#bauhauswow | Das Erinnern an die Moderne


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Es ist nicht leicht, das Bauhaus in Worte zu fassen. Das hört man im Bauhausjahr 2019 häufig. Es hinterlässt bei der Art und Weise, wie Bauhaus einem weiten Publikum schmackhaft gemacht werden soll, einen faden Nachgeschmack. Man reist um die Welt (und oft nach Amerika), um bei mehr oder minder privilegierten Designern mit mehr oder minder starkem Bauhausbezug Interviews einzufahren. Man preist die Reformpädagogik, die in Schulfabrik und Bologna-Universität gegenwärtig nirgendwo zu spüren ist (außer vielleicht an Designschulen in privater Hand mit saftiger Semestergebühr). Man weiht neue neben alten Museen ein. Man stellt die „authentische“ Wagenfeldlampe für 400€+ neben die „Fakes“ für 40-80€ in Internetwarenhäuser. Wenn ich in diesem Blog behaupte, die Avantgarde regiere an ihren Innovationen vorbei, hat das mit solchen Beobachtungen zu tun. All diese Beweihräucherung riecht nach nichts und die Kunst selbst ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch schon lange weitergezogen.

Gut, die Gründung des Bauhauses im damals noch beschaulichen Weimar liegt nun 100 Jahre zurück. Sie war tollkühn und innovativ, wenn auch weniger revolutionär als käuflich. Unter #bauhauswow sollen alle dazugehören. Da wird so getan, als wäre diese Vision der Moderne jedermanns Sache. Dieses universelle „Wir“ klingt dann aber teilweise so abgehoben, dass man den Eindruck bekommt, es handelt sich um ein Kloster von Scholastikern. Zwischen den Zeilen steht dann: Eigentlich soll dann doch nicht Jedermann dazugehören und erfahren, was das Bauhaus war, sein sollte und sein kann. Bei allem Respekt für die Avantgarde-Kunst des 20. Jahrhunderts: Große Teile der SpießerInnen des 21. Jahrhunderts leben in Bauhausvillen, ob das in ihr Selbstbild passt oder nicht.
Wer die gegenwärtigen Spaltungen der deutschen Gesellschaft besorgt im Auge behält, wird vielleicht verstehen, warum mir ein solches Verhalten nicht unbedingt zielführend erscheint. Im ehemaligen Osten, wo die Bauhausschule in den Jahren zwischen Kriegsniederlage und Nazi-Diktatur eine kurze Blüte erfuhr, werden weite Landstriche von Ressentiments und neurechten Parteien regiert. An den Bauhausgeist zu appellieren wäre in diesen unruhigen Zeiten vielleicht gar keine schlechte Idee, um aufzuzeigen, dass es stets Alternativen zur Alternativlosigkeit der neoliberalen Ideologie gibt. Aber der Spießer will eben nichts Neues, sondern einen Ausstellungskatalog des Alten, dessen verlängerter Arm er sein will. Den Breuer-Stuhl schiebt er noch einmal als Hochglanzdruck auf das Regal, um nicht in die Zukunft sehen zu müssen, die schließlich mit Veränderungen einhergeht. Wir sollten uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Avantgarde in den Augen mancher selbst zu einem Fetischobjekt historistischer Kleinkrämerei geworden ist. Hier unterscheidet sich der Spießer/die Spießerin vom Retrofuturisten/von der Retrofuturistin, der/die die Bibliothek der Vergangenheit durchforstet, um Gegenwart und damit Zukunft zu gestalten. Der Spießer reinszeniert. Der Retrofuturist lässt sich inspirieren – vom Avantgarde-Denken und nicht lediglich von der Avantgarde-Ästhetik.

Ein anderer Künstler, Ai Wei Wei, dessen Ausstellung ich dieses Jahr ebenfalls bewundern durfte, zeigte mir das auf eindrucksvolle Weise. Ai Wei Wei lässt Porzellan aus traditioneller chinesischer Manufaktur gegen Polizeigewalt und für Flüchtlinge sprechen, das Aktuelle für das Gegenwärtige. Er reinszeniert Unterdrückung und Verfolgung, macht aus seinem Leben Perfomance-Kunst, um eben zu zeigen, dass die Moderne noch lange nicht erreicht ist. Wofür stehen im Bauhausjahr 2019 das gelbe Dreieck, das rote Quadrat und der blaue Kreis? Hauptsächlich für Kapital, denn nur reiche Menschen können es sich leisten, in einem radikal modernistischen Gebäude nach den Vorstellungen von Gropius & Co zu leben. Deswegen ist das Bauhaus noch heute ein Bestseller, nicht weil es revolutionär ist. Klar hat sich das Bauhaus auch am sozialen Wohnungsbau beteiligt. Schaut man sich an, wie diese Relikte heute aussehen, steht man entweder vor Bauruinen oder fetischisierten Museumsstücken, nicht vor dem „neuen Wohnen“, wie es ursprünglich vom Bauhaus konzipiert wurde. Das lässt sich auch auf die modernistische Avantgarde erweitern: Ob Scheich, Diktator der Bananenrepublik oder chinesischer Parteifunktionär, sie alle können sich ohne schlechtes Gewissen einen Kandinsky in die Luxusloft hängen oder in einem Gropius wohnen. Dort erinnert sie nichts an die Folgen ihrer Entscheidungen. Bei einem Ai Wei Wei ist das schwieriger. Die traditionalistische Gesellschaft, die den Ideen des Bauhauses mit einem Aufschrei begegnete, existiert nicht mehr. Das Bauhaus selbst ist Tradition geworden und passt als Gründungsmythos perfekt in eine flexible Globalisierung von Wolkenkratzern, mehrere Länder und Kulturen umfassende Produktionsketten und einer weltweit verbreiteten Dissonanz zwischen Repräsentation und Praxis, die wir seit kurzem Fakenews nennen.

Nimmt man die Philosophie des Bauhauses ernst, widerspricht all das dem Kerngedanken der modernistischen Praxis: Das Experimentieren mit neuen Wegen. Die wichtigste Errungenschaft der Avantgarde des 20. Jahrhundert besteht darin, Repräsentation insbesondere in der Malerei und der Skulptur von den Zwängen der Imitation zu befreien. Ob nun unpolitisch oder nicht, diese Idee ist nicht zu verdammen, im Gegenteil sie muss verteidigt werden (und eben genau gegen jene, die sie zu einem unpolitischen, biedermeierlichen Kulturgut umfunktionieren wollen). Die Bauhausnostalgie im Jahre 2019 soll eine schützende Hand über das Spießbürgertum des 21. Jahrhundert halten, denen es genauso an Eigensinn mangelt und denen das Buckeln vor dem Status Quo ebenso eine Religion ist wie dem Konservativen im Weimar 1919. Opfer ist nun nicht mehr die Geschichte in ihren Anekdoten, sondern die künstlerische Moderne mit ihren „Genies“. Statt neues beizusteuern, wird altes in allen Facetten und Details bespielt. Das Bauhaus übte natürlich einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die westliche Moderne aus, wenn es nicht gerade die ästhetische Verkörperung der klassischen Moderne schlechthin stellt. (Andererseits ist die Beeinflussung der europäischen Moderne durch klassische asiatische und afrikanische Kunst gut dokumentiert). Vielleicht muss man die Interdisziplinarität des Bauhauses ehren, indem man sie zu etwas völlig Anderem in Beziehung setzt.
Watchmen ist meiner bescheidenen und absolut objektiven Lehrmeinung nach eines der bedeutendsten Kunstwerke des 20. Jahrhunderts. Diese zutiefst politische Satire auf Superhelden im Gewand des amerikanischen Superhelden-Comics, der bis heute einen Massengeschmack bedient, entstand unter der Feder von Alan Moore und Dave Gibbons. Die langläufige Meinung unter Comic-Enthusiasten ist, dass Watchmen das Medium revolutionierte, wobei im Rahmen dieser Revolution eine Menge der eigentlichen Innovationen am Straßenrand liegen gelassen wurden. Klingelt es bereits? Doch hierauf wollte ich eigentlich gar nicht hinaus, sondern auf ein Zitat:


„Observation: Multi-Screen viewing engages me like the kinetic equivalent of an abstract or impressionist painting … Word and images evade rational analysis, allowing subliminal hints of the future to leak through … transient and elusive, these must be grasped quickly: Computer animations imbue even breakfast cereals with an hallucinogenic futurity; music channels process information-blips, avoiding linear presentation, implying limitless personal choice … These reference points established, an emergent worldview becomes gradually discernible amidst the media’s white noise. An era of the conceivable made concrete … and of the casually miraculous.” [Moore, A. – Gibbons, D. (1986) Watchmen XI]

Der zitierte Monolog findet auf der ersten Seite des 11. Kapitels (bzw. Heftes) vor dem Blick auf ein tropisches Gewächshaus statt, das bereits zu einem Drittel im Schnee der Antarktis versunken ist. Die Figur, die den Monolog vorträgt, ist Adrian Veidt oder Ozymandias. Es handelt sich um eine Szene, die kurz vor dem großen Finale stattfindet. Gegen Ende wird New York von einem gewaltigen, im Labor gezüchteten Monster-Tintenfisch zerstört und besagter Charakter gibt sich als Befürworter eines utopischen Genozids zu erkennen. (Es ist intelligenter, als es sich anhört.) Zentral geht es in Watchmen um Fragen der Macht und Verantwortung und dass die Moral, welche sich in Comicheften für Kinder abdrucken lässt, in Konfrontation mit der Wirklichkeit hilflos naiv erscheint und doch bis heute weite Teile der politischen Imagination bestimmt. Wir wählen einen Kennedy und wundern uns, warum wir einen Nixon bekommen. (Von dem kollektiven Wahnsinn, der sich entwickeln musste, um einen Trump zu wählen, ganz zu schweigen.) Grau in Grau zeichnet sich die Welt: Ohne klares Vor und Zurück. Nichts zu Unrecht bemerkt ein gealterter Moore im Rahmen einer Kurzfilmserie für Arte, dass es kein Zufall ist, dass im Jahr von Brexit und der Wahl einer Rassismus-Orange in Amerika 2016 die erfolgreichsten Filme an der Kinokasse alle mit Superhelden zu tun hatten.

Watchmen, Anfang zu Kap. 11 in der (schlechten) deutschen ÜbersetzungMoore, A. – Gibbons, D. (2008). Watchmen. Dritte Auflage. Nettetal-Kaldenkirchen: PANINI COMICS.

Veidt/Ozymandias steht für den Entrepreneur und Philanthropen, der im Sinne der Aufklärung mit Rückgriff auf das vermeintlich überlegene Wissen der Antike in die Moderne steuert. Gleichwohl ist Ozymandias, ein anderer Name von Ramses II., der durch Percy Shelleys Gedicht zu Weltliteratur wurde, eine der tragischsten Figuren im Comic, weil er sein (vermeintliches) Wissen dazu nutzt, um im Namen des Fortschritts und im Sinne des Utilitarismus ein schreckliches Verbrechen zu begehen. Schön und gut, fragt sich der gemeine Leser: Was hat das mit dem Bauhaus zu tun? Die zitierte Passage verweist auf drei Dinge: Erstens zeigt sich hier die Arroganz des Antagonisten, der glaubt durch richtige Ideen und Interpretationen im Alleingang aus all dem Rauschen die Vision einer besseren Welt herausfiltern zu können. Zweitens deutet sich im Subtext das allgemein ungebändigte Verlangen des Menschen an, selbst im sinnbefreiten Chaos nach Ordnungen und Mustern zu suchen. Drittens verkörpern Bildsprache und Prosa auf prägnante Weise Grenzen und Wunder eines modernistischen Denkens, das im Enthusiasmus der nichtfigurativen Kunst ihren Anfang nahm und in die genozidalen Regime von Faschisten und Stalinisten mündete. Es ist ein Werk über die klassische Moderne, der Fetisch des hippen Bürgertums. Watchmen ist ein Werk, dass sich eher an einer Charakterisierung des 20. Jahrhundert versucht und in diesem Zitat durch die Dichte von Moores Prosa zum Höhepunkt gebracht wird: 

"An era of the conceivable made concrete and the casually miraculous."


Wollte man die Moderne in Worte fassen, dieser Satz wäre ihre sprachliche Vervollkommnung, die Kunst eines Mondrian, Klee oder Kandinsky ihr künstlerischer Entwurf und im Bauhaus ihre ästhetische Konkretisierung und Idealisierung. Mir fällt keine bessere Passage der Literatur ein, die ein ganzes Jahrhundert in eine Zeile komprimiert hätte. Im Bauhaus ist alles genormt und präzise abgestimmt auf Praktikabilität. Grundfarben und Grundformen ohne Schnörkel. In Retrospektive wissen wir nun, dass damit erstens die Naivität der Annahme einhergeht, dass alles, was funktional aussieht auch funktional sein muss (die Wagenfeldlampe ist hier das beste Beispiel, was ihre Neuauflage doppelt ironisch macht). Dahinter steht zweitens die Arroganz der Behauptung, jene Grundformen und Grundfarben aus einem unendlich-seltsamen Universum identifiziert und herausdestilliert zu haben. Es gibt keine Garantien dafür, wie ein Kunstwerk verstanden wird. Daher macht es vielleicht doch Sinn, beim Selbstausdruck möglichst klare Aussagen zu tätigen? Klar wird es auch immer eine unpolitische Ästhetik geben, ob beim klassischen Ölgemälde oder in der nichtfigurativen Kunst. Diese Ästhetik sollte man dann aber nicht lautstark als revolutionär preisen. Es ist eine Revolution, die sich weigert zu sprechen. In eine stumme Revolution kann alles hingelegt werden (nicht nur die moderne, liberale Marktdemokratie). Eine stumme Revolution ist stets erfolgreich, aber wirkungslos.

Dementsprechend lässt sich die Komplexität des Bauhauses durchaus erklären. Die schwammigen Kerngedanken der Moderne waren Quell zahlreicher interner und externer Konflikte und Widersprüche. Gropius propagierte einen Bruch mit der Vergangenheit für eine neue Zeit des rationalisierten Baus, fing aber mit einer vermeintlichen Rückkehr in die mittelalterliche Bauhütte an. Meyer propagierte Volksbedarf vor Luxusbedarf, lehnte aber jede Form von ästhetischer Gestaltung ab. Mies van der Rohe machte mit viel nutzlosem Raum aus der Moderne für alle eine Moderne für wenige. In Hitlerdeutschland wurde alle Erinnerung an die „entartete Kunst“ der Avantgarde inklusive viele der Gebäude des Bauhauses getilgt. In Mussolinis Italien hingegen hielten einflussreiche Leute ihre schützende Hand über Teile der Avantgarde. Die russischen Avantgardisten begrüßten anfangs die bolschewistische Revolution und wollten in der Kunst das nachempfinden, was Lenin und andere in der Politik taten. Dann kam Stalin, schickte sie in den Gulag. Der sozialistische Realismus wurde zum prägenden Stil. Doch noch heute erinnern Monumentalbetonbauten von Faschisten und Plattenbauten in den Satellitenstaaten der Sowjetunion, teilweise von Meyer selbst entworfen, an den Geist des Bauhauses, der von beiden politischen Extremen zwar abgelehnt, aber dann doch irgendwie angenommen als „Moderne“ wurde. In Amerika wurden viele der fliehenden Bauhäusler mit Handküssen empfangen. Dort entwickelte sich das Industriedesign, das noch heute prägend ist, weil es sich eben unparteiisch und unpolitisch als „Fortschritt“ vermarkten ließ. Das passte gut ins futuristische Selbstbild der USA.

So steht es zwar wie kein anderes Phänomen für die Normierung und Homogenisierung, mit der im 20. Jahrhundert auf sozialer, politischer und ökonomischer Ebene experimentiert worden ist. Es ist aber falsch zu behaupten, dass es aus der Zeit gefallen wäre, weil es Spießbürger und Traditionalisten auf die Palme brachte. An den Ambitionen eines modernistischen Projekts ist das Bauhaus gescheitert. Es bediente die virtuellen Potenziale, die sich durch neue Technologien und Gesellschaftsformen in der Geschichte auftaten. Hierin war es erfolgreich. Gleichzeitig zeichnete das Bauhaus aus, dass es jenen freischwebenden Innovationen, die nur im Experiment und der Missachtung von Konventionen entstehen konnten, einen Raum zur Konkretisierung und Konzeptualisierung zur Verfügung stellte. Das hat sich aber nicht erhalten, was das ganze Spiel um „revolutionäres Erinnern“ eine Farce werden lässt. Wäre es nicht interessanter gewesen, wenn Designschulen oder Museen sich mal für alle Interessierten ein Jahr lang öffneten und einen Vorkurs nach dem Vorbild Ittens anbieten würden? Zu teuer, kreischt der Spießer und flüchtet sich in seinen Bungalow, umgeben von Hochglanzkunstbänden und Breuerstühlen. Wo Austerität und Markthörigkeit herrschen, entsteht nichts Neues.
Eliten bietet sich hier die Möglichkeit, im Genuss die eigene Bildung zur Schau zu tragen und dem gemeinen Volk, wie Bourdieu es formulierte, seinen barbarischen Geschmack vorzuhalten. Hier bietet die künstlerische Moderne aber gerade eine wunderbare Gelegenheit, Lehre und Gestaltung voneinander zu entkoppeln, die Kunstwelt zu demokratisieren. Eine weitere Errungenschaft der Kunst des 20. Jahrhundert ist es nämlich, den Wunsch nach Selbstausdruck von der Notwendigkeit technischer Fähigkeiten zu trennen. Sie können einen Rothko malen. Ich glaube an Sie. In einem Museum wird ihnen das niemand erklären, aber zur Not googeln Sie eben ein Youtube-Tutorial. Nostalgie für eine naive Moderne mit ihrem irrationalem Geniekult wird weder das Klima retten noch der Prekarisierung und Neoliberalisierung der Gesellschaft Einhalt gebieten.

Es mag sein, dass das Bauhaus zukunftsweisend war und bleibt. Doch diese Vorstellung von der Zukunft ist bedroht durch jene, denen in der Aneignung des Radikalen, der Sinn für Radikalität verloren gegangen ist. Will man das Bauhaus ernsthaft ehren, muss man es für obsolet erklären. Neu denken. Brücken zwischen Ästhetik und Funktionalität bauen. Risiken eingehen wider die Alternativlosigkeit der Geschichte. Es ist nicht vermessen zu behaupten, dass die Bauhauskonzepte noch heute relevant sind. Damit steht das Bauhaus aber gleichzeitig für die Fehler dieser ersten Moderne und das offene Projekt eines neuen Menschen, der im 20. Jahrhundert weder mit Gewalt noch durch Vernunft erschaffen werden konnte. Wir sind nie modern gewesen.

Es ist zutiefst ironisch und gefährlich, dass gegenwärtig vor allem die reaktionären Kräfte der Rechtspopulisten diesen Snobismus als solchen erkennen. Walter Benjamin hatte Recht, wenn er schrieb, dass wir für ein neues Kunstverständnis eine Entmystifizierung des Kunstbegriffs brauchen, aber Unrecht, wenn er meinte, die Entzauberung in der Avantgarde-Kunst bereits mitzuerleben. Im 20. Jahrhundert ist eine Materialisierung der Kunst nicht gelungen. Konzipiert man ein Bild dazu, alles und nichts darzustellen, läuft man Gefahr, dass genau das geschieht: Es steht für alles und nichts. Wertanlage, Spekulationsobjekt, teure Wandtapete, Kultobjekt, Puzzle, Klopapier. Bonuspunkte gibt es, wenn Sie lange tot sind und Ihre Werke sich in den Sammlungen viel zu reicher Menschen befindet. Linke Politik muss eine eigenständige Kritik an dieser Selbstbeweihräucherung formulieren.

Historismus ist kein eigenständiges Denken im Sinne des Humanismus (oder des Bauhausgedankens). Es ist frei nach Walter Benjamin das Ein- und Ausgehen bei der Hure Es-war-einmal. Eine Kunst des 21. Jahrhunderts vereint die Lehren des gestalterischen Exzesses der Avantgarde des 20. Jahrhunderts mit der Kommunikation von Sinnhaftigkeit in älteren Werken. So lässt sich selbst der chinesischen Diktatur die Stirn bieten. Sehen Sie sich Ai Wei Wei an. Das eigentliche Bauhaus, das Erinnerungswerte am Bauhaus, ist in der Zweckentfremdung von Dingen die Praxis des Zulassens von Ideen jenseits aller ästhetischer Konvention. Geschichte springt nicht, sie kriecht vorwärts. Genaugenommen kriecht sie auch nicht notgedrungen vorwärts, sondern lediglich ihren Sinnen hinterher. Die Avantgarde ist nun soweit, dass ihre Ideen selbst Konvention geworden sind, mumifiziert und zu Grabe getragen wie Echnatons vergessenes und für seine Zeit obszönes Projekt eines solitären Sonnengottes. Das Bauhaus ist im Sinne Percy Shelleys der Ozymandias, an dessen Größe und Macht nur noch ein liegender Kopf in der Wüste des Realen erinnert.

An era of the conceivable made concrete and the casually miraculous

Literatur:

Benjamin, W. (1991). Walter Benjamin. Gesammelte Schriften I, 2. Herausgegeben von Rolf Tiefemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Bürger, P. (1974). Theorie der Avantgarde. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Di Liddo, Annalisa (2009). Alan Moore. Comics as Performance, Fiction as Scalpel. Jackson: University Press of Mississippi.
Droste, M. (2019). Bauhaus 1919-1933. Berlin: Taschen Bibliotheca Universalis.
May, T. (2005). Gilles Deleuze. An introduction. Cambridge: Cambridge University Press.
Moore, A. – Gibbons, D. (2008). Watchmen. Dritte Auflage. Nettetal-Kaldenkirchen: PANINI COMICS.

Links:

Video Essays:
(Youtube) DW Deutsch (31.01.2019). bauhausWORLD 1/3: Der Code - 100 Jahre Bauhaus |DW Dokumention. (Stand 08.09.2019).
(Youtube) DW Deutsch (31.01.2019). bauhausWORLD 2/3: Der Effekt - 100 Jahre Bauhaus |DW Dokumention. (Stand 08.09.2019).
(Youtube) DW Deutsch (31.01.2019). bauhausWORLD 3/3: Die Utopie - 100 Jahre Bauhaus |DW Dokumention. (Stand 08.09.2019).
(Youtube) KyleKallgrenBHH (25.02.2015). F for Fake and the Death oft he Author – Brows Held High. (Stand: 08.09.2019).
 (Youtube) Patricia Taxxon (09.04.2018). The Kunst Saga | How the Right Wing Views Modern Art. (Stand: 08.09.2019).
(Youtube) Patricia Taxxon (22.05.2018). The Golden Calf Vol. 2 | Is Art a Commdity? (Stand: 08.09.2019).
(Youtube) The Art Assignment (07.10.2016). The Case for Ai Weiwei |The Arte Assignment |PBS Digital Studios. (08.09.2019).



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LeO Tiresias

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