Die Plagen eines untoten Futurismus


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Ein stummer Skandal

Monsanto steht wieder in den Schlagzeilen. Man kann die Praxis der Überwachungslisten mafiös nennen, überraschend ist sie nicht. Die Fassaden sind bei Monsanto etwas schmutziger als bei Bayer, doch wer einen Graben zwischen beiden Unternehmen vermutet, versteht nicht viel von Ökonomie auf der obersten Ebene. Einfluss zu nehmen auf Medien und Politik, war eine analoge Schummelsoftware, die schon immer zum Einsatz kam. Von Bleifarben über den Diesel bis zu Glyphosat. Wenn die Übernahme von Monsanto eines gezeigt hat, dann dass der Haifischtank sich nicht um die Meinung der Fische scherrt. Da kann man schon die Frage stellen: „Muss das sein?“

Dinge funktionieren, weil sie funktionieren können. Eine abgeschmackte Tautologie. Der abgehärtete Zyniker des 21. Jahrhundert zuckt mit den Schultern: „Und? Ist halt so.“ Wir nehmen es hin, blättern zum nächsten Katzenbild, anstatt weiterzulesen. Alternativlosigkeit wird mit Natürlichkeit assoziiert. Gegen Natur kann man nichts ausrichten. „Ist halt so.“ Solche „Selbstverständlichkeiten“ werden oft im trotzigen, manchmal auch im rechthaberischen Ton vortragen (wahlweise mit Verweis auf Stalin oder Venezuela). An anderer Stelle werden sie Gespräch verneint, aber in der Praxis umgesetzt. Natürlich sein ist nichts anderes als eine Form von konservativem Pragmatismus. Frauen sind so. Der Markt ist so und kann nicht verändert werden. Gott ist so, weil seine Wege unergründlich sind. Karl Mannheim hat diese Weltanschauung schon Anfang des 20. Jahrhunderts als Desillusionsrealismus bezeichnet. Der Desillusionsrealist sieht sich als ein Insasse im Gefängnis des Realen und muss den Wachen gehorchen. Er kommt nicht auf die Idee Gitterstäbe anzufassen, die Illusionen sein könnten. Sie sehen so natürlich aus, dass sie wahr sein müssen. Gleichwohl berufen sich auch progressive Bewegungen gerne auf die Unumgänglichkeit natürlicher Wahrheiten, die eine Freiheit von Korruption herbeiführen sollen. Dies ist der Bereich der Utopie, dem Bewusstsein für eine nicht-existierende Welt der vollendeten Möglichkeiten. Der mündige und befreite Geist im Liberalismus. Die klassenlose Gesellschaft im Kommunismus. Der wiederhergestellte, Rousseau’sche Naturzustand im Anarchismus. Der Menschen muss sich demnach nur zurückbesinnen auf das Ziel und um frei zu werden, gewisse Regeln natürlicher Prinzipien befolgen. Der Pfad in die Unmöglichkeit ist stets mit Gitterstäben umzäunt. Interessant an der Beziehung zwischen Mensch und Natur sind drei Dinge. 

(1) So scheint der Mensch stets große Anstrengungen aufzuwenden, etwas Machtvolles (ein Gesellschaftssystem, eine Religion, eine Ideologie, einen Staat) der natürlichen Ewigkeit zuzusprechen, auch wenn die Gemäuer dieser Institution bereits zu bröckeln beginnen, der Putz herunterfällt und das Plastik sichtbar wird. Um die undichte Stelle versammeln sich dann die Versuche der Hörigen, das stets Zerfallende durch ideologische oder sehr reale Mauern abzuschotten. Köpfe rollen für alles, was ewig ist. Das kann eine „Wahrheit“ sein, die reingehalten werden soll, oder ein gesellschaftlicher Zustand, der durch politische Macht „stabil“ werden muss. Will der Mensch diese Falle nicht zuschnappen lassen, muss er die Ewigkeit als Prinzip abschaffen.

(2) Im Unbewussten wird das Prinzip der Ewigkeit bereits als relativ behandelt. So scheint sich die Grenze zwischen Natur als Sanktum und Kultur als Gestaltungsbereich zwischen Epochen, Gemeinschaften und Personen stetig zu verschieben. Für manche ist Gott ein Garant natürlicher Ordnung, für andere ist er ein Kulturprodukt, eine zu gestaltende Leinwand. Für manche ist es verwerflich Genmanipulation an Nutzpflanzen zu betreiben, weil Natur heilig ist, für andere geschieht dies bereits seit 10000 Jahren in Folge von Domestikation und Züchtungsprozessen. Die ersten Äpfel waren saure, harte und kleine Früchte. Wenn ein Apfelbaum – egal ob, er in einem Biogarten oder in einem konventionellen Obsthain steht – nicht natürlich ist, was ist er dann? Kultürlich? Dasselbe gilt für immaterielle Artefakte in Glaubenssystemen. Ein Glauben, der in der Welt als Altar, Tempel, Kirche oder Steuerbehörde Fuß fasst, ist nicht natürlich? Ideen haben einen physischen Körper, der sich nicht berühren lässt.

(3) Zuletzt scheint Natur in solchen Konversationen immer mit „Wahrheit“ und „Unschuld“ in Verbindung gebracht zu werden. Eine natürliche Existenz ist eine unschuldige Existenz. Kinder sind unschuldig, weil sie sich noch in einem Stadium angeborenen Unwissens befinden. Sie sind direkter, natürlicher, weil sie nicht am (unnatürlichen) Erwachsenenleben teilhaben. Die Anarchisten der Vergangenheit ebenso wie die Liberalen, begaben sich unter diesen schützenden Mutterrock, oftmals von der Warte sehr privilegierter Europäer aus. Naturvölker stehen dem Wald/der Wüste „näher“ als der übergewichtige Europäer mit Zigarillo im Mundwinkel, deswegen müssen sie der Natur und damit der (zivilisatorischen) Unschuld nahestehen. Sie wissen es nicht besser (und das ist gut für sie). Natürliche Unschuld kann stets in Ignoranz umgemünzt werden. Da kommen dann Worte wie „primitiv“ und „kindisch“ ins Spiel. Abkürzungen für Unmündigkeit. Die Grenze zwischen der unschuldigen und unmündigen Ebene wird für den jeweiligen historischen Moment wiederum recht willkürlich festgelegt. Unmündigkeit kann opportun oder bequem sein. Unschuld kann ersehnt und repräsentativ konsumiert werden. Die wohl gegenwärtig am Weitesten verbreitete Weltanschauung mag der (vermeintlich) ideologielose Blick auf die Welt sein. Aus dem Horror des 20. Jahrhunderts gebar sich wieder das Natürliche, das Aquarius herbeisingen und dabei Coca-Cola-Flaschen in die Kamera halten konnte.

#Skandal. Nach diesem Ausflug erscheint die Kritik ebenso wie der Kauf von Monsanto in einem neuen Licht. Defacto muss Monsanto das Schmuddelkind der chemischen Industrie sein(, weil es Schlagzeilen macht). Monsanto ist bösartig(,weil es Bauern erpresst). Unnatürlich(, weil es in den Genen von Nutzpflanzen herumpfuscht). Kurzum: Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit(, weil es Kritikerlisten führt). Und Monsanto spielt diese Rolle gut. Denkt jemand an die Kinder? Der Verein war ohne Frage schon immer korrupt und dies soll nicht wie die Verteidigung der Machenschaften eines solchen Konzerns wirken. Doch dass es nun eine Übernahme, eine Glyphosat-Klage und eine Liste überwachter Europäer braucht, um endlich in den Medien wahrnehmbare Empörung hervorzurufen, ist das eigentliche Armutszeugnis der Debatte und zeigt, dass wir bisher noch nicht viel über Natur gelernt haben. Monsanto ist gewachsen und aus Prozessen hervorgegangen, die im Neoliberalismus vorgeblich unantastbar sind. Die Selbstregulation des Marktes hat sichtbar versagt, denn es waren staatliche Gerichte, die Gerechtigkeit einklagen mussten. Man darf schockiert sein über mafiöse Listen und suhlt sich dann in der eigenen Unschuld. Wir haben von nichts gewusst. Vielleicht wollten wir nichts wissen und das ist unsere Schuld? Unschuld macht schuldig. Die Existenz von PR-Agenturen, die man für Überwachungslisten beauftragen kann, legt nahe, dass ein solches Verhalten gängige Geschäftspraxis ist, auch wenn sie dementiert wird. Die Überwachung wird sicherlich niemand öffentlich zugeben, aber es steht zwischen den Zeilen und sollte uns hellhöriger machen, als den Namen Monsanto wieder in der Schlagzeile zu lesen und nur mit dem Kopf zu schütteln. Monsanto ist kein Dämon, der im Namen des Bösen auf Erden Verbrechen begeht. Wir müssen ihn nicht bezwingen, wir müssen seine Entstehung so gut es eben geht verhindern. Dass Bayer Monsanto gekauft hat, hatte System. Dass Monsanto sich wie Monsanto verhält, hat System. Es funktioniert, weil es unter den gegebenen Bedingungen funktionieren kann. Das ist Natur. Alles, was existiert ist natürlich. Macht das die Natur unantastbar?

Eigentlich nicht. Doch scheint der Mensch grundlegend der Auffassung zu sein, dass ihn irgendetwas daran hindert, über Toiletten und Nutzpflanzen hinaus in die Natur einzugreifen. Woran liegt das? Warum dürfen wir nicht? Es scheint, als wären wir tief im Inneren immer noch der Auffassung, dass uns diese Welt als Spezies nicht gehören kann bzw. ausgeliefert ist – obwohl wir uns wie Könige in ihr fühlen, glauben wir die Befehle von außerhalb zu bekommen. Was wir sein können, scheint festgesetzt. Unser Denken über den Kosmos ist immer noch transzendental – und das nicht trotz der Tatsache, dass wir Gott heute hauptsächlich als Kulturartefakt betrachten, sondern vielleicht gerade, weil wir in Gott nichts Natürliches mehr erkennen können. Real mag es keinen Gott geben, keine Beweise sprechen dafür, aber spekulativ ist es möglich (und damit natürlich) ihn irgendwo zu verorten. Im linken politischen Spektrum ebenso wir unter Liberalen und Rechten besetzen unterschiedliche Standpunkte Kategorien, Rechtfertigungen und Feindbilder mit Bildern, aus denen sich dann eine Identität formt. Doch nach allem, was wir bisher über die Welt erfahren haben, stellte sich jede Identität früher oder später als eine Sackgasse heraus. Nie allumfassend, nie gut genug. Deswegen fixierten wir das Jenseitige (Das Gute, die Geschichte, die Formen, Gott), um darüber bestimmen, was gut und was richtig ist. Transzendenz ist imaginäre Identität, die Identitäten möglich macht – aber fiktionale wie auferlegte Identitäten schränken zugleich ein, vernichten Potenziale, weil sie sich dem Zwang der Rechtfertigung ausgesetzt sehen. Sie sind ein bröckelnder Staudamm, der dem Fluss letztendlich weichen wird. Können wir fließen?
"Philosophy has an affinity with despotism, due to its predilection for Platonic-fascist top-down solutions that always screw up viciously. Schizoanalysis works differently. It avoids Ideas, and sticks to diagrams: networking software for accessing bodies without organs." (Land 2012, S. 442)
Enter Schizoanalysis. Deleuze und Guattari versuchten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Transzendenz (als trennende Instanz zwischen Natur und Kultur) in der Immanenz aufzulösen. Aufbauend auf Spinozas Substanz, Bergsons Konzept der Dauer und Nietzsches affirmativem Umgang mit der ewigen Wiederkehr, erschufen sie eine Ontologie, die Differenz den Identitäten vorzog. Möglichkeiten, das Bewegliche und Werdende, sollten Teil von Weltanschauung werden. Differenz wird zu der sich stetig neu faltende Substanz, die über den zeitlichen Moment hinausgehend aus dem Baustoff der Vergangenheit neue Gestalten formt. Der Charakter der Weltsubstanz, ihre Identität, spielt bei Deleuze und Guattari keine Rolle, nur die Interaktion zwischen der Substanz in Kartenhäusern der Immanenz – nicht beliebig, dennoch offen und keinem Masterplan transzendentaler Einschränkungen unterworfen. Das Virtuelle existiert für Deleuze und Guattari materiell mit jeder Gegenwart, die stets im Begriff ist, etwas Neues zu werden. Deleuze ist weder Relativist noch Idealist. Es ist vorgeschrieben, was in diesem Moment wird, aber (und das ist wichtig) es ist nicht vorgeschrieben, was werden kann. Niemand kontrolliert, wo die neuen Karten angesetzt werden. Das entscheidet der Prozess und allein der Prozess.
„This is not a static picture of substance standing behind a set of attributes that it has brought into existence. That would be a picture of attributes as created by or emanating from substance. That is the picture most of us would likely have in mind, since it is the one that has dominated the philosophical and religious tradition. For Deleuze, there are two differences between this picture of the relation of substance and attributes and Spinoza’s. First, substance is woven into the attributes that express it. They are not separate from it. Being is univocal. Second, substance is not like a thing that gives birth to other things. It is more like a process of expression.” (May 2005, S. 37)
Die Triebkraft aller Dinge ist für Deleuze Veränderung, nicht Harmonie. Harmonie ist ein statisches Prinzip, ein Prinzip für in ihrer Form gefangene Identitäten. Veränderung ist ewiges, sich verästelndes Wachstum. Metaphysisches Origami. Leben ist Dienst an einer Wunschmaschine, die sich auf der Flucht vor der toten Materie, die ihr vorausging, stets neu ausdrücken wird. Kapitalismus ist die Gesellschaftsform, die sich bisher am besten in diese immanente Logik der Faltung fügte. Kapitalismus braucht nicht eindeutig zu sein, profitiert offen von Widersprüchen. Dass kein besseres System ihn bisher abgelöst hat, liegt auch daran, dass bisher kein anderes System in der Lage war, dieselben Dynamiken zu entfesseln und zu halten. Alle bisherigen Versuche dem Kapital Herr zu werden gingen von dogmatischen Institutionen aus – theologische, faschistische und kommunistische Kirchen.

Kapital ist mehr als Dogma und Kapitalismus ist Widerspruch und Dogma. Kapitalismus gewährt der Saat der Zerstörung einen Ehrenplatz im eigenen System und fällt damit trotz aller Widersprüchlichkeit stets in die Verjüngung zurück. Kapitalismus deterritorialisiert und reterritorialisiert zwanghafte Ordnungen, verdaut sie zu Waren und Märkten wie Würmer und Maulwürfe einen Boden zugleich zersetzen und aufbereiten. Ideologien werden vom Kapital nicht K.O. geschlagen, wie manch ein Liberaler behauptet, sondern versklavt. Deswegen gibt es im selben globalen System heute Che-Guevara-T-Shirts auf Amazon, Teleprediger im US-Fernsehen und Lonsdale für den modebewussten Neonazi zu kaufen. Diese Prozesshaftigkeit des kapitalistischen Systems führt aber auch dazu, dass die Schöpfungsenergie, die dem Kapital zu Grunde liegt im Kapitalismus nicht vollständig befreit werden kann. Die Zwänge im Kapitalismus richten sich sowohl gegen die Agenten der Unfreiheit als auch gegen Agenten, die zu viel Freiheit einfordern. Deleuze meint: „We have seen nothing yet…“ –, aber vertrauen wir in den Kapitalismus als Quelle der Zukunft, wird das auch so bleiben. Mark Fisher hat in Capitalist Realism sehr gut beschrieben, wie die befreienden Impulse der Postmoderne in die Stagnation der Alternativlosigkeit und damit in die ewigen Wiederholungsschleifen von Parodie und Nostalgie mündeten. Eine nachhaltige Welt ist ohne Sozialreformen und eine ontologische Reflektion über Natur als Kapital nicht möglich.
"Machinic desire is the operation of the virtual; implementing itself in the actual, revirtualizing itself, and producing reality in a circuit. It is efficient and not aspirational, although this is an efficiency irreducible to progressive causality because immanent to effective time. Machinic desire is operative wherever there is the implementation of an abstract machine in actuality, and not merely the mechanical succession of actual states." (Land 2012, S. 327)
Enter Acceleration. Es waren Denker wie Nick Land, die die Entfremdung von Kultur und Kapital auf eine extreme Spitze trieben. Wo Deleuze und Guattari sich noch einem (vielleicht naiven) Humanismus verpflichtet fühlten, treibt Nick Land die latenten Tendenzen dieser Vision in einen zutiefst inhumanen Technokosmos. Für Land sind alle Versuche, Wachstum unterdrücken zu wollen nicht nur nicht wünschenswert, sondern auch letztendlich vergeblich. Lands Kapital ist immanent gewordene Intelligenz. Für ihn bedeutet das, dass Beschleunigung der deterritorialisierenden Auflösung zum Selbstzweck wird und die Befreiung des Menschen hinderlich oder gar vergeblich ist. Nick Land ist gegenwärtig in vielerlei Hinsicht ein problematischer Denker, aber sein Frühwerk ist dort noch relevant, wo es die latent unkomfortablen Tendenzen in Deleuzes Werk auf Äußerste radikalisiert. Mag die Vorstellung einer künstlichen Intelligenz, die von der Menschheit Besitz ergriffen hat auch lächerlich sein, so schafft es Land doch wie kaum ein anderer Deleuze-Anhänger (inklusive Deleuze und Guattari selbst) dem kosmischen Horror, der dem Gedanken eines absolut immanentem Universums der Differenzen innewohnen mag, eine Stimme zu geben. Mit einer solchen Weltanschauung leben zu lernen, wird nicht so einfach sein, wie Deleuze und Guattari sich das noch vorstellten. Land fasst die Inhumanität des ewigen Schöpfungsprozesses in die stilistischen Worte der Science-Fiction. Was auch immer dort im Abgrund erschafft, ob von innerhalb oder von außerhalb, ist nicht notwendiger Weise unser Freund. Wir sind vielleicht Werkzeug. Vielleicht gibt es auch gar keine Werkzeuge, sondern nur Beschleunigung. Land setzt sich damit auf bedeutsame Weise ab von der kreativen Naivität, die viele Post- und Transhumanisten umtreibt. Fanged Noumena ist Cyberfuturismus wie Also sprach Zarathustra ein Futurismus für eine gottlos gewordene Welt werden sollte. Ohnehin teilen Nietzsche und Land viele Eigenschaften – Das Talent für eine unkonventionelle Prosa gepaart mit einer durchlässigen Membran zum Wahnsinn inklusive.

Lands Technomaterialismus hat allerdings zwei entscheidende Fehler. Zum einen wirft er Denkern wie Kant und Heidegger zwar vor, die Kontrolle über einen unkontrollierbaren Kosmos mit dem transzendentalen Maulkorb wiederherstellen zu wollen, versucht seiner eigenen Vision aber mit dem Endziel einer technologischen Singularität zu zähmen und so in ein Narrativ zu zwängen. In seinem neoreaktionären Spätwerk tritt diese Selbststrangulierung schließlich in den Vordergrund. Land verwirft dann jede Hingabe zur Differenz und radikalen Progressivität, die sein Frühwerk kennzeichnete, um in den Komfort einer Angst vor dem Fremden, den (rechten) Dogmatismus, zurückzukehren. Das, was er einst als Singularität ansah, verwusch endgültig zu einer Art transzendentalen Gottheit der Intelligenz. Zum anderen nutzt Land die Begriffe Kapital und Kapitalismus manchmal auf unterschiedliche, manchmal auf synonyme Weise. Kapital und Kapitalismus hängen zusammen, sind aber nicht dasselbe. Ich möchte Kapital hier als den grundlegenden, entpersonalisierten Agenten der Deterritorialisierung definieren (wie Land es auch mehrfach tut). Das Land‘sche Kapital hat schon vor dem Kapitalismus existiert und vergehende biologische wie kulturelle Ordnungen deterritorialisiert. Man kann die Metapher der künstlichen Intelligenz auch so lesen: Als intensivierte Auflösung der Grenzen, die die Körperlichkeit der Evolution dem freien Fluss der Informationen auferlegt hat. Kultur ist damit die Geburt des Imaginativen und eine Steigerung der Komplexität von Prozessen, die durch Kapital in Gang gesetzt werden. Doch gleichsam leugnet Kultur diese Freiheit, die ihr von der Natur mitgegeben wurde, durch Dogma. Zweitens ist Kapitalismus, wie bereits angedeutet worden ist, nicht Kapital in Reinform. Hier empfiehlt sich eine Rückkehr von Land zu Deleuze und Guattari. Deterritorialisierung kann nur ein Nebeneffekt der kapitalistischen Wirtschaftsform sein, weil die deterritorialisierten Güter (Rohstoffe, Land, Traditionen, Kulturen) stets reterritorialisiert werden (Waren, Fabriken, Geldanlagen, Bourgeois/Proletariat, Marken, Dienstleistungen).
„If Land’s cyber-futurism can seem out of date, it is only in the same sense that jungle and techno are out of date – not because they have been superseded by new futurisms, but because the future as such has succumbed to retrospection. The actual near future wasn’t about Capital stripping off its latex mask and revealing the machinic death’s head beneath; it was just the opposite: New Sincerity, Apple Computers advertised by kitschy-cutesy pop. This failure to foresee the extent to which pastiche, recapitulation and a hyper-oedipalised neurotic individualism would become the dominant cultural tendencies is not a contingent error; it points to a fundamental misjudgement about the dynamics of capitalism. But this does not legitimate a return to the quill pens and powdered wigs of the eighteenth century bourgeois revolution, or to the endlessly restaged logics of failure of May ‘68, neither of which have any purchase on the political and libidinal terrain in which we are currently embedded.” (Fisher 2010, Hier
Wie jedes andere Regime schränkt Kapitalismus das immanente Potenzial von Kapital ein, um sich zwanghaft zu erhalten und zu reproduzieren. Unter Regime verstehe ich wie auch bei Kapital entpersonalisierte Komplexe aus blinden Prozessen, die jedoch ein operatives Muster vereint. Wo Kapital überall dort, wo es möglich ist, Potenziale befreit und intensiviert, sanktionieren Regime genau diese Prozesse, indem sie bestimmte Formen der Entwicklung unterdrücken. Das geschieht willkürlich. Kapital ist Deterritorialisierung und Schöpfungskraft. Regime sind Reterritorialisierung und Kontrolle durch Vernichtung. Diese Begriffe erfüllen eine ähnliche Funktion wie Lands positive und negative Feedback-Schaltkreise („Feedback Circuits“), doch ist Kapital bei Land nicht die zentrale Ressource, sondern ein unterdrücktes und unabhängiges metaphysisches Organ. Der positive Schaltkreis gewährt Kapital mehr Freiheit und Geschwindigkeit. Negatives Feedback hält ein System an Ort und Stelle oder baut Freiheit und Beschleunigung für das Kapital ab. Wenn es nach Land ginge, müssten die Barrieren des ödipalen Regimes nur aus dem Weg geräumt werden, damit Kapital seine teleologische Funktion als übermenschliche Intelligenz übernehmen kann. Dies ist der Grundgedanke aller Strömungen des Akzelerationismus. Doch er führt in eine Sackgasse: Woher können wir wissen, dass Kapital, sobald es befreit ist, auch weiß, was zu tun ist? Das ist letztendlich dasselbe wie davon auszugehen, dass Gott einen nicht einsehbaren Plan für die Welt vorbereitet hat. Schaltkreise dienen bei Land der Befreiung oder Gefangennahme einer immanenten Gottheit mit transzendenten Eigenschaften und werden wie die Beziehung zwischen Kirche und Gott zu einem Widerspruch an sich. Dieser Gedanke fällt weit hinter die immanente, materialistische Konstruktion des Universums bei Deleuze und Guattari zurück. Die Prozesse der Deterritorialisierung, Territorialisierung und Reterritorialisierung lassen sich nicht so einfach voneinander trennen, weil sie Modi derselben immanenten Substanz sind, die sich selbst nicht als Gesamtheit einsehen kann. In Lands Vision können positive Feedback-Schaltkreise nicht durchbrennen, zurückgeworfen werden oder zum Stillstand kommen. Das macht sie transzendental, nicht immanent. Stattdessen möchte ich verschlagen, dass Kapital und Regime sich in einem ewigen Ringen um eine ziellose Vorherrschaft befinden. Jede Seite kann dabei der anderen auch einen vorzeitigen Todesstoß versetzen oder sie zumindest in einen Zustand der Katatonie zwinge, aus dem sie sich nur durch ein Katastrophen-Ereignis auf einer anderen Ebene wieder mühsam befreien kann. Für den Menschen ist reine Affirmation jedes Prinzips in Reinform ein Nullsummenspiel. Reines Kapital ist Chaos: ein endloser Schaffensprozess, der an nichts Erschaffenem festzuhalten vermag und keine Erinnerung oder Wertung zulässt. Tetsuo, der die Kontrolle über Akira verliert und damit auch die eigene Form in ein wucherndes Geschwür aufgehen lässt. Ein Sturm der Formen ohne Formen. Ein ständiges Neu-Zerreißen. Reines Regime demgegenüber ist Untod, d. h. ein fehlerloser Reproduktionskreislauf von identischen Kopien. Die perfekte Wiederholungsschleife und der Tod zwar nicht des Organismus der untot wird, dafür aber der Stillstand von Geschichte, Entwicklung und Evolution. Statt neu geboren zu werden, erwacht derselbe Körper aus dem ihm bereiteten Grab wie aus einem erholsamen Schlaf. Die ewige Identität. Das „saubere“, sprich nicht korrumpierbare Paradies. Traum und Horizont jedes Faschisten. Land scheint zu Beginn seiner Karriere, diese Beobachtung noch selbst gemacht oder zumindest angedeutet zu haben:
“It is only by understanding the inhibitive function of patriarchies in relation to exogamic dissipation (an inhibition that is supremely logical in that it conserves identity, and which is for this reason violently xenophobic) that we can make sense of capital production and its tendency towards the peculiar cultural mutation that was baptised by Mussolini as ' fascism'. This is because the restriction of cultural synthesis, based upon a strenuous endogamy at the level of the national community, is the ultimate outcome of the concerted 'liberalization' of kinship organizations within (metropolitan) industrial societies." (Land 2012, S. 60/61)
In der prähumanen Evolution bestanden Regime aus den Umweltzwängen: Jäger-Beute-Verhältnisse, Krankheiten, Umweltfaktoren und Konkurrenzdruck. In der Kultur treten neue Regime hinzu, manche sinnvoll und andere nicht: Wahrheit, Gerechtigkeit, Macht, Sinn und im Kapitalismus primär: Wirtschaftlichkeit. Wie restriktiv Kapital und Kapitalismus interagieren, ist abhängig von der willkürlichen Entscheidung über eine Trennlinie zwischen Deterritorialisierung als Ressourcengewinnung (an Zeichen wie an Rohstoffen) und decodierender Schizophrenie als Störfaktor. Die Orthodoxie der Wirtschaftlichkeit („das lässt sich mit Gewinn verkaufen“) steht dabei stets im Konflikt mit dem Unorthodoxen („Das ist unrentabel!“, „Das mindert das Wachstum!“, „Dies und das macht jenes obsolet!“, „Willst du nicht lieber, Klempner werden?“). Wie ein Lebewesen im kambrischen Meer unter dem Druck stand, Panzer und Flucht zu entwickeln, um genetische Informationen dauerhaft entfalten zu können, steht der Mensch im Kapitalismus unter dem Druck, an Erwerbsarbeit teilzunehmen und Innovationen in das vorgefertigte Muster der Ware einzupassen. Was marktwirtschaftlich angenommen wird, wird hergestellt und nicht notwendiger Weise das, was sozial und ökologisch notwendig oder wünschenswert wäre. Deswegen tut sich Kapitalismus so schwer damit, politische, soziale und ökologische Krisen zu lösen, ohne zu kollabieren: Alle Innovationen finden auf recyceltem Papier statt, dessen Funktionalität normiert und vorbestimmt ist. Märkte sind wie Ökosysteme Regime, konstant auf der Flucht vor dem eigenen Zusammenbruch, der oftmals auch im Neoliberalismus nur durch ein anderes Regime, das des Staates, verhindert wird. Es ist also ein Mythos, dass sich Märkte selbst erhalten können ebenso wie es ein Mythos ist, dass sie Kapital dauerhaft zu bändigen wissen. Die Formulierung der willkürlichen Grenzen, die das Regime dem Kapital aufzwingt, ist an nüchterne Machtpositionen und damit an subjektive Entscheidungen, die Verhältnisse und Zufälle gekoppelt. Die Aufgabe des progressiven Kritikers ist also abgesteckt: Finde einen besseren Weg, die kreativen Energien des Kapitals zu nutzen, ohne überwältigt zu werden und ohne in den Regime-Untod des Dogmatismus zu verfallen.
“While Land’s cybergothic remix of Deleuze and Guattari is in so many respects superior to the original, his deviation from their understanding of capitalism is fatal. Land collapses capitalism into what Deleuze and Guattari call schizophrenia, thus losing their most crucial insight into the way that capitalism operates via simultaneous processes of deterritorialization and compensatory reterritorialization. Capital’s human face is not something that it can eventually set aside, an optional component or sheath-cocoon with which it can ultimately dispense. The abstract processes of decoding that capitalism sets off must be contained by improvised archaisms, lest capitalism cease being capitalism. Similarly, markets may or may not be the self-organising meshworks described by Fernand Braudel and Manuel DeLanda, but what is certain is that capitalism, dominated by quasi-monopolies such as Microsoft and Wal-Mart, is an anti-market. Bill Gates promises business at the speed of thought, but what capitalism delivers is thought at the speed of business. A simulation of innovation and newness that cloaks inertia and stasis.(Fisher 2010, Hier)
Dass Regime nicht, unumgänglich sind, zeigt sich bereits in der Erdgeschichte. Allein schon durch die begrenzten Einblicke, die uns Fossilien gewähren, lässt sich eine Vielzahl von Alternativen zu heutigen Formen erkennen – auch, wenn die Evolution durch Reproduktion und Selektion stets dieselben Hürden setzte. Der Mensch hat die äußeren Zwänge seines Ökosystems dann vollständig überwunden und gestaltet sie seit der neolithischen Revolution sogar aktiv um. Wenn biologische Ökosysteme von innen heraus überworfen werden können, sollte dies mit kulturellen Ökosystemen, Ökonomien, erst recht möglich sein. Kapital hat eben auch eine andere Seite, die von Kapitalismus als Regime nicht vollständig unterdrückt wird. Niemand bei Sinnen würde heute das Feudalsystem der liberalen Demokratie vorziehen. Hier zeigt sich die befreiende Instanz, die Kapital im Kapitalismus einnehmen kann. Die Überwindung der mittelalterlichen Stasis aus Hungersnöten und regionalen Kriegen ist ein erfolgreicher Prozess der Deterritorialisierung, der mit neureichen Kaufmännern und Handelsgesellschaften, der Aufklärung, der Kolonialwirtschaft, dem Bankenwesen sowie den französischen und amerikanischen Revolutionen in die Konzeption der bürgerlichen Gesellschaft führte, die bis heute existiert. Weder Kapital noch Regime sind dabei aber weder zielorientiert noch in letzter Instanz moralisch. Es sind Kräfte, deren Interaktion vielleicht am ehesten mit dem Konzept von Yin und Yang aus dem Taoismus zu vergleichen ist. Regime ist der gleißend weiße Yang-Blitz, der sich durch das schwarze Substrat vom Yin-Kapital frisst und dessen Bewegung letztendlich durch Yin wieder erstickt wird.  Kapital ist schlicht das Substrat für Bewusstsein und erzeugt in den Auflösungsprozessen der Deterritorialisierung eine Ursuppe, aus der neue Formen krabbeln können. Regime sind diese Formen und Organisationen dieser Formen. Es wäre daher nicht nur unter moralischen Gesichtspunkten, sondern auch mit Blick auf die Zielsetzung einer Befreiung von Kapital absurd, so wie der späte reaktionäre Land, davon auszugehen, dass eine marktwirtschaftliche Diktatur wie der Kameralismus oder das chinesische Staatssystem auf Dauer Innovationen und weiterführende Deterritorialisierung hervorbringen könnten. Ein solches System der Zwänge wird aus seiner immanenten Logik allein schon stets nur das Gleich reproduzieren wollen, was wie jedes Dogma das Innovationspotenzial hemmen wird. Es ist ein untoter Markt für Warenfetischisten, regiert von verkalkter Selbstverliebtheit. Die Weimarer Republik führte u. a. deswegen in die Katastrophe des Nationalsozialismus, weil die reaktionären Kräfte mit ihrem sadomasochistischen Verhältnis zu Militär und Tradition nicht dazu gebracht werden konnten, das unflexible preußische Untertanendenken des Kaiserreichs abzulegen. Hitler war kein Sohn, aber ein Erbe Bismarcks.

Dementsprechend kann Lands Inhumanismus nur als ein diagnostischer Horizont funktionieren, so wie Nietzsche den Horizont des Denkens für das 20. Jahrhundert setzte. Im Vordergrund müssen wir unabhängig von seinem schlechten politischen Vorbild einen neuen Humanismus konstruieren, der sich nicht auf eine Transzendenz zu beziehen braucht und gleichzeitig die Weltlogik der Immanenz in ihren hellen wie in ihren dunklen Aspekten zu nutzen weiß. Dieser Humanismus muss anti-naturalistisch und technomaterialistisch ausgerichtet sein, um die Möglichkeiten für Veränderung aushorchen, bewahren und letztendlich schaffen zu können. Dieser Humanismus darf auch Respekt und Empathie für seine Subjekte nicht aus den Augen verlieren – gerade, weil die immanente Substanz, aus der wir zusammengesetzt sind, uns weder Respekt noch Empathie garantieren wird. Die wahre Freiheit des Menschen lässt sich nur in der Reflektion seiner natürlichen Unfreiheiten realisieren. Ansonsten wartet der nächste Monsanto-Konzern bereits am Horizont.

Ein inhumaner Humanismus

Sie werden uns noch Öko-Lattes verkaufen, wenn ganze Küstengebiete unter Wasser stehen. Die internationale Linke kann von Deleuze und Land aber lernen, dass sich Kapitalismus in natürlichen Mechanismen vollzieht und sich so deutlich gewinnbringender konzeptualisieren (und konfrontieren) lässt als mit jeder Form von falschem Bewusstsein. Das Ankreiden eines falschen Bewusstseins ist nicht nur nicht hilfreich, sondern längst eine dem Kapitalismus einverleibte Marke, die etwa „aufgeklärte“ Hipster von „steifen“ Spießern zu trennen weiß, um beiden in anderer Gestalt dieselben Gartenzwerge zu verkaufen. Eines meiner einprägsamsten Erlebnisse in dieser Hinsicht war ein Gespräch mit einer ehemaligen Klassenkameradin, der ich erzählt hatte, dass ich mit der populären Mehrheitskultur derzeit wenig anzufangen weiß. Als ich ihr dann meine Lieblingsfilme auflistete, sagte sie in etwa: „Das sind aber wenige von den typischen Außenseiterfilmen dabei …“
Im späten Kapitalismus eines zunehmend fragmentierten Marktes wird auch gegenkulturelle Opposition zu einer Ware, die typisch an bestimmte Gruppenidentitäten verkauft werden kann (Goths, Emos, Punks, Nerds etc.). Das Spiel zu durchschauen, wird Teil des Spiels. Das ist einer der Bereiche, wo die postmoderne der traditionellen marxistischen Kritik deutlich überlegen ist. Falsches Bewusstsein schafft dann keine bewusste Grundlage für die Mechanismen von Ideologie, die für sich, ebenso wie der Markt selbst, aus einem Zusammenspiel von Kapital und Regime entstehen. Natur, die sich im Menschen wie in allen Organismen internalisiert, hat sich schon immer selbst zerstört. Wirtschafts- und Klimakrisen unterscheiden sich funktional nicht von eutrophierenden Gewässern, die umzukippen drohen. Das Natürliche war nie unschuldig, sondern stets auto-aggressiv und kannibalistisch. Deswegen ist es auch gefährlich, einer naiven Auffassung von Ökologie nachzuhängen wie sie in Teilen der (trotzdem zu unterstützenden) Umweltbewegung zu finden ist. Effektiver Umweltschutz heißt nicht, Natur vor dem Menschen (oder Konzernen wie Monsanto) zu schützen. Effektiver Umweltschutz schützt Natur vor sich selbst. Hierbei ist es wichtig, sich nicht auf Trugbilder oder faule Kompromisse einzulassen. Freiwillige Verpflichtungen (Ein „Siegel“ zum Tierwohl) oder eine Besteuerung von Konsum (Die CO2-Steuer) nützen nichts, weil Marktmechanismen nicht innerhalb eines Verantwortungsbewusstseins operieren werden. Anders formuliert: Es wird weiter gekauft werden. Solche Regelungen verschärfen nur an einer anderen Baustelle den Klassenkonflikt, was etwa die Gelbwesten hervorgebracht hat. Es ist keine Rationalität, die in diesem System am Werk ist. Echte Ansätze müssen in die Produktion eingreifen und schadhafte, sprich ineffiziente in gewinnbringende Prozesse umbauen lernen (z. B. durch ein Ersetzen von Kohle- und Atomenergie durch Erneuerbare). Zudem muss genug Macht angesammelt werden, um Sanktionen gegen kannibalistisches Wachstum auf der einen und das kapitalistische Regime auf der anderen Seite dann auch durchsetzen zu können. Sofern es bei den transnationalen Eliten hier nicht zu einem moralischen Einlenken kommt, wovon ich ausgehe, können wir kurzfristig nur hoffen, den Staat dort auf die Seite des Aktivismus zu ziehen, wo er demokratisch zugänglich ist. Noch befindet er sich fest in der Hand der Priester neoliberaler Ammenmärchen von Austerität und Alternativlosigkeit. Blinden Prozessen in der Biologie wie in der Ökonomie einen moralischen Subjekt-Status („Der Markt wird es regeln“) zuzugestehen, basiert auf der transzendentalen Fehlannahme, dass sich solche Systeme ohne Eingriffe selbstständig in einen harmonischen Zustand bewegen und halten können. Technomaterialismus ist keine Entschuldigung für die Aufgabe von kollektiver Verantwortung, aber er lässt uns schadhafte Dogmen erkennen, recyclen und absetzen. Das ist wirklich anti-naturalistisches Handeln. Wer in seinem Vorgarten politisch Joghurt-Deckel sortiert, handelt im Sinne der Ideologie und tut de facto nichts. Freilich liegt noch völlig in der Luft, ob der Mensch überhaupt in der Lage ist, die notwendigen kognitiven Veränderungen zu bewältigen. Das ist die nächste Barriere, die unsere Zivilisation überwinden muss. Nach der Emergenz des Bewusstseins und der neolithischen Sesshaftigkeit Hürde 3.0, wenn man im Bild bleiben will. Der Klimawandel ist unser Meteor, der uns vielleicht nicht aussterben lässt, aber doch erheblich dezimieren wird. Der Natur ist das egal. Das kann man nicht oft genug betonen. Wir sollten diese Erkenntnis als Einladung auffassen, um den Garten Eden zu stürmen und die Bäume umzupflanzen, denn Gott ist in uns und gegen uns. Sünde ist falsche Scham in einem Universum, das Darmparasiten und Ebola hervorbringt. Esst so viele Früchte, wie ihr braucht; aber lasst welche übrig, für jene, die nach euch kommen!

Monsanto ist demnach die Verkörperung all dessen, was schiefgehen kann, wenn sich durch freigesetztes Kapital einflussreiche chemische und biologische Technologien durchsetzen und an spezifische Körperschaften eines marktwissenschaftlichen Regimes gefesselt werden. Die Frage kann nicht sein „Ist Monsanto verbrecherisch?“, sondern sollte lauten: „Was ermöglicht die Verbrechen, die Monsanto begeht?“ Da strahlt dann gerne parfümiertes Business Babble von mehr Transparenz und Moral über Medienbildschirme („Wie konnten die nur?“), ohne sich über die Fragen der Kausalität Gedanken zu machen. Business Babble ist das Doppeldenk des späten Kapitalismus. Bewegtes Nicht-Handeln. Eine Ethik sieht die Krebserkrankungen und die Abhängigkeitsverhältnisse, in die Monsanto Bauern zwingt, und fragt sich: „Muss das sein?“ Das Problem hier ist niemals (transzendentale) Bösartigkeit, sprich die ausführende Hand irgendeiner großgeschriebenen Verwerflichkeit (Luzifer, Dummheit, Gier, Hitler etc.). Das Problem ist Indifferenz – gewähltes, weil bequemes Leugnen immanenter Tatbestände; und dieses Problem hat weite Teil der Babyboomer-Generation infiziert, die leider immer noch überall die politischen Zügel in der Hand hält. Es wäre allerdings wiederum falsch, uns dafür anzuklagen. Das Gefängnis der Bilder war immer Teil der conditio humana, weil es das Echo der evolutionären Zwänge inkarniert hat. Der Kosmos selbst ist reine Bewegung und Beschleunigung, ohne Ziel und ohne Grenzen. Lovecrafts Gesichtslose, die mit ihren Tentakeln von einem Zustand in den nächsten fallen, wachsen, aufbrausen, sterben, sich errichten, lieben und verlieren. Wellen und Wellenbrecher in ewigen Gezeiten. Sie ergeben kein Bild und müssen deshalb Masken tragen. Die Masken umgeben uns und verhärten zu einem Gefängnis. Wir verweilen stets in diesem Gefängnis gefesselter Blicke, auch wenn wir temporär glauben, das Licht zu sehen. Mal entdecken wir etwas Neues, das sich entfaltet. Mal fallen wir auf ein Trugbild herein. Darum führt kein Weg herum. Aber sicher ist: Der nächste Sturm wird kommen, um an den vertrauten Holzgesichtern zu rütteln. Oder wie Linda Styles (gespielt von Julie Carmen) in In the Mouth of Madness von John Carpenter feststellt: „Wahn und Wirklichkeit können sehr leicht die Plätze tauschen.“ Wir können eingreifen, nur werden wir nie die Hoheitsgewalt über den versteckten Exzess des Kapitals erlangen. Natur ist letztendlich sowohl wachsende Formsuche (apollinische Entfaltung im Sinne von Deleuze & Guattari) als auch blinde Wucherung (Dionysische Schaffensgewalt im Sinne von Nick Land). Doch weder mit der Unterwerfung noch mit Vergötterung sollten wir uns zufriedengeben. Das Unkraut segelt mit fliegenden Samen auf den Rasen, lässt dort Löwenzahn und Gänseblümchen sprießen. Der Wind ist zwar nicht unser Freund, aber er bringt auch die Werkzeuge hervor, die ihn zu zähmen wissen, oder?  … Es wäre nicht, dass erste Mal, dass sich die Welt selbst gegen die Wand gefahren hat. Wir wären nicht einmal die ersten Lebewesen, die einen substanziellen Einfluss auf das Erdklima hatten. Sollen wir die Dinosaurier oder die ersten Cyano-Bakterien fragen? Können wir besser sein als sie? Eines ist sicher: Ein Motor, der den Mechanismen der natürlichen Selbstzerstörung entkommen will, muss mit der Akzeptanz dieser Einsichten anfangen. Das tut derzeit kein politisches Lager, denn alle halten sie an den geordneten Grenzen zwischen Hölle und Himmel fest.

Eine technomaterialistische Buchempfehlung

Leider hat sich aus der Land’schen Kritik an Deleuze bisher keine brauchbare, linke Praxis entwickeln können. Mark Fisher, vielleicht der vielversprechendste moralische Schüler Lands, hat uns leider allzu zu früh mit dem Kapital allein gelassen. Depression noch so eine irre, wuchernde Infektion des Kosmos. Der Technomaterialismus der 1990er Jahre lässt sich noch am Ehesten im Xenofeminismus aufspüren. Deswegen war es sehr erfrischend, Helen Hesters Xenofeminism von 2018 zu lesen. Es handelt sich um ein kurzes Buch, weniger eine detaillierte Analyse; dafür eine Verdichtung von Thesen. Leicht verständlich, an politischer Praxis interessiert und desillusioniert genug vom Cyberpositivismus, ohne alles verwerfen zu wollen.

Das Buch könnte durchaus für einen bitternötigen Mittelweg zwischen dem in Ungnade gefallenen Akzelerationismus und dem skeptischen Links-Konservatismus, deren prominentester Vertreter derzeit wohl Slavoj Zizek ist, stehen. Während der erste Weg dem Kapitalismus zu leichtfertig Räume der Ausbeutung überließ, droht der zweite Weg immer noch von der Stärke der globalen Dynamiken des Kapitalismus abgehängt und überwältigt zu werden, bevor er irgendetwas erreichen kann. Eine Fusion beider Stränge politischer Theorie im Gedanken eines sozialverträglichen Fortschritts, der sich an einer flexiblen Ethik und nicht an einer gesetzten Moral orientiert, könnte der Kondensationskern einer neuen international orientierten Linken sein. Gerade mit Blick auf die Herausforderungen der Digitalisierung und des Klimawandels brauchen wir Futurismen, die radikaler sind als die naiven Visionen eines Mark Zuckerberg und Elon Musk.

Das xenofeministische Manifest –von der Recherchegruppe Laboria Cuboniks, in der Helen Hester Mitglied ist, verfasst – argumentierte für eine pragmatische Politik der Entfremdung, die lernt den Kapitalismus zu unterwandern, ohne Macht über das eigene Gedankengut und die eigene Praxis an ihn abzutreten. Laboria Cuboniks vertritt die Ansicht, dass es keine reinen Systeme geben kann – weder in der Natur noch in Gesellschaften. Auf diesem Anti-Purismus ruht sich der Xenofeminismus nicht aus, sondern antwortet mit anti-naturalistischen und technomaterialistischen Entwürfen und Forderungen.  Xenofeminismus steht aber auch noch für einen dritten Schlüsselbegriff: Gender-Abolitionismus. Hier wird der neue selbstreflexive Humanismus platziert, der aus den diskutierten Gründen jeden Anti-Naturalismus und Technomaterialismus begleiten muss. Im Xenofeminismus geschieht dies natürlich mit einem Fokus auf feministische Emanzipationsinteressen. Mit Gender-Abolitionismus meint Hester einerseits die Annullierung jeglicher körpergebundenen, natürlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern (wie sie etwa im Ökofeminismus beinahe konservativ betont werden) und andererseits die aktive Bekämpfung von unterdrückenden Strukturen, die aus diesen „natürlichen“ Attributen soziale Rollen werden lassen. So argumentiert Hester gegen die Instrumentalisierung des Kindes für Zukunftsängste und die Fetischisierung einer vermeintlichen Unschuld, die in der Natur nie wirklich existiert hat. Statt der Rückkehr zu einer heilen Welt fordert Hester die Vernetzung und Verbreitung von Open-Source-Technologien, die außerhalb des sozioökonomischen Industriekomplexes operieren können, um so Marktmechanismen zu unterwandern. Das reicht von einfachen Hausmitteltechnologien zu kollaborativen und unabhängigen Forscherkollektiven. Es gilt global parasitär agierenden Akteuren wie Monsanto etwas entgegensetzen zu können, ohne dafür barfuß in den Wald zurückzukehren und alles Natürliche romantisch zu verklären – auch, weil die Option des Rückzugs in ein Refugium nur den Ressourcenstarken und Gesunden zur Verfügung steht. Für Xenofeminismus ist die Zukunft etwas, was sich stets in Konstruktion befindet. Was konstruiert wird, auf das kann man Einfluss nehmen, auch wenn es nur in Form von Nadelstichen geschieht. Dieser Prozess ist für Hester notwendiger Weise verknüpft mit intersektionaler, historischer Reflektion, will sich aber gleichzeitig nicht an vergangene Ungerechtigkeiten fesseln lassen. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen unter welchen unethischen Bedingungen manche Entdeckungen, etwa in der Medizin, gemacht worden sind. Doch darf dies nicht den Blick auf den potenziellen Nutzen von Technologien in Gegenwart und Zukunft verstellen.

Der Kommunismus des 19. und 20. Jahrhundert ist tot. Marx, der altmodischen Arbeiter-Internationale und dem Parteidogmatismus nostalgisch nachzuhängen, wird die Welt weder verändern, noch ist dieser Totenkult im Anbetracht der staatskommunistischen Diktaturen in irgendeiner Weise erstrebenswert. Mit all seinen Fehlern war der Akzelerationismus im Sinne von Alex Williams und Nick Srnicek doch ein Versuch, linkes Denken für das 21. Jahrhundert radikal zu reformieren, den Staub der frühen Moderne und den Schmodder des Staatstotalitarismus loszuwerden. Dieses Vorhaben setzt Hesters Xenofeminismus fort. Sie baut zwar auf der Techno-Utopie Haraways und Firestones auf, nähert sich dem Fortschrittsgedanken aber auf wesentlich nüchternere Weise. Die Vorsicht ist eine Stärke dieses Buches. Hester verfällt weder in Träumereien, noch fällt sie vor dem Mantra der neoliberalen Alternativlosigkeit auf die Knie. Es gibt und gab zu jeder Zeit immer Alternativen. Der Begriff Technomaterialismus im xenofeministischen Weltbild ist eine Synthese aus Nick Lands Horrorvision und Deleuze & Guattaris Spinozismus: „If nature is unfair change nature“. Man möchte aber noch etwas Wichtiges aus dem linkskonservativen Flügel hinzufügen: „Don’t change nature towards Unfairness.“

Anders als Verena Bahlsen behauptet, gibt es keinen Kapitalismus für Weltverbesserer, weil Kapital Natur ist und keinen Sinn für Gerechtigkeit besitzt. Die Rechten haben nun (für den Moment) die Gunst derjenigen, die eigentlich von einer sozialverträglichen Politik profitieren würden. Überall auf der Welt. Das ist gefährlich und es ist eine Folge des Ausverkaufs linker Werte durch die Schröders, Clintons und Blairs dieser Welt. Es gilt nun diese Werte neu aufzubauen, denn die Sozialdemokratie hat versagt und sich durch ihre eigenen Kompromisse in die Unwählbarkeit manövriert. Einer (xeno-hospitablen) Zukunft muss der Boden bereitet werden. Weder die Natur noch eine außenstehende Transzendenz werden sich daran beteiligen. Keine retrochronische Maschine erwartet uns, sondern Indifferenz. Ein Engel des Werdens, der sich selbst foltert. Das ist Gott. Das ist Natur. Ein Engel nicht eingesehener Dummheiten und übersehener Potenziale. Unser Wahnsinn steht den Sternen ebenso eingeschrieben wie unendliche Möglichkeiten.

Nichts ist alternativlos.

Literatur:

Deleuze, G. (1994). Difference and Repetition. Translated by Paul Patton. New York: Columbia University Press.
Deleuze, G.–Guattari, F. (1987). A Thousand Plateaus. Capitalism and Schizophrenia. translation and foreword by Brian Massumi. Minneapolis: University of Minnesota Press.
Deleuze, G.–Guattari, F. (1974). Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Übersetzt von Bernd Schwibs. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Fisher, M. (2014). Ghosts of My Life: Writings on Depression, Hauntology and Lost Futures. Winchester/Washington: Zero Books.
Fisher, M. (2009). Capitalist Realism: Is There no Alternative?. Winchester/Washington: Zero Books.
Hester, H. (2018). Xenofeminism. Cambridge: Polity Press.
May, T. (2005). Gilles Deleuze. An introduction. Cambridge: Cambridge University Press.
Laboria Cuboniks (2018). XF Manifesto. https://www.laboriacuboniks.net/#zero (Stand: 17.05.2019).
Land, N. (2012). Fanged Noumena. Second Edition. Windsor Quarry: Urbanomic.
Tanner, G. (2015). Babbling Corpse. Vaporwave and the commodification of ghosts. Winchester/Washington: Zero Books.
Williams, A.–Srnicek, N. (2013). #ACCELERATE MANIFESTO for an Accelerationist Politics. http://criticallegalthinking.com/2013/05/14/accelerate-manifesto-for-an-accelerationist-politics/ (Stand 17.05.2019).

Video-Essays:

(Youtube) Aldous Huxley: Quick Rundown on Accelerationism (Stand: 23.05.2019)
(Youtube) Aldous Huxley: Thoughts on an Accelerationist Future: a blogpost (Stand: 23.05.2019)
(Youtube) Cuck Philsophy: Capitalism, Cultural Disintegration, and Buzzfeed (Stand: 23.05.2019)
(Youtube) Cuck Philosophy: The Cultural Significance of Cyberpunk (Stand: 23.05.2019)
(Youtube) Nerdwriter1: Atemporality: Our Relationship To History Has Changed (Stand: 23.05.2019)
(Youtube) Then & Now: Introduction to Deleuze: Difference and Repetition (Stand 23.05.2019)

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LeO Tiresias

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