Die Plagen eines untoten Futurismus
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Ein stummer Skandal
Monsanto steht wieder in den Schlagzeilen. Man
kann die Praxis der Überwachungslisten mafiös nennen, überraschend ist sie nicht.
Die Fassaden sind bei Monsanto etwas schmutziger als bei Bayer, doch wer einen
Graben zwischen beiden Unternehmen vermutet, versteht nicht viel von Ökonomie
auf der obersten Ebene. Einfluss zu nehmen auf Medien und Politik, war eine
analoge Schummelsoftware, die schon immer zum Einsatz kam. Von Bleifarben über
den Diesel bis zu Glyphosat. Wenn die Übernahme von Monsanto eines gezeigt hat,
dann dass der Haifischtank sich nicht um die Meinung der Fische scherrt. Da
kann man schon die Frage stellen: „Muss das sein?“
Dinge funktionieren, weil sie
funktionieren können.
Eine abgeschmackte Tautologie. Der abgehärtete Zyniker des 21. Jahrhundert
zuckt mit den Schultern: „Und? Ist halt so.“ Wir nehmen es hin, blättern zum
nächsten Katzenbild, anstatt weiterzulesen. Alternativlosigkeit wird mit
Natürlichkeit assoziiert. Gegen Natur
kann man nichts ausrichten. „Ist halt so.“ Solche „Selbstverständlichkeiten“
werden oft im trotzigen, manchmal auch im rechthaberischen Ton vortragen (wahlweise
mit Verweis auf Stalin oder Venezuela). An anderer Stelle werden sie Gespräch
verneint, aber in der Praxis umgesetzt. Natürlich sein ist nichts anderes als
eine Form von konservativem Pragmatismus. Frauen sind so. Der Markt ist so und
kann nicht verändert werden. Gott ist so, weil seine Wege unergründlich sind. Karl
Mannheim hat diese Weltanschauung schon Anfang des 20. Jahrhunderts als Desillusionsrealismus bezeichnet. Der Desillusionsrealist sieht sich als ein
Insasse im Gefängnis des Realen und muss den Wachen gehorchen. Er kommt nicht
auf die Idee Gitterstäbe anzufassen, die Illusionen sein könnten. Sie sehen so natürlich aus, dass sie wahr sein
müssen. Gleichwohl berufen sich auch progressive Bewegungen gerne auf die
Unumgänglichkeit natürlicher Wahrheiten, die eine Freiheit von Korruption
herbeiführen sollen. Dies ist der Bereich der Utopie, dem Bewusstsein für eine nicht-existierende Welt der
vollendeten Möglichkeiten. Der mündige und befreite Geist im Liberalismus. Die
klassenlose Gesellschaft im Kommunismus. Der wiederhergestellte, Rousseau’sche
Naturzustand im Anarchismus. Der Menschen muss sich demnach nur zurückbesinnen
auf das Ziel und um frei zu werden, gewisse Regeln natürlicher Prinzipien befolgen.
Der Pfad in die Unmöglichkeit ist stets mit Gitterstäben umzäunt. Interessant
an der Beziehung zwischen Mensch und Natur sind drei Dinge.
(1) So scheint der Mensch stets große Anstrengungen aufzuwenden, etwas Machtvolles (ein Gesellschaftssystem, eine Religion, eine Ideologie, einen Staat) der natürlichen Ewigkeit zuzusprechen, auch wenn die Gemäuer dieser Institution bereits zu bröckeln beginnen, der Putz herunterfällt und das Plastik sichtbar wird. Um die undichte Stelle versammeln sich dann die Versuche der Hörigen, das stets Zerfallende durch ideologische oder sehr reale Mauern abzuschotten. Köpfe rollen für alles, was ewig ist. Das kann eine „Wahrheit“ sein, die reingehalten werden soll, oder ein gesellschaftlicher Zustand, der durch politische Macht „stabil“ werden muss. Will der Mensch diese Falle nicht zuschnappen lassen, muss er die Ewigkeit als Prinzip abschaffen.
(1) So scheint der Mensch stets große Anstrengungen aufzuwenden, etwas Machtvolles (ein Gesellschaftssystem, eine Religion, eine Ideologie, einen Staat) der natürlichen Ewigkeit zuzusprechen, auch wenn die Gemäuer dieser Institution bereits zu bröckeln beginnen, der Putz herunterfällt und das Plastik sichtbar wird. Um die undichte Stelle versammeln sich dann die Versuche der Hörigen, das stets Zerfallende durch ideologische oder sehr reale Mauern abzuschotten. Köpfe rollen für alles, was ewig ist. Das kann eine „Wahrheit“ sein, die reingehalten werden soll, oder ein gesellschaftlicher Zustand, der durch politische Macht „stabil“ werden muss. Will der Mensch diese Falle nicht zuschnappen lassen, muss er die Ewigkeit als Prinzip abschaffen.
(2)
Im Unbewussten wird das Prinzip der Ewigkeit bereits als relativ behandelt. So
scheint sich die Grenze zwischen Natur als Sanktum
und Kultur als Gestaltungsbereich
zwischen Epochen, Gemeinschaften und Personen stetig zu verschieben. Für manche
ist Gott ein Garant natürlicher Ordnung, für andere ist er ein Kulturprodukt,
eine zu gestaltende Leinwand. Für manche ist es verwerflich Genmanipulation an
Nutzpflanzen zu betreiben, weil Natur heilig ist, für andere geschieht dies
bereits seit 10000 Jahren in Folge von Domestikation und Züchtungsprozessen. Die
ersten Äpfel waren saure, harte und kleine Früchte. Wenn ein Apfelbaum – egal
ob, er in einem Biogarten oder in einem konventionellen Obsthain steht – nicht
natürlich ist, was ist er dann? Kultürlich? Dasselbe gilt für immaterielle
Artefakte in Glaubenssystemen. Ein Glauben, der in der Welt als Altar, Tempel,
Kirche oder Steuerbehörde Fuß fasst, ist nicht natürlich? Ideen haben einen
physischen Körper, der sich nicht berühren lässt.
(3)
Zuletzt scheint Natur in solchen
Konversationen immer mit „Wahrheit“ und „Unschuld“ in Verbindung gebracht zu
werden. Eine natürliche Existenz ist eine unschuldige Existenz. Kinder sind
unschuldig, weil sie sich noch in einem Stadium angeborenen Unwissens befinden.
Sie sind direkter, natürlicher, weil sie nicht am (unnatürlichen)
Erwachsenenleben teilhaben. Die Anarchisten der Vergangenheit ebenso wie die
Liberalen, begaben sich unter diesen schützenden Mutterrock, oftmals von der
Warte sehr privilegierter Europäer aus. Naturvölker stehen dem Wald/der Wüste „näher“
als der übergewichtige Europäer mit Zigarillo im Mundwinkel, deswegen müssen
sie der Natur und damit der (zivilisatorischen) Unschuld nahestehen. Sie wissen es nicht besser (und das ist
gut für sie). Natürliche Unschuld
kann stets in Ignoranz umgemünzt
werden. Da kommen dann Worte wie „primitiv“ und „kindisch“ ins Spiel.
Abkürzungen für Unmündigkeit. Die
Grenze zwischen der unschuldigen und unmündigen Ebene wird für den jeweiligen
historischen Moment wiederum recht willkürlich festgelegt. Unmündigkeit kann opportun oder bequem sein. Unschuld kann ersehnt und repräsentativ konsumiert werden. Die wohl
gegenwärtig am Weitesten verbreitete Weltanschauung mag der (vermeintlich) ideologielose
Blick auf die Welt sein. Aus dem Horror des 20. Jahrhunderts gebar sich wieder das
Natürliche, das Aquarius herbeisingen
und dabei Coca-Cola-Flaschen in die Kamera halten konnte.
#Skandal. Nach diesem Ausflug erscheint die
Kritik ebenso wie der Kauf von Monsanto in einem neuen Licht. Defacto muss
Monsanto das Schmuddelkind der chemischen Industrie sein(, weil es Schlagzeilen
macht). Monsanto ist bösartig(,weil es Bauern erpresst). Unnatürlich(, weil es
in den Genen von Nutzpflanzen herumpfuscht). Kurzum: Ein Verbrechen gegen die
Menschlichkeit(, weil es Kritikerlisten führt). Und Monsanto spielt diese Rolle
gut. Denkt jemand an die Kinder? Der Verein war ohne Frage schon immer korrupt
und dies soll nicht wie die Verteidigung der Machenschaften eines solchen Konzerns
wirken. Doch dass es nun eine Übernahme, eine Glyphosat-Klage und eine Liste
überwachter Europäer braucht, um endlich in den Medien wahrnehmbare Empörung
hervorzurufen, ist das eigentliche Armutszeugnis der Debatte und zeigt, dass
wir bisher noch nicht viel über Natur
gelernt haben. Monsanto ist gewachsen und aus Prozessen hervorgegangen, die im
Neoliberalismus vorgeblich unantastbar sind. Die Selbstregulation des Marktes
hat sichtbar versagt, denn es waren staatliche Gerichte, die Gerechtigkeit
einklagen mussten. Man darf schockiert sein über mafiöse Listen und suhlt sich
dann in der eigenen Unschuld. Wir haben
von nichts gewusst. Vielleicht wollten wir nichts wissen und das ist unsere
Schuld? Unschuld macht schuldig. Die Existenz von PR-Agenturen, die
man für Überwachungslisten beauftragen kann, legt nahe, dass ein solches Verhalten gängige
Geschäftspraxis ist, auch wenn sie dementiert wird. Die Überwachung wird
sicherlich niemand öffentlich zugeben, aber es steht zwischen den Zeilen und
sollte uns hellhöriger machen, als den Namen Monsanto wieder in der Schlagzeile
zu lesen und nur mit dem Kopf zu schütteln. Monsanto ist kein Dämon, der im
Namen des Bösen auf Erden Verbrechen begeht. Wir müssen ihn nicht bezwingen, wir müssen seine Entstehung
so gut es eben geht verhindern. Dass
Bayer Monsanto gekauft hat, hatte System. Dass Monsanto sich wie Monsanto
verhält, hat System. Es funktioniert, weil es unter den gegebenen Bedingungen
funktionieren kann. Das ist Natur. Alles,
was existiert ist natürlich. Macht
das die Natur unantastbar?
Eigentlich
nicht. Doch scheint der Mensch grundlegend der Auffassung zu sein, dass ihn
irgendetwas daran hindert, über Toiletten und Nutzpflanzen hinaus in die Natur
einzugreifen. Woran liegt das? Warum dürfen
wir nicht? Es scheint, als wären wir tief im Inneren immer noch der Auffassung,
dass uns diese Welt als Spezies nicht gehören kann bzw. ausgeliefert ist – obwohl
wir uns wie Könige in ihr fühlen, glauben wir die Befehle von außerhalb zu
bekommen. Was wir sein können, scheint festgesetzt. Unser Denken über den Kosmos
ist immer noch transzendental – und
das nicht trotz der Tatsache, dass wir Gott heute hauptsächlich als
Kulturartefakt betrachten, sondern vielleicht gerade, weil wir in Gott nichts
Natürliches mehr erkennen können. Real mag es keinen Gott geben, keine Beweise
sprechen dafür, aber spekulativ ist es möglich (und damit natürlich) ihn
irgendwo zu verorten. Im linken politischen Spektrum ebenso wir unter Liberalen
und Rechten besetzen unterschiedliche Standpunkte Kategorien, Rechtfertigungen
und Feindbilder mit Bildern, aus denen sich dann eine Identität formt. Doch nach allem, was wir bisher über die Welt
erfahren haben, stellte sich jede Identität früher oder später als eine
Sackgasse heraus. Nie allumfassend, nie gut genug. Deswegen fixierten wir das
Jenseitige (Das Gute, die Geschichte, die Formen, Gott), um darüber bestimmen,
was gut und was richtig ist. Transzendenz ist imaginäre Identität, die
Identitäten möglich macht – aber fiktionale wie auferlegte Identitäten schränken
zugleich ein, vernichten Potenziale, weil sie sich dem Zwang der Rechtfertigung
ausgesetzt sehen. Sie sind ein bröckelnder Staudamm, der dem Fluss letztendlich
weichen wird. Können wir fließen?
"Philosophy has an affinity with despotism, due to its predilection for Platonic-fascist top-down solutions that always screw up viciously. Schizoanalysis works differently. It avoids Ideas, and sticks to diagrams: networking software for accessing bodies without organs." (Land 2012, S. 442)
Enter Schizoanalysis. Deleuze und Guattari versuchten in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Transzendenz (als trennende Instanz
zwischen Natur und Kultur) in der Immanenz aufzulösen. Aufbauend auf Spinozas Substanz, Bergsons Konzept der Dauer und Nietzsches affirmativem Umgang
mit der ewigen Wiederkehr, erschufen
sie eine Ontologie, die Differenz den
Identitäten vorzog. Möglichkeiten, das Bewegliche und Werdende, sollten Teil
von Weltanschauung werden. Differenz wird zu der sich stetig neu faltende Substanz,
die über den zeitlichen Moment hinausgehend aus dem Baustoff der Vergangenheit
neue Gestalten formt. Der Charakter der Weltsubstanz, ihre Identität, spielt bei
Deleuze und Guattari keine Rolle, nur die Interaktion zwischen der Substanz in Kartenhäusern
der Immanenz – nicht beliebig, dennoch offen und keinem Masterplan
transzendentaler Einschränkungen unterworfen. Das Virtuelle existiert für Deleuze und Guattari materiell mit jeder Gegenwart,
die stets im Begriff ist, etwas Neues zu werden.
Deleuze ist weder Relativist noch Idealist. Es ist vorgeschrieben, was in
diesem Moment wird, aber (und das ist wichtig) es ist nicht vorgeschrieben, was
werden kann. Niemand kontrolliert, wo die neuen Karten angesetzt werden. Das
entscheidet der Prozess und allein der Prozess.
„This is not a static picture of substance standing behind a set of attributes that it has brought into existence. That would be a picture of attributes as created by or emanating from substance. That is the picture most of us would likely have in mind, since it is the one that has dominated the philosophical and religious tradition. For Deleuze, there are two differences between this picture of the relation of substance and attributes and Spinoza’s. First, substance is woven into the attributes that express it. They are not separate from it. Being is univocal. Second, substance is not like a thing that gives birth to other things. It is more like a process of expression.” (May 2005, S. 37)
Die
Triebkraft aller Dinge ist für Deleuze Veränderung,
nicht Harmonie. Harmonie ist ein
statisches Prinzip, ein Prinzip für in ihrer Form gefangene Identitäten. Veränderung
ist ewiges, sich verästelndes Wachstum. Metaphysisches Origami. Leben ist
Dienst an einer Wunschmaschine, die sich auf der Flucht vor der toten Materie,
die ihr vorausging, stets neu ausdrücken wird. Kapitalismus ist die
Gesellschaftsform, die sich bisher am besten in diese immanente Logik der Faltung fügte. Kapitalismus braucht
nicht eindeutig zu sein, profitiert
offen von Widersprüchen. Dass kein besseres System ihn bisher abgelöst hat,
liegt auch daran, dass bisher kein anderes System in der Lage war, dieselben
Dynamiken zu entfesseln und zu
halten. Alle bisherigen Versuche dem Kapital
Herr zu werden gingen von dogmatischen Institutionen aus – theologische,
faschistische und kommunistische Kirchen.
Kapital ist mehr als Dogma und Kapitalismus ist Widerspruch und Dogma.
Kapitalismus gewährt der Saat der Zerstörung einen Ehrenplatz im eigenen System
und fällt damit trotz aller Widersprüchlichkeit stets in die Verjüngung zurück.
Kapitalismus deterritorialisiert und reterritorialisiert zwanghafte Ordnungen,
verdaut sie zu Waren und Märkten wie Würmer und Maulwürfe einen Boden zugleich
zersetzen und aufbereiten. Ideologien werden vom Kapital nicht K.O. geschlagen, wie manch ein Liberaler behauptet,
sondern versklavt. Deswegen gibt es im selben globalen System heute
Che-Guevara-T-Shirts auf Amazon, Teleprediger im US-Fernsehen und Lonsdale für
den modebewussten Neonazi zu kaufen. Diese Prozesshaftigkeit des
kapitalistischen Systems führt aber auch dazu, dass die Schöpfungsenergie, die
dem Kapital zu Grunde liegt im Kapitalismus nicht vollständig befreit werden
kann. Die Zwänge im Kapitalismus richten sich sowohl gegen die Agenten der
Unfreiheit als auch gegen Agenten, die zu viel Freiheit einfordern. Deleuze
meint: „We have seen nothing yet…“ –,
aber vertrauen wir in den Kapitalismus als Quelle der Zukunft, wird das auch so
bleiben. Mark Fisher hat in Capitalist
Realism sehr gut beschrieben, wie die befreienden Impulse der Postmoderne
in die Stagnation der Alternativlosigkeit und damit in die ewigen
Wiederholungsschleifen von Parodie und Nostalgie mündeten. Eine nachhaltige
Welt ist ohne Sozialreformen und eine ontologische Reflektion über Natur als Kapital nicht möglich.
"Machinic desire is the operation of the virtual; implementing itself in the actual, revirtualizing itself, and producing reality in a circuit. It is efficient and not aspirational, although this is an efficiency irreducible to progressive causality because immanent to effective time. Machinic desire is operative wherever there is the implementation of an abstract machine in actuality, and not merely the mechanical succession of actual states." (Land 2012, S. 327)
Enter Acceleration. Es waren Denker wie Nick Land, die die
Entfremdung von Kultur und Kapital auf eine extreme Spitze trieben.
Wo Deleuze und Guattari sich noch einem (vielleicht naiven) Humanismus
verpflichtet fühlten, treibt Nick Land die latenten Tendenzen dieser Vision in
einen zutiefst inhumanen Technokosmos. Für Land sind alle Versuche, Wachstum
unterdrücken zu wollen nicht nur nicht wünschenswert, sondern auch letztendlich
vergeblich. Lands Kapital ist
immanent gewordene Intelligenz. Für ihn bedeutet das, dass Beschleunigung der deterritorialisierenden Auflösung zum
Selbstzweck wird und die Befreiung des Menschen hinderlich oder gar vergeblich
ist. Nick Land ist gegenwärtig in vielerlei Hinsicht ein problematischer Denker,
aber sein Frühwerk ist dort noch relevant, wo es die latent unkomfortablen Tendenzen
in Deleuzes Werk auf Äußerste radikalisiert. Mag die Vorstellung einer künstlichen
Intelligenz, die von der Menschheit Besitz ergriffen hat auch lächerlich sein,
so schafft es Land doch wie kaum ein anderer Deleuze-Anhänger (inklusive
Deleuze und Guattari selbst) dem kosmischen Horror, der dem Gedanken eines absolut
immanentem Universums der Differenzen innewohnen mag, eine Stimme zu geben. Mit
einer solchen Weltanschauung leben zu lernen, wird nicht so einfach sein, wie
Deleuze und Guattari sich das noch vorstellten. Land fasst die Inhumanität des
ewigen Schöpfungsprozesses in die stilistischen Worte der Science-Fiction. Was
auch immer dort im Abgrund erschafft, ob von innerhalb oder von außerhalb, ist nicht
notwendiger Weise unser Freund. Wir
sind vielleicht Werkzeug. Vielleicht gibt es auch gar keine Werkzeuge, sondern
nur Beschleunigung. Land setzt sich damit auf bedeutsame Weise ab von der
kreativen Naivität, die viele Post- und Transhumanisten umtreibt. Fanged Noumena ist Cyberfuturismus wie Also sprach Zarathustra ein Futurismus
für eine gottlos gewordene Welt werden sollte. Ohnehin teilen Nietzsche und
Land viele Eigenschaften – Das Talent für eine unkonventionelle Prosa gepaart
mit einer durchlässigen Membran zum Wahnsinn inklusive.
Lands
Technomaterialismus hat allerdings zwei entscheidende Fehler. Zum einen wirft
er Denkern wie Kant und Heidegger zwar vor, die Kontrolle über einen
unkontrollierbaren Kosmos mit dem transzendentalen Maulkorb wiederherstellen zu
wollen, versucht seiner eigenen Vision aber mit dem Endziel einer technologischen
Singularität zu zähmen und so in ein Narrativ zu zwängen. In seinem
neoreaktionären Spätwerk tritt diese Selbststrangulierung schließlich in den
Vordergrund. Land verwirft dann jede Hingabe zur Differenz und radikalen
Progressivität, die sein Frühwerk kennzeichnete, um in den Komfort einer Angst
vor dem Fremden, den (rechten) Dogmatismus, zurückzukehren. Das, was er einst
als Singularität ansah, verwusch endgültig zu einer Art transzendentalen
Gottheit der Intelligenz. Zum anderen nutzt Land die Begriffe Kapital und Kapitalismus manchmal auf unterschiedliche, manchmal auf synonyme
Weise. Kapital und Kapitalismus hängen zusammen, sind aber
nicht dasselbe. Ich möchte Kapital
hier als den grundlegenden, entpersonalisierten Agenten der
Deterritorialisierung definieren (wie Land es auch mehrfach tut). Das Land‘sche
Kapital hat schon vor dem Kapitalismus existiert und vergehende biologische
wie kulturelle Ordnungen deterritorialisiert. Man kann die Metapher der
künstlichen Intelligenz auch so lesen: Als intensivierte Auflösung der Grenzen,
die die Körperlichkeit der Evolution dem freien Fluss der Informationen
auferlegt hat. Kultur ist damit die
Geburt des Imaginativen und eine Steigerung der Komplexität von Prozessen, die
durch Kapital in Gang gesetzt werden.
Doch gleichsam leugnet Kultur diese
Freiheit, die ihr von der Natur mitgegeben wurde, durch Dogma. Zweitens ist Kapitalismus, wie bereits angedeutet worden
ist, nicht Kapital in Reinform. Hier
empfiehlt sich eine Rückkehr von Land zu Deleuze und Guattari.
Deterritorialisierung kann nur ein Nebeneffekt der kapitalistischen
Wirtschaftsform sein, weil die deterritorialisierten Güter (Rohstoffe, Land,
Traditionen, Kulturen) stets reterritorialisiert werden (Waren, Fabriken,
Geldanlagen, Bourgeois/Proletariat, Marken, Dienstleistungen).
„If Land’s cyber-futurism can seem out of date, it is only in the same sense that jungle and techno are out of date – not because they have been superseded by new futurisms, but because the future as such has succumbed to retrospection. The actual near future wasn’t about Capital stripping off its latex mask and revealing the machinic death’s head beneath; it was just the opposite: New Sincerity, Apple Computers advertised by kitschy-cutesy pop. This failure to foresee the extent to which pastiche, recapitulation and a hyper-oedipalised neurotic individualism would become the dominant cultural tendencies is not a contingent error; it points to a fundamental misjudgement about the dynamics of capitalism. But this does not legitimate a return to the quill pens and powdered wigs of the eighteenth century bourgeois revolution, or to the endlessly restaged logics of failure of May ‘68, neither of which have any purchase on the political and libidinal terrain in which we are currently embedded.” (Fisher 2010, Hier)
Wie
jedes andere Regime schränkt Kapitalismus das immanente Potenzial von
Kapital ein, um sich zwanghaft zu
erhalten und zu reproduzieren. Unter Regime
verstehe ich wie auch bei Kapital
entpersonalisierte Komplexe aus blinden Prozessen, die jedoch ein operatives
Muster vereint. Wo Kapital überall
dort, wo es möglich ist, Potenziale befreit und intensiviert, sanktionieren Regime genau diese Prozesse, indem sie
bestimmte Formen der Entwicklung unterdrücken. Das geschieht willkürlich. Kapital ist Deterritorialisierung und
Schöpfungskraft. Regime sind
Reterritorialisierung und Kontrolle durch Vernichtung. Diese Begriffe erfüllen
eine ähnliche Funktion wie Lands positive und negative Feedback-Schaltkreise
(„Feedback Circuits“), doch ist Kapital bei Land nicht die zentrale Ressource, sondern
ein unterdrücktes und unabhängiges metaphysisches Organ. Der positive
Schaltkreis gewährt Kapital mehr
Freiheit und Geschwindigkeit. Negatives Feedback hält ein System an Ort und
Stelle oder baut Freiheit und Beschleunigung für das Kapital ab. Wenn es nach
Land ginge, müssten die Barrieren des ödipalen Regimes nur aus dem Weg geräumt
werden, damit Kapital seine teleologische Funktion als übermenschliche
Intelligenz übernehmen kann. Dies ist der Grundgedanke aller Strömungen des
Akzelerationismus. Doch er führt in eine Sackgasse: Woher können wir wissen,
dass Kapital, sobald es befreit ist, auch weiß, was zu tun ist? Das ist
letztendlich dasselbe wie davon auszugehen, dass Gott einen nicht einsehbaren
Plan für die Welt vorbereitet hat. Schaltkreise dienen bei Land der Befreiung
oder Gefangennahme einer immanenten Gottheit mit transzendenten Eigenschaften
und werden wie die Beziehung zwischen Kirche und Gott zu einem Widerspruch an
sich. Dieser Gedanke fällt weit hinter die immanente, materialistische
Konstruktion des Universums bei Deleuze und Guattari zurück. Die Prozesse der
Deterritorialisierung, Territorialisierung und Reterritorialisierung lassen
sich nicht so einfach voneinander trennen, weil sie Modi derselben immanenten
Substanz sind, die sich selbst nicht als Gesamtheit einsehen kann. In Lands
Vision können positive Feedback-Schaltkreise nicht durchbrennen, zurückgeworfen
werden oder zum Stillstand kommen. Das macht sie transzendental, nicht
immanent. Stattdessen möchte ich verschlagen, dass Kapital und Regime sich in
einem ewigen Ringen um eine ziellose Vorherrschaft befinden. Jede Seite kann
dabei der anderen auch einen vorzeitigen Todesstoß versetzen oder sie zumindest
in einen Zustand der Katatonie zwinge, aus dem sie sich nur durch ein
Katastrophen-Ereignis auf einer anderen Ebene wieder mühsam befreien kann. Für
den Menschen ist reine Affirmation jedes Prinzips in Reinform ein Nullsummenspiel.
Reines Kapital ist Chaos: ein
endloser Schaffensprozess, der an nichts Erschaffenem festzuhalten vermag und
keine Erinnerung oder Wertung zulässt. Tetsuo, der die Kontrolle über Akira
verliert und damit auch die eigene Form in ein wucherndes Geschwür aufgehen
lässt. Ein Sturm der Formen ohne Formen. Ein ständiges Neu-Zerreißen. Reines Regime demgegenüber ist Untod, d. h. ein
fehlerloser Reproduktionskreislauf von identischen Kopien. Die perfekte
Wiederholungsschleife und der Tod zwar nicht des Organismus der untot wird, dafür
aber der Stillstand von Geschichte, Entwicklung und Evolution. Statt neu
geboren zu werden, erwacht derselbe Körper aus dem ihm bereiteten Grab wie aus
einem erholsamen Schlaf. Die ewige Identität. Das „saubere“, sprich nicht korrumpierbare
Paradies. Traum und Horizont jedes Faschisten. Land scheint zu Beginn seiner
Karriere, diese Beobachtung noch selbst gemacht oder zumindest angedeutet zu
haben:
“It is only by understanding the inhibitive function of patriarchies in relation to exogamic dissipation (an inhibition that is supremely logical in that it conserves identity, and which is for this reason violently xenophobic) that we can make sense of capital production and its tendency towards the peculiar cultural mutation that was baptised by Mussolini as ' fascism'. This is because the restriction of cultural synthesis, based upon a strenuous endogamy at the level of the national community, is the ultimate outcome of the concerted 'liberalization' of kinship organizations within (metropolitan) industrial societies." (Land 2012, S. 60/61)
In
der prähumanen Evolution bestanden Regime
aus den Umweltzwängen: Jäger-Beute-Verhältnisse, Krankheiten, Umweltfaktoren
und Konkurrenzdruck. In der Kultur treten neue Regime hinzu, manche sinnvoll und andere nicht: Wahrheit,
Gerechtigkeit, Macht, Sinn und im Kapitalismus primär: Wirtschaftlichkeit. Wie restriktiv Kapital und Kapitalismus
interagieren, ist abhängig von der willkürlichen Entscheidung über eine
Trennlinie zwischen Deterritorialisierung als Ressourcengewinnung (an Zeichen
wie an Rohstoffen) und decodierender Schizophrenie als Störfaktor. Die
Orthodoxie der Wirtschaftlichkeit („das lässt sich mit Gewinn verkaufen“) steht
dabei stets im Konflikt mit dem Unorthodoxen („Das ist unrentabel!“, „Das
mindert das Wachstum!“, „Dies und das macht jenes obsolet!“, „Willst du nicht
lieber, Klempner werden?“). Wie ein Lebewesen im kambrischen Meer unter dem
Druck stand, Panzer und Flucht zu entwickeln, um genetische Informationen dauerhaft
entfalten zu können, steht der Mensch im Kapitalismus unter dem Druck, an
Erwerbsarbeit teilzunehmen und Innovationen in das vorgefertigte Muster der Ware einzupassen. Was
marktwirtschaftlich angenommen wird, wird hergestellt und nicht notwendiger
Weise das, was sozial und ökologisch notwendig oder wünschenswert wäre. Deswegen
tut sich Kapitalismus so schwer damit, politische, soziale und ökologische
Krisen zu lösen, ohne zu kollabieren: Alle Innovationen finden auf recyceltem
Papier statt, dessen Funktionalität normiert und vorbestimmt ist. Märkte sind
wie Ökosysteme Regime, konstant auf
der Flucht vor dem eigenen Zusammenbruch, der oftmals auch im Neoliberalismus nur
durch ein anderes Regime, das des Staates, verhindert wird. Es ist also ein
Mythos, dass sich Märkte selbst erhalten können ebenso wie es ein Mythos ist,
dass sie Kapital dauerhaft zu bändigen wissen. Die Formulierung der
willkürlichen Grenzen, die das Regime
dem Kapital aufzwingt, ist an nüchterne
Machtpositionen und damit an subjektive Entscheidungen, die Verhältnisse und
Zufälle gekoppelt. Die Aufgabe des progressiven Kritikers ist also abgesteckt:
Finde einen besseren Weg, die kreativen Energien des Kapitals zu nutzen, ohne überwältigt zu werden und ohne in den Regime-Untod des Dogmatismus zu
verfallen.
“While Land’s cybergothic remix of Deleuze and Guattari is in so many respects superior to the original, his deviation from their understanding of capitalism is fatal. Land collapses capitalism into what Deleuze and Guattari call schizophrenia, thus losing their most crucial insight into the way that capitalism operates via simultaneous processes of deterritorialization and compensatory reterritorialization. Capital’s human face is not something that it can eventually set aside, an optional component or sheath-cocoon with which it can ultimately dispense. The abstract processes of decoding that capitalism sets off must be contained by improvised archaisms, lest capitalism cease being capitalism. Similarly, markets may or may not be the self-organising meshworks described by Fernand Braudel and Manuel DeLanda, but what is certain is that capitalism, dominated by quasi-monopolies such as Microsoft and Wal-Mart, is an anti-market. Bill Gates promises business at the speed of thought, but what capitalism delivers is thought at the speed of business. A simulation of innovation and newness that cloaks inertia and stasis.” (Fisher 2010, Hier)
Dass
Regime nicht, unumgänglich sind, zeigt sich bereits in der Erdgeschichte.
Allein schon durch die begrenzten Einblicke, die uns Fossilien gewähren, lässt
sich eine Vielzahl von Alternativen zu heutigen Formen erkennen – auch, wenn
die Evolution durch Reproduktion und Selektion stets dieselben Hürden setzte.
Der Mensch hat die äußeren Zwänge seines Ökosystems dann vollständig überwunden
und gestaltet sie seit der neolithischen Revolution sogar aktiv um. Wenn biologische
Ökosysteme von innen heraus überworfen werden können, sollte dies mit
kulturellen Ökosystemen, Ökonomien,
erst recht möglich sein. Kapital hat eben
auch eine andere Seite, die von Kapitalismus
als Regime nicht vollständig unterdrückt wird. Niemand bei Sinnen würde heute
das Feudalsystem der liberalen Demokratie vorziehen. Hier zeigt sich die
befreiende Instanz, die Kapital im Kapitalismus einnehmen kann. Die
Überwindung der mittelalterlichen Stasis aus Hungersnöten und regionalen Kriegen
ist ein erfolgreicher Prozess der Deterritorialisierung, der mit neureichen
Kaufmännern und Handelsgesellschaften, der Aufklärung, der Kolonialwirtschaft,
dem Bankenwesen sowie den französischen und amerikanischen Revolutionen in die
Konzeption der bürgerlichen Gesellschaft führte, die bis heute existiert. Weder
Kapital noch Regime sind dabei aber weder zielorientiert noch in letzter Instanz
moralisch. Es sind Kräfte, deren Interaktion vielleicht am ehesten mit dem
Konzept von Yin und Yang aus dem Taoismus zu vergleichen ist. Regime ist der gleißend weiße Yang-Blitz,
der sich durch das schwarze Substrat vom Yin-Kapital frisst und dessen Bewegung letztendlich durch Yin wieder erstickt
wird. Kapital ist schlicht das Substrat für Bewusstsein und erzeugt in
den Auflösungsprozessen der Deterritorialisierung eine Ursuppe, aus der neue Formen
krabbeln können. Regime sind diese
Formen und Organisationen dieser Formen. Es wäre daher nicht nur unter
moralischen Gesichtspunkten, sondern auch mit Blick auf die Zielsetzung einer
Befreiung von Kapital absurd, so wie der späte reaktionäre Land, davon
auszugehen, dass eine marktwirtschaftliche Diktatur wie der Kameralismus oder
das chinesische Staatssystem auf Dauer Innovationen und weiterführende
Deterritorialisierung hervorbringen könnten. Ein solches System der Zwänge wird
aus seiner immanenten Logik allein schon stets nur das Gleich reproduzieren
wollen, was wie jedes Dogma das Innovationspotenzial hemmen wird. Es ist ein
untoter Markt für Warenfetischisten, regiert von verkalkter Selbstverliebtheit.
Die Weimarer Republik führte u. a. deswegen in die Katastrophe des
Nationalsozialismus, weil die reaktionären Kräfte mit ihrem sadomasochistischen
Verhältnis zu Militär und Tradition nicht dazu gebracht werden konnten, das unflexible
preußische Untertanendenken des Kaiserreichs abzulegen. Hitler war kein Sohn,
aber ein Erbe Bismarcks.
Dementsprechend
kann Lands Inhumanismus nur als ein diagnostischer Horizont funktionieren, so wie
Nietzsche den Horizont des Denkens für das 20. Jahrhundert setzte. Im
Vordergrund müssen wir unabhängig von seinem schlechten politischen Vorbild einen
neuen Humanismus konstruieren, der sich nicht auf eine Transzendenz zu beziehen
braucht und gleichzeitig die Weltlogik der Immanenz in ihren hellen wie in
ihren dunklen Aspekten zu nutzen weiß. Dieser Humanismus muss
anti-naturalistisch und technomaterialistisch ausgerichtet sein, um die
Möglichkeiten für Veränderung aushorchen, bewahren und letztendlich schaffen zu
können. Dieser Humanismus darf auch Respekt und Empathie für seine Subjekte nicht
aus den Augen verlieren – gerade, weil die immanente Substanz, aus der wir zusammengesetzt
sind, uns weder Respekt noch Empathie garantieren wird. Die wahre Freiheit des
Menschen lässt sich nur in der Reflektion seiner natürlichen Unfreiheiten
realisieren. Ansonsten wartet der nächste Monsanto-Konzern bereits am Horizont.
Ein inhumaner Humanismus
Sie werden uns noch Öko-Lattes
verkaufen, wenn ganze Küstengebiete unter Wasser stehen. Die internationale Linke kann von
Deleuze und Land aber lernen, dass sich Kapitalismus in natürlichen Mechanismen
vollzieht und sich so deutlich gewinnbringender konzeptualisieren (und
konfrontieren) lässt als mit jeder Form von falschem
Bewusstsein. Das Ankreiden eines falschen Bewusstseins ist nicht nur nicht
hilfreich, sondern längst eine dem Kapitalismus einverleibte Marke, die etwa
„aufgeklärte“ Hipster von „steifen“ Spießern zu trennen weiß, um beiden in anderer
Gestalt dieselben Gartenzwerge zu verkaufen. Eines meiner einprägsamsten
Erlebnisse in dieser Hinsicht war ein Gespräch mit einer ehemaligen Klassenkameradin,
der ich erzählt hatte, dass ich mit der populären Mehrheitskultur derzeit wenig
anzufangen weiß. Als ich ihr dann meine Lieblingsfilme auflistete, sagte sie in
etwa: „Das sind aber wenige von den typischen Außenseiterfilmen dabei …“
Im
späten Kapitalismus eines zunehmend fragmentierten Marktes wird auch gegenkulturelle
Opposition zu einer Ware, die typisch
an bestimmte Gruppenidentitäten verkauft werden kann (Goths, Emos, Punks, Nerds
etc.). Das Spiel zu durchschauen, wird Teil des Spiels. Das ist einer der
Bereiche, wo die postmoderne der traditionellen marxistischen Kritik deutlich
überlegen ist. Falsches Bewusstsein schafft dann keine bewusste Grundlage für die Mechanismen von Ideologie, die für sich,
ebenso wie der Markt selbst, aus einem Zusammenspiel von Kapital und Regime entstehen.
Natur, die sich im Menschen wie in
allen Organismen internalisiert, hat sich schon immer selbst zerstört. Wirtschafts-
und Klimakrisen unterscheiden sich funktional nicht von eutrophierenden
Gewässern, die umzukippen drohen. Das Natürliche war nie unschuldig, sondern stets
auto-aggressiv und kannibalistisch. Deswegen ist es auch gefährlich, einer
naiven Auffassung von Ökologie nachzuhängen wie sie in Teilen der (trotzdem zu
unterstützenden) Umweltbewegung zu finden ist. Effektiver Umweltschutz heißt nicht,
Natur vor dem Menschen (oder Konzernen wie Monsanto) zu schützen. Effektiver
Umweltschutz schützt Natur vor sich selbst. Hierbei ist es wichtig, sich nicht
auf Trugbilder oder faule Kompromisse einzulassen. Freiwillige Verpflichtungen
(Ein „Siegel“ zum Tierwohl) oder eine Besteuerung von Konsum (Die CO2-Steuer)
nützen nichts, weil Marktmechanismen nicht innerhalb eines
Verantwortungsbewusstseins operieren werden. Anders formuliert: Es wird weiter
gekauft werden. Solche Regelungen verschärfen nur an einer anderen Baustelle
den Klassenkonflikt, was etwa die Gelbwesten hervorgebracht hat. Es ist keine Rationalität, die in diesem
System am Werk ist. Echte Ansätze müssen in die Produktion eingreifen und
schadhafte, sprich ineffiziente in gewinnbringende Prozesse umbauen lernen (z.
B. durch ein Ersetzen von Kohle- und Atomenergie durch Erneuerbare). Zudem muss
genug Macht angesammelt werden, um Sanktionen gegen kannibalistisches Wachstum auf
der einen und das kapitalistische Regime auf der anderen Seite dann auch
durchsetzen zu können. Sofern es bei den transnationalen Eliten hier nicht zu
einem moralischen Einlenken kommt, wovon ich ausgehe, können wir kurzfristig nur
hoffen, den Staat dort auf die Seite des Aktivismus zu ziehen, wo er
demokratisch zugänglich ist. Noch befindet er sich fest in der Hand der
Priester neoliberaler Ammenmärchen von Austerität und Alternativlosigkeit. Blinden
Prozessen in der Biologie wie in der Ökonomie einen moralischen Subjekt-Status
(„Der Markt wird es regeln“) zuzugestehen, basiert auf der transzendentalen Fehlannahme,
dass sich solche Systeme ohne Eingriffe selbstständig in einen harmonischen
Zustand bewegen und halten können. Technomaterialismus
ist keine Entschuldigung für die Aufgabe von kollektiver Verantwortung, aber er
lässt uns schadhafte Dogmen erkennen, recyclen und absetzen. Das ist wirklich
anti-naturalistisches Handeln. Wer in seinem Vorgarten politisch Joghurt-Deckel
sortiert, handelt im Sinne der Ideologie und tut de facto nichts. Freilich liegt noch völlig in der Luft, ob der Mensch
überhaupt in der Lage ist, die notwendigen kognitiven Veränderungen zu
bewältigen. Das ist die nächste Barriere, die unsere Zivilisation überwinden
muss. Nach der Emergenz des Bewusstseins und der neolithischen Sesshaftigkeit Hürde
3.0, wenn man im Bild bleiben will. Der Klimawandel ist unser Meteor, der uns
vielleicht nicht aussterben lässt, aber doch erheblich dezimieren wird. Der
Natur ist das egal. Das kann man
nicht oft genug betonen. Wir sollten diese Erkenntnis als Einladung auffassen, um
den Garten Eden zu stürmen und die Bäume umzupflanzen, denn Gott ist in uns und
gegen uns. Sünde ist falsche Scham in einem Universum, das Darmparasiten und
Ebola hervorbringt. Esst so viele Früchte, wie ihr braucht; aber lasst welche
übrig, für jene, die nach euch kommen!
Monsanto
ist demnach die Verkörperung all dessen, was schiefgehen kann, wenn sich durch freigesetztes
Kapital einflussreiche chemische und
biologische Technologien durchsetzen und an spezifische Körperschaften eines
marktwissenschaftlichen Regimes gefesselt
werden. Die Frage kann nicht sein „Ist Monsanto verbrecherisch?“, sondern
sollte lauten: „Was ermöglicht die Verbrechen, die Monsanto begeht?“ Da strahlt
dann gerne parfümiertes Business Babble
von mehr Transparenz und Moral über Medienbildschirme („Wie konnten die nur?“),
ohne sich über die Fragen der Kausalität Gedanken zu machen. Business Babble ist das Doppeldenk des
späten Kapitalismus. Bewegtes Nicht-Handeln. Eine Ethik sieht die
Krebserkrankungen und die Abhängigkeitsverhältnisse, in die Monsanto Bauern
zwingt, und fragt sich: „Muss das sein?“ Das Problem hier ist niemals (transzendentale)
Bösartigkeit, sprich die ausführende
Hand irgendeiner großgeschriebenen Verwerflichkeit (Luzifer, Dummheit, Gier,
Hitler etc.). Das Problem ist Indifferenz
– gewähltes, weil bequemes Leugnen immanenter Tatbestände; und dieses Problem
hat weite Teil der Babyboomer-Generation infiziert, die leider immer noch
überall die politischen Zügel in der Hand hält. Es wäre allerdings wiederum falsch,
uns dafür anzuklagen. Das Gefängnis
der Bilder war immer Teil der conditio
humana, weil es das Echo der evolutionären Zwänge inkarniert hat. Der
Kosmos selbst ist reine Bewegung und Beschleunigung, ohne Ziel und ohne
Grenzen. Lovecrafts Gesichtslose, die mit ihren Tentakeln von einem Zustand in
den nächsten fallen, wachsen, aufbrausen, sterben, sich errichten, lieben und
verlieren. Wellen und Wellenbrecher in ewigen Gezeiten. Sie ergeben kein Bild
und müssen deshalb Masken tragen. Die Masken umgeben uns und verhärten zu einem
Gefängnis. Wir verweilen stets in diesem Gefängnis gefesselter Blicke, auch
wenn wir temporär glauben, das Licht zu sehen. Mal entdecken wir etwas Neues,
das sich entfaltet. Mal fallen wir auf ein Trugbild herein. Darum führt kein
Weg herum. Aber sicher ist: Der nächste Sturm wird kommen, um an den vertrauten
Holzgesichtern zu rütteln. Oder wie Linda Styles (gespielt von Julie Carmen) in
In the Mouth of Madness von John
Carpenter feststellt: „Wahn und Wirklichkeit können sehr leicht die Plätze
tauschen.“ Wir können eingreifen, nur werden wir nie die Hoheitsgewalt über den
versteckten Exzess des Kapitals
erlangen. Natur ist letztendlich sowohl wachsende Formsuche (apollinische Entfaltung
im Sinne von Deleuze & Guattari) als auch blinde Wucherung (Dionysische
Schaffensgewalt im Sinne von Nick Land). Doch weder mit der Unterwerfung noch mit
Vergötterung sollten wir uns zufriedengeben. Das Unkraut segelt mit fliegenden
Samen auf den Rasen, lässt dort Löwenzahn und Gänseblümchen sprießen. Der Wind
ist zwar nicht unser Freund, aber er bringt auch die Werkzeuge hervor, die ihn
zu zähmen wissen, oder? … Es wäre nicht,
dass erste Mal, dass sich die Welt selbst gegen die Wand gefahren hat. Wir
wären nicht einmal die ersten Lebewesen, die einen substanziellen Einfluss auf
das Erdklima hatten. Sollen wir die Dinosaurier oder die ersten Cyano-Bakterien
fragen? Können wir besser sein als sie? Eines ist sicher: Ein Motor, der den
Mechanismen der natürlichen Selbstzerstörung entkommen will, muss mit der
Akzeptanz dieser Einsichten anfangen. Das tut derzeit kein politisches Lager,
denn alle halten sie an den geordneten Grenzen zwischen Hölle und Himmel fest.
Eine technomaterialistische Buchempfehlung
Leider
hat sich aus der Land’schen Kritik an Deleuze bisher keine brauchbare, linke
Praxis entwickeln können. Mark Fisher, vielleicht der vielversprechendste moralische
Schüler Lands, hat uns leider allzu zu früh mit dem Kapital allein gelassen. Depression
noch so eine irre, wuchernde Infektion des Kosmos. Der Technomaterialismus
der 1990er Jahre lässt sich noch am Ehesten im Xenofeminismus aufspüren. Deswegen war es sehr erfrischend, Helen
Hesters Xenofeminism von 2018 zu
lesen. Es handelt sich um ein kurzes Buch, weniger eine detaillierte Analyse; dafür
eine Verdichtung von Thesen. Leicht verständlich, an politischer Praxis
interessiert und desillusioniert genug vom Cyberpositivismus, ohne alles
verwerfen zu wollen.
Das
Buch könnte durchaus für einen bitternötigen Mittelweg zwischen dem in Ungnade
gefallenen Akzelerationismus und dem skeptischen
Links-Konservatismus, deren
prominentester Vertreter derzeit wohl Slavoj Zizek ist, stehen. Während der
erste Weg dem Kapitalismus zu leichtfertig Räume der Ausbeutung überließ, droht
der zweite Weg immer noch von der Stärke der globalen Dynamiken des Kapitalismus
abgehängt und überwältigt zu werden, bevor er irgendetwas erreichen kann. Eine
Fusion beider Stränge politischer Theorie im Gedanken eines sozialverträglichen
Fortschritts, der sich an einer flexiblen Ethik und nicht an einer gesetzten
Moral orientiert, könnte der Kondensationskern einer neuen international
orientierten Linken sein. Gerade mit Blick auf die Herausforderungen der Digitalisierung
und des Klimawandels brauchen wir Futurismen, die radikaler sind als die naiven
Visionen eines Mark Zuckerberg und Elon Musk.
Das
xenofeministische Manifest –von der Recherchegruppe Laboria Cuboniks, in der Helen Hester Mitglied ist, verfasst –
argumentierte für eine pragmatische Politik der Entfremdung, die lernt den
Kapitalismus zu unterwandern, ohne Macht über das eigene Gedankengut und die
eigene Praxis an ihn abzutreten. Laboria
Cuboniks vertritt die Ansicht, dass es keine reinen Systeme geben kann –
weder in der Natur noch in Gesellschaften. Auf diesem Anti-Purismus ruht sich der Xenofeminismus nicht aus, sondern
antwortet mit anti-naturalistischen und technomaterialistischen Entwürfen und
Forderungen. Xenofeminismus steht aber
auch noch für einen dritten Schlüsselbegriff: Gender-Abolitionismus. Hier wird der neue selbstreflexive
Humanismus platziert, der aus den diskutierten Gründen jeden Anti-Naturalismus
und Technomaterialismus begleiten muss. Im Xenofeminismus geschieht dies
natürlich mit einem Fokus auf feministische Emanzipationsinteressen. Mit Gender-Abolitionismus meint Hester
einerseits die Annullierung jeglicher körpergebundenen, natürlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern (wie sie etwa
im Ökofeminismus beinahe konservativ betont werden) und andererseits die aktive
Bekämpfung von unterdrückenden Strukturen, die aus diesen „natürlichen“
Attributen soziale Rollen werden lassen. So argumentiert Hester gegen die
Instrumentalisierung des Kindes für Zukunftsängste und die Fetischisierung
einer vermeintlichen Unschuld, die in der Natur nie wirklich existiert hat. Statt
der Rückkehr zu einer heilen Welt fordert Hester die Vernetzung und Verbreitung
von Open-Source-Technologien, die außerhalb des sozioökonomischen
Industriekomplexes operieren können, um so Marktmechanismen zu unterwandern.
Das reicht von einfachen Hausmitteltechnologien zu kollaborativen und
unabhängigen Forscherkollektiven. Es gilt global parasitär agierenden Akteuren
wie Monsanto etwas entgegensetzen zu können, ohne dafür barfuß in den Wald
zurückzukehren und alles Natürliche romantisch zu verklären – auch, weil die
Option des Rückzugs in ein Refugium nur den Ressourcenstarken und Gesunden zur
Verfügung steht. Für Xenofeminismus ist die Zukunft etwas, was sich stets in
Konstruktion befindet. Was konstruiert wird, auf das kann man Einfluss nehmen,
auch wenn es nur in Form von Nadelstichen geschieht. Dieser Prozess ist für
Hester notwendiger Weise verknüpft mit intersektionaler, historischer
Reflektion, will sich aber gleichzeitig nicht an vergangene Ungerechtigkeiten fesseln
lassen. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen unter welchen unethischen
Bedingungen manche Entdeckungen, etwa in der Medizin, gemacht worden sind. Doch
darf dies nicht den Blick auf den potenziellen Nutzen von Technologien in
Gegenwart und Zukunft verstellen.
Der
Kommunismus des 19. und 20. Jahrhundert ist tot. Marx, der altmodischen Arbeiter-Internationale
und dem Parteidogmatismus nostalgisch nachzuhängen, wird die Welt weder verändern,
noch ist dieser Totenkult im Anbetracht der staatskommunistischen Diktaturen in
irgendeiner Weise erstrebenswert. Mit all seinen Fehlern war der Akzelerationismus im Sinne von Alex
Williams und Nick Srnicek doch ein Versuch, linkes Denken für das 21.
Jahrhundert radikal zu reformieren, den Staub der frühen Moderne und den
Schmodder des Staatstotalitarismus loszuwerden. Dieses Vorhaben setzt Hesters
Xenofeminismus fort. Sie baut zwar auf der Techno-Utopie Haraways und Firestones
auf, nähert sich dem Fortschrittsgedanken aber auf wesentlich nüchternere Weise.
Die Vorsicht ist eine Stärke dieses Buches. Hester verfällt weder in
Träumereien, noch fällt sie vor dem Mantra der neoliberalen Alternativlosigkeit
auf die Knie. Es gibt und gab zu jeder Zeit immer Alternativen. Der Begriff Technomaterialismus
im xenofeministischen Weltbild ist eine Synthese aus Nick Lands Horrorvision
und Deleuze & Guattaris Spinozismus: „If
nature is unfair change nature“. Man möchte aber noch etwas Wichtiges aus
dem linkskonservativen Flügel hinzufügen: „Don’t
change nature towards Unfairness.“
Anders
als Verena Bahlsen behauptet, gibt es keinen Kapitalismus für Weltverbesserer,
weil Kapital Natur ist und keinen
Sinn für Gerechtigkeit besitzt. Die Rechten haben nun (für den Moment) die
Gunst derjenigen, die eigentlich von einer sozialverträglichen Politik
profitieren würden. Überall auf der Welt. Das ist gefährlich und es ist eine
Folge des Ausverkaufs linker Werte durch die Schröders, Clintons und Blairs
dieser Welt. Es gilt nun diese Werte neu aufzubauen, denn die Sozialdemokratie
hat versagt und sich durch ihre eigenen Kompromisse in die Unwählbarkeit
manövriert. Einer (xeno-hospitablen)
Zukunft muss der Boden bereitet werden. Weder die Natur noch eine außenstehende
Transzendenz werden sich daran beteiligen. Keine retrochronische Maschine
erwartet uns, sondern Indifferenz. Ein Engel des Werdens, der sich selbst foltert. Das ist Gott. Das ist Natur. Ein
Engel nicht eingesehener Dummheiten und übersehener Potenziale. Unser Wahnsinn
steht den Sternen ebenso eingeschrieben wie unendliche Möglichkeiten.
Nichts
ist alternativlos.
Literatur:
Deleuze, G. (1994). Difference and Repetition. Translated by
Paul Patton. New York: Columbia University Press.
Deleuze, G.–Guattari, F. (1987). A Thousand Plateaus. Capitalism and
Schizophrenia. translation and foreword by Brian Massumi. Minneapolis:
University of Minnesota Press.
Deleuze, G.–Guattari, F. (1974). Anti-Ödipus. Kapitalismus
und Schizophrenie I. Übersetzt von Bernd Schwibs. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp.
Fisher, M. (2014). Ghosts of My Life: Writings on Depression,
Hauntology and Lost Futures. Winchester/Washington: Zero Books.
Fisher, M. (2010). Terminator vs.
Avatar. https://markfisherreblog.tumblr.com/post/32522465887/terminator-vs-avatar-notes-on-accelerationism (Stand:
23.05.2019)
Fisher,
M. (2009). Capitalist
Realism: Is There no Alternative?. Winchester/Washington: Zero
Books.
Hester, H. (2018). Xenofeminism. Cambridge: Polity Press.
May, T. (2005). Gilles Deleuze. An introduction. Cambridge:
Cambridge University Press.
Land, N. (2012). Fanged Noumena. Second Edition. Windsor
Quarry: Urbanomic.
Tanner, G. (2015). Babbling Corpse. Vaporwave and the
commodification of ghosts. Winchester/Washington: Zero Books.
Williams, A.–Srnicek, N. (2013). #ACCELERATE MANIFESTO for an Accelerationist
Politics. http://criticallegalthinking.com/2013/05/14/accelerate-manifesto-for-an-accelerationist-politics/
(Stand 17.05.2019).
Video-Essays:
(Youtube) Aldous Huxley: Quick Rundown on
Accelerationism (Stand: 23.05.2019)
(Youtube) Aldous Huxley: Thoughts on an Accelerationist
Future: a blogpost (Stand: 23.05.2019)
(Youtube) Cuck Philsophy: Capitalism,
Cultural Disintegration, and Buzzfeed (Stand: 23.05.2019)
(Youtube) Cuck Philosophy: The Cultural
Significance of Cyberpunk (Stand: 23.05.2019)
(Youtube) Nerdwriter1: Atemporality:
Our Relationship To History Has Changed (Stand: 23.05.2019)
(Youtube) Then & Now: Introduction to Deleuze: Difference
and Repetition (Stand 23.05.2019)
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