen Herausforderungen auf uns zugerollt kommt.
Um es mit einem Zizek-Kalauer zu illustrieren: Am Ende des Tunnels ist ein Licht zu sehen, aber das gehört zum nächsten Zug.
Zum einen ist da der Klimawandel, der Millionen von Schülern auf die Straße bringt. Die Jugendlichen sind zurecht wütend darauf, in eine Welt gesetzt zu werden, die von ihren Eltern und Großeltern tatenlos vor die Wand gefahren wurde und wird. Klar, es wurde viel erreicht, aber dass wir bereits dabei sind, viele dieser Dinge zu verlieren, scheint der Mehrheit der vergangenen Generationen (meiner eigenen inklusive) nicht in den Kopf zu wollen. Vor allem die Verantwortlichen, welche die notwendigen Bedingungen für Veränderungen vorbeiführen könnten, bleiben stumm oder noch schlimmer: Sie tätscheln den Protestierenden vor laufenden Kameras die Köpfe, als wären es die neuen Alpakas in einem Zoo.
„Wie süß die doch sind, wie die protestieren!“
„Sollten wir nicht etwas machen?“
„Ja, ein paar Fotos.“
In den Worten von Ulrich Beck: Es herrscht organisierte Unverantwortlichkeit und das kann uns teuer zu stehen kommen. Die systematische Untätigkeit in Klimafragen begleitet aber paradoxer Weise auf der anderen Seite die Forderung nach Hyperaktivität, Selbstbewusstsein und Eigenverantwortung im Selbstoptimierungswahn des Neoliberalismus. Wo so getan wird, als bräuchten alle Produzenten nur freiwillige Verpflichtungen und alle Arbeitnehmer die Zwänge der Austerität, zeigen sich neue Spaltungen der Gesellschaft und alte Grenzen reißen ein. Auch zwischen Zizek und Peterson wird deutlich, dass die alten politischen Lager von Links und Rechts, progressiv und konservativ nicht mehr greifen. 
Auf der einen Seite darbt eine Unter- und Mittelschicht, der immer mehr Flexibilität abverlangt und immer weniger Sicherheit garantiert wird. Druck wird individualisiert für jene, die sich nicht vom Druck freikaufen können, was dann umfangreich in esoterischen Reiseblogs, Posivitätsseminaren, die an Auditingtermine von Scientology erinnern, und viel leerem, sauberem und teurem Raum an die Öffentlichkeit getragen wird. Wer nicht mithält oder sich anpassen kann, darf „selbstverschuldet“ von der ökonomischen Leiter rutschen. Als wäre dieser Wettbewerb das einzige Lebensziel und nicht genau das, was die Innovationskräfte von Wissenschaft und Kultur zurückhält. Das bekommen besonders diejenigen zu spüren, deren Probleme noch nicht gut verstanden sind. Etwa in der Welt der psychischen „Krankheiten“, wie Mark Fisher in Capitalist Realism am Beispiel der Depression wunderbar ausführt. Deswegen verwundert es nicht, dass gerade ein Mädchen mit Autismus nun darauf besteht, dass es nicht ausreicht das Handeln herbeizureden, zu verschieben oder auf neue Innovationen zu hoffen, die nicht kommen können, wenn man im selben Atemzug den Etat von Bildungseinrichtungen beschneidet und im Sinne von Bologna und dem Bedarf des Marktes katalogisiert.
Auf der anderen Seite sammelt sich eine Oberschicht, die wie nie zuvor transnational reisen und leben kann. Für diese globale Kulturelite werden kaum mehr Regeln durchgesetzt, weil sie ihre Residenz frei wählen und abwählen können. Großstadt oder Land. Europa, Asien, Amerika. Steuern, keine Steuern. Doch präsentieren sich diese Menschen in den Medien vielfach als Verfechter sozialer Gleichheit, Toleranz und politischer Korrektheit. Das ist prinzipiell natürlich nichts Verwerfliches, sofern es sich nicht in Verhaltensregeln ablädt, die in erkennbarer Weise nicht für Jedermann gelten können und nur in einer Scheinwelt wirken. Das Problem liegt woanders, auch da stimmen Zizek und Peterson überein.
Diejenigen, die finanziell, mit ihrem Wissen und ihrer Kraft mehr stemmen können, müssen auch bereit sein, mehr zurückzugeben, und sich nicht nur in Gesten über den Zustand einer Welt echauffieren, die sie selbst in erster Linie am Laufen halten. Die Oskars bieten den besorgt Unbesorgten jedes Jahr aufs Neue einen Laufsteg, um ihren Reichtum herunterspielen und Solidarität für Marginalisierte in Kameras lächeln.
Man braucht kein Raketenwissenschaftler zu sein, um den sozialen Sprengstoff dieser sich entwickelnden Situation zu erkennen. Aus der Finanzkrise 2008 sind kaum Konsequenzen gezogen worden. Mieten steigen durch die Spekulation mit Wohnraum. Einzelnen CEOs und vollkommen entpersonalisierten Kapitalströmen wird mehr Macht zu teil als ganzen Staatenverbänden. Instabile und korrupte Regime (etwa Saudi-Arabien) werden von westlichen Demokratien hofiert, weil sie für wichtige (natürlich wirtschaftliche) Interessen stehen. China zeigt der Welt darüber hinaus, dass der Kapitalismus nicht auf Demokratie angewiesen ist. Wo ist hier Europa? Europa ist das Museum der Geschichte und das Modell liberale Demokratie wird unter unseren Augen zum Auslaufmodell, sofern es sich nicht endlich reformiert. Aber solange Notre-Dame wieder steht und die Mülltrennung eingehalten wird, ist alles in Ordnung.
Phänomene wie Trump, Brexit oder die Gelbwesten verweisen auf eine gefährliche Dynamik, die auf die Unzufriedenheit mit den nichteingehaltenen Versprechen des Liberalismus zurückgeführt werden kann. Es ist ein Spiel mit dem Feuer für die Demokratie, ebenso wie für diejenigen, welche eigentlich von der Political Correctness profitieren sollten und von den Neurechten (wieder) zu Sündenböcken gemacht werden.
Verglichen mit diesen beiden Punkten, ist der globale Terrorismus nur ein kleines Problem. Doch dieses Problem macht stets sehr lautstark auf sich aufmerksam und schafft einfache Feindbilder. Auf der politischen Ebene liefern sich hier der Islamismus und der Rechtsterrorismus einen Wettbewerb der Abartigkeiten, der gezielt die Enttäuschten und Zurückgelassenen mit Ideologien für einen Krieg ködert, der überall und nirgendwo geführt wird. Dazu kommt der Anstieg an „personalisiertem“ Terrorismus. So lassen sich etwa Amokläufe und Attentate von Incels beschreiben, die sich keinen Ideologien, sondern Racheakten an Personengruppen verschreiben.
Auf diese drei Probleme oder Problemgruppen (1. Klimawandel, 2. Globale Ungleichheit, 3. Terrorismus) findet der Neoliberalismus keine angemessenen Antworten. Es sind Probleme, die sich aufdrängen und in ihren Effekten auch gegenseitig aufschaukeln. Wenn die Toleranz und Weltoffenheit nur bis zum Geldbeutel reicht, müssen sich die Linksliberalen den Vorwurf der Heuchelei gefallen lassen und nehmen auch billigend Schlimmeres in Kauf. Es gibt vieles an dieser Welt zu retten, aber mit Worten und Wortregeln rettet man sie nicht. Es geht um konkrete materialistische Missstände, die immer sichtbarer werden. Wie Zizek richtig anmerkt: Die offenliegenden Krisen sind Symptome eines Versagens der liberalen und linksliberalen Zentren der Gesellschaft.
Hier sind die Rattenfänger den internationalen Linken leider weit voraus. Die Rechtspopulisten zielen auf die verarmte (vor allem weiße) Unter- und Mittelklasse. Die Islamisten werben unter marginalisierten Einwanderern, die trotz der gepredigten Toleranz dem Alltagsrassismus und dem Lohndumping der Globalisierung und den wirtschaftlichen Nord-Süd-Gefällen ausgeliefert sind.

Windmühlen

Das bringt uns zurück zu der Notwendigkeit für ernsthafte und kritische Diskussionen. Dieser Abend in Toronto hat diese Herausforderung angenommen. Doch eine solche Diskussion muss auch Gehör finden, abseits vom Beifall für einen Boxring. Peterson sieht die Ursache für das Problem, wie viele Konservative, im Verfall der Werte. In seinem Selbsthilfe-Bestseller 12 Rules for life behauptet der kanadische Psychologe, einer oder eine müsse erst sein eigenes Haus in Ordnung bringen, bevor er oder sie die Ungerechtigkeit in der Welt anprangern dürfe. Für Peterson ist der Kapitalismus nicht optimal, aber die bestmögliche Gesellschaftsform.
Zizek kontert sehr richtig mit einer Frage: Was soll diese Person tun, wenn sie beim Aufräumen feststellt, dass die Gesellschaft an seinen persönlichen Problemen mitschuldig ist? Peterson antwortet, aber kann keine Antworten liefern.

Diese Ratlosigkeit ist die Windmühle unserer Zeit.
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@ LeO Tiresias

Politik und Kultur

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