Boomers' Stranding


________________________________________________________________________________

Kryptisches Cinematic folgte auf kryptisches Cinematic. Drei Jahre lang konnten wir nur darüber spekulieren, woran Gaming-Guru Hideo Kojima eigentlich arbeitete, nachdem dieser sich mit seinem ursprünglichen Arbeitgeber Konami verkrachte und die Fortsetzung von Silent hill offiziell gestorben ist. Immerhin schien sich die Zusammenarbeit mit Guillermo del Torro und Norman Reedus von einem Projekt ins nächste fortzusetzen. Seit dem achten November ist das Kind nun auf der Welt. Kritiker zeigten sich gespaltener Meinung. Für Jim Sterling war das Spiel langweilig und repetitiv. Russ Frishtick von Polygon nannte das Spiel einen „Walking Simulator in the truest sense.“ Es handle sich, um zwei Spiele in einem, die sich nicht für ein Publikum entscheiden könnten. Nicht wenige meinten, insbesondere nach den despektierlichen Äußerungen Kojimas zur amerikanischen Rezeption, nicht ohne Grund, dass dem Starentwickler der Ruhm wohl zu Kopf gestiegen sei. Kojima versuchte sich die gespaltenen Reviews damit zu erklären, dass das Spiel eben schwer zu verstehen sei, die AmerikanerInnen lieber bei FPS-Spielen, d. h. First-Person-Shootern, bleiben würden. Death Stranding sei eben nicht ein solches Spiel. Ich will diese Äußerung gar nicht verteidigen. Aber Death Stranding sollte eben nicht nur ein Spiel werden. Es sollte das Potential aller Spiele entfesseln, den Homo Demens abservieren und uns den Homo Ludens bringen. Spricht ein solches Vorhaben für Größenwahnsinn? Vermutlich. Aber vielleicht lohnt es sich, gemessen an der Verachtung, die Kojima konventionellen Designphilosophien hier entgegenbringt, einen tiefergehenden Blick zu riskieren.

Nach Ansicht mehrerer Let’s-Plays des Youtubers theRadbrad (Ich besitze keine PS4 und warte auf die PC-Version) habe ich mir ein erstes eigenes Bild machen können. Eines ist sicher: Death Stranding ist als Spiel ebenso kryptisch wie die Trailer, die seine Veröffentlichung ankündigten. Es ist nicht leicht zu verstehen, weil sich einer seiner offenen, ungeradlinigen und mythischen Inszenierung bedient. In dieser Sprache will Death Stranding eben nicht nur unterhalten, sondern im Gegensatz zu vielen anderen Titeln der Branche eben auch und vermutlich vor allem zum Denken anregen. Die Spielwelt ist hier nur Katalysator. Große Teile bestehen aus karge Fels-und-Gras-Landschaften, die sich mit hyperfuturistischen Gebäudekomplexen abwechseln. An der Oberfläche trägt man Dinge von A nach B, füllt seine Stamina durch schamloses Product-Placement auf, stellt Ausrüstung her und frönt dem freien Urinieren in der Wildnis. Wer nicht über die präsentierte Welt hinwegsehen kann, wird schnell meinen, dass dem Spiel nicht viel abzugewinnen ist.

In der Vergangenheit hat sich irgendein mystischer Kataklysmus ereignet. Wir schlüpfen in die Haut von Norman Reedus, bekannt aus The Walking Dead, der die Rolle von Sam Porter Bridges in einer Welt übernimmt, die von Geisterwesen, unsichtbare Manifestationen einer Dimension des Todes, und rapide beschleunigten Alterungsprozessen heimgesucht wird. Amerika, das im Spiel eher an die Küsten Irlands und Südenglands erinnert, ist zersplittert. Wir erhalten den Auftrag, nach Westen zu gehen und alle Städte wieder in ein funktionierendes Netzwerk zu integrieren. Mit Leitern und anderen Hilfsmitteln bahnen wir uns dabei einen Weg durch die Wildnis, über Flüsse und Berge, vorbei an wahnsinnigen Paketzustellern und den unsichtbaren Monstern, die schwarze Handabdrücke hinterlassen, wenn wir sie aufschrecken, und uns in die irgendwie kaputtgegangene Jenseitswelt ziehen wollen. Death Stranding ist nicht (nur) in sich selbst verliebt, sondern beschäftigt sich recht eindeutig mit der Wirklichkeit, in der wir leben, und den Herausforderungen, denen wir begegnen müssen. Am besten lässt sich das Spiel vielleicht so beschreiben: Geplatztes Corporate Branding. Die Kunst soll der ökonomischen Rationalität entrissen werden und sich auf ihre mythischen Ursprünge besinnen, um die Zukunft aktiv mitzugestalten. Hatte die Metalgear-Solid-Reihe zwar einige großen Momente, waren diese doch an anderer Stelle starrsinnig eingehegt in die Aufrechterhaltung von Konventionen. Der Konflikt zwischen Designmöglichkeit und Designkonvention war an jeder Stelle sichtbar. Death Stranding will sich nicht mehr verstecken. Es ist durch Emanzipation befreite kreative Energie, die Kojima Konami nun dick unter die Nase reiben will. Gestalterisches Ego reibt sich an Marktoptimierung. Grenzüberschreitende Kunst gegen markentreue Unterhaltung. Man mag das als arrogant empfinden, ist es im Prinzip auch, doch waren Walter Gropius und Pablo Picasso als Menschen nicht auch unerträglich? Wie Bauhaus und Kubismus einiges über das 20. Jahrhundert in ästhetische Form brachten, kann Death Stranding uns doch einiges über das 21. Jahrhundert erzählen. Es finden sich nicht nur verlorene Pakete in den felsigen Graslandschaften, sondern auch Warnungen. Ein Künstler bricht aus.

Das zentrale Ereignis, auf das sich der Begriff Death Stranding bezieht, ist ein trauriges Phänomen: Meeresbiologen kennen Massenstrandungen, bei denen dutzende Wale oder Delfine zeitgleich an demselben Strand auflaufen und verenden. Als Grund steht unter anderem der durch den Menschen verursachte Unterwasserlärm im Verdacht. Man fragt sich trotzdem: Diese Tiere, denen viele ein Bewusstsein zusprechen, das unserem gleichkommt, haben den Strand nicht kommen sehen? Gleichzeitig hat dieser Anblick kollektiven Selbstmords abseits aller wissenschaftlichen Erklärungen und umweltpolitischen Ursachen etwas Gespenstisches. Libido ist automatische Reaktion, eine unsichtbare Hand, die im Dunklen operiert und Wünschen folgt, die keine Gestalt oder Bewusstsein haben. Eine Pflanze wächst dem Licht entgegen. Doch was ist, wenn das Licht tödlich ist? Eine Motte orientiert sich an Leuchtquellen, weswegen sie mitunter in unserer Wohnung landet. Die Geisterwelt, aus der die Technologie der Spielwelt ihre Energie bezieht und die Norman Reedus‘ Charakter die Reinkarnation erlaubt, ist ein solcher Totenstrand. Kann Libido, aus sich selbst heraus, über gesunde und schädliche Intensitäten urteilen? Was unterscheidet den Treiber vom Getriebenen? Natur wuchert stets, bis sie auf eine Wand trifft. Diese Wand ist der Strand, auf den uns die Wunschmaschinen der Evolution auflaufen lassen, weil die Libido dann doch blind ihrem Hunger gefolgt ist. In welchem Verhältnis ist der Mensch Getriebener und Treiber? Wie sehr kann sich ein Bewusstsein von der Libido der Natur emanzipieren und muss es sich dafür nicht klarmachen, welch enge Verbindungen zwischen unsichtbarer Libido und dem Ich bestehen?

"Der Wunsch ist ein Exil, eine Wüste, die den organlosen Körper durchzieht und uns von einer Seite zur anderen gehen läßt - niemals aber ein individuelles Exil, eine persönliche Wüste, vielmehr kollektives Exil, kollektive Wüste." (Deleuze 1977, S. 489)

Verenden wir nicht in der Wüste, wenn wir Bewusstsein und Libido trennen? Es gibt starre Mythen, die sich gezielt verweigern, Veränderungen anzunehmen. Diese nehmen uns auf eine Irrfahrt mit, während allmählich über uns die Decke einzustürzen beginnt. Der Gegenentwurf hier ist ein flexibler Mythos. Das Spiel will hier das Szenario eines sechsten Massenaussterbens modellieren. Das Mystische gibt der Konfrontation mit dem absoluten Fremden eine erfahrbare Gestalt. Sehen wir den Strand kommen oder sind wir, wie die Wale, dazu verdammt aufzulaufen, in der Sonne zu grillen und unter unserem eigenen Körpergewicht zu ersticken? Wir nehmen an, dass wir die Kontrolle über unsere Leben besitzen. Wir nehmen an, dass wir die Musterkinder des Universums sind. Alles um uns herum ist vermeintlich gewöhnlich, vorhersehbar, planbar. Gleichzeitig sind wir es, die dann doch irgendwo glauben, anders zu sein. Zwar hängen wir, mit Weisheit ausgestattet vom Leuchtturm des 21. Jahrhunderts, am Zipfel eines wissenschaftlichen Determinismus und glauben dann doch, dass Entscheidungen in Politik und Wirtschaft frei, ungezwungen und ungeachtet ihrer Ausgangsbedingungen stattfinden können. Es wäre besser, die Frage anders zu formulieren: Können wir uns einreden, dass der Strand nicht existiert, während das Wasser um uns flacher wird? Segeln wir in die Freiheit oder die Schiffbrüchigkeit? Was weder die RomantikerInnen noch die ZynikerInnen verstehen ist, dass dies nicht das Massenaussterben ist, sondern Massenaussterben Nummer Sechs. Strände gibt es genug. Die Kunst kann ihnen Gestalt verleihen, bevor wir auflaufen müssen. Doch wie etwas Unvorherrsehbares darstellen? Jene Ereignisse, für die Nassim Nicholas Tayeb im Anschluss an Karl Popper den Begriff Black Swan Event prägte, machen im Voraus selten wirklich gar nicht auf sich aufmerksam. In einer materiellen Welt müssen die Maschinen erst in Gang gesetzt werden, bevor sich ihr Wirken (im Fortschritt, Rückschritt, Auffahrunfall) manifestieren kann. Libido, Numen, Voluptas. Das zeigt sich daran, dass wir in Retrospektive sehr genau verfolgen können, wie das Ereignis zustande gekommen ist. Vielleicht brauchen wir die Imagination des Wunsches, die Vorstellung von der Wüste, um die Untiefen zu umschiffen, über die das Universum schweigt. Mythen regen die Imagination an, können uns aber auch in die Irre führen, weswegen eine gewisse Rückkopplung an die Realitäten der Libidoströme notwendig ist. Man muss sie im Auge behalten, auch wenn sie nicht sichtbar sind:

"Jedes 'Objekt' setzt die Beständigkeit eines Stroms voraus, jeder Strom die Fragmentierung des Objekts. Ohne Zweifel interpretiert jede Organmaschine die umfassende Wirklichkeit entsprechend ihrem eigenen Strom, das heißt entsprechend der ihr entströmenden Energie: das Auge deutet alles in Kategorien des Sehens - das Sprechen, das Hören, das Scheißen, das Ficken... Aber immer stellt sich die Verbindung zwischen zwei Maschinen her, innerhalb einer Transversale, in der die erste den Strom der anderen abtrennt oder ihren eigenen Strom von dieser abtrennen 'sieht'." (Deleuze 1977, S. 12)

Erst im Erkennen von Abhängigkeiten kann wahre Freiheit entstehen. Alles andere ist eine Imagination von Freiheit: Wüste. Hort der Untoten, die von Unsterblichkeit träumen. Hier liegt der Unterschied zwischen Homo Ludens und Homo Demens. Der eine spielt mit der Möglichkeit der unbekannten Variablen. Der andere weicht in die Idee eines vermeintlich etablierten Repräsentationsfeldes zurück. In Death Stranding ist die Katastrophe mystischer Natur, kann jedoch allegorisch gelesen werden, was es wiederum für eine Analyse verwertbar macht. In der Kunst geht es darum, sollte es darum gehen, eine (metaphorische) Sprache für das zu finden, was noch keinen oder einen nur unzureichenden Einlass in die Sprache gefunden hat. Der Sozialwissenschaftler Karl Mannheim wich dem Starrsinn des marxistischen Ideologiebegriffs als falsches (Klassen-)Bewusstsein aus, indem er Ideologie mit einer impliziten Wissensstruktur (und nicht mehr mit einem Komplott) gleichsetzte. Dieses Wissen kann fehlerhaft sein, die Aktualität verlieren oder aktiv manipuliert werden, ohne dass sich diese Manipulation durch eine Rückbesinnung auf die Produktionsverhältnisse erschließen muss. Unser Erkennen kann Teil einer Simulation sein. Das Sehen ist immer begleitet von einer Seh- und Interpretations-, also auch einer Gewohnheitspraxis:

„Falsch ist in der seelischen Selbstauslegung ein Bewußtsein, wenn es durch die eingelebten Sinngebungen (Lebensformen, Erlebnisformen, Auffassung von Welt und Menschtum) neuartiges seelisches Reagieren und neues Menschwerden überhaupt verdeckt und verhindert. Falsch ist ein theoretisches Bewußtsein, wenn es in der ‚weltlichen‘ Lebensorientierung in Kategorien denkt, denen entsprechend man sich auf der gegebenen Seinsstufe konsequent gar nicht zurechtfinden könnte.“ (Ideologie und Utopie, S. 84)

Als Platos Höhlengleichnis lässt sich auch eine Höhlenfalle ableiten. Das Reale existiert, aber die Manipulation des Realen als Simulation legt sich immer, auch dem vermeintlich Erleuchteten, über das Wirkliche. Daher braucht es mehr als Wahrheit, um im Sonnenlicht zu bestehen. Die Wissenschaft weiß das. Eine Hermeneutik darf sich nicht übereifrig an das neue Offensichtliche hängen. Wie der Kurzsichtige muss der Hermeneutiker seine Brille regelmäßig durch kritisches Denken erneuern, um mit der Geschichte auch weiterhin Schritt halten zu können. Wo das Unvorhersehbare im Schatten bleibt, fühlt sich die Zeit unendlich langsam an. Wenn der Regen fällt und der Schleier der unzureichenden Repräsentation hinfortgespült wird, fängt die Geschichte plötzlich an zu rasen. Was heute selbstverständlich war, ist morgen plötzlich obsolet. Die unsichtbaren Monster greifen im Schutz der Wolken auch ohne Augen mit Händen nach uns. Man muss schon sehr blind oder naiv sein, um unter diesen Vorzeichen, weiterhin auf eine alte Sprache und bewährte Bilder zu vertrauen.

Die Repräsentationspolitik, die uns Jahrzehnte lang in einen unbekümmerten Schlaf zu versetzen wusste, flackert seit 2016 in grotesken Störbildern vor unseren Augen auf. Trump ist ein Koloss der flimmernden Bilder, der in der Camouflage der Ironie aus dem Internet auf uns zugerollt kam. Unvorhersehbar nur, weil wir den Blick abgewandt haben. Die Reaktionären bewaffneten sich mit der repräsentativen Symbolpolitik, die das Versagen westlicher Regierungen Jahrzehnte lang überspielten. Die neue Rechte münzte das Spiel mit Bildern um in eine transgressive Politik, die austeilte, aber kaum Angriffsfläche mehr bot. Aus Fakten wurden alternative facts. Aus Nazis wurden Trolle und Trolle wurden Nazis. Dieser neuen Form von Politik gelang es, dem Gegner all seine Lücken in der Wahrnehmung vorzuwerfen, ohne sich selbst je auf repräsentative Eindeutigkeit festlegen zu müssen. Das längst Totgeglaubte quoll mit widerlichen Gerüchen aus dem tiefen Meer und war nur als untoter Kadaver für alle sichtbar. Noch ein viel gefährlicherer Strand liegt mit dem Klimawandel, noch vom Nebel verborgen, am Horizont. Es hilft nicht, die Gesellschaft mit Nostalgie in eine Zeit vor dem Ereignis zurückzuwünschen. Es hilft auch nicht mit einem süffisanten Lächeln zurückzublicken und die alte Kamelle „Jedes Ereignis ist historisch einzigartig“ in die Kameras zu halten. Libido fließt zu allen Zeiten unter die untoten Banner der Wünsche und verfängt sich so in der Fiktion, obwohl sie nur wachsen kann und deswegen letztendlich alle Gefängnisse sprengen wird. Was ist Geschichte in diesem Kontext anderes als das gefundene Fressen für Kannibalen? Kunst kann hier eine von Konventionen befreite Spielwiese sein, die Stimmen der Gegenwart richtig einzuordnen und in die Zukunft zu projizieren weiß. Ein Seismograf, der die Libido in ihren Schwingungen kartiert.



Auf einer der ersten Missionen von Death Stranding wird Norman Reedus zur scheidenden Präsidentin gerufen, die, symbolisch signifikant, an Schläuchen hängt, von denen sie heruntergerissen wird. Die Figur sieht Hillary Clinton zumindest verblüffend ähnlich. Der Tod holt einen untoten Liberalismus ein. Um das zu vertuschen, soll die Hoffnung in einer jüngeren Vision weiterleben. Doch Kojima lässt auch hier keine Zweifel, dass der Tod die Oberhand behalten wird. Die sterbende Präsidentin ist Norman Reedus‘ Mutter, die neue Präsidentin seine Schwester. Beide sind auf ihre jeweilige Art und Weise Agentinnen des Todes. Der Protagonist Sam Porter Bridges ist eigentlich verwandt mit diesen Frauen. Man sollte meinen, dass er ein anderes Leben führt. Stattdessen wirkt er doch sehr wie ein Stellvertreter für die Arbeiterschaft und das Kleinbürgertum, die sich von Freihandelsabkommen verraten sahen und deswegen nun in die Einsamkeit und Isolation flüchten, Berührungsängste zeigen und ihre Enttäuschung den Agentinnen des Todes ihre berechtigte Skepsis offen in das holografische Gesicht werfen. Als Sohn der Freiheit, sollte ihm die Zukunft Freiheit bringen. Doch der von Reedus verkörperte Sam Porter Bridges lebt in einer Welt, die jeden seiner Schritte dokumentiert und aufzeichnet. Das Innen ist ihm ein Gefängnis, das Außen eine Bedrohung. Nicht einmal in der Dusche verschonen in die Lautsprecheranrufe seiner Vorgesetzten. Als Nomade ist er stets gezwungen, in Bewegung zu bleiben und kommt doch nie vom Fleck. Statt sich wie die anderen Charaktere per Hologramm von Ort zu Ort zu beamen, wird von ihm erwartet, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Und doch erzählen ihm alle, wie besonders und einzigartig er doch ist, weil er nicht sterben kann. Klingeln die Totenglocken bereits oder müssen wir erst wieder online gehen?

Das Stranding in Death Stranding hat, wie Kojima auch in Interviews bestätigte, eine doppelte Bedeutung. Zum einen lässt es sich als das Verb Stranden übersetzen, andererseits kann es im Englischen (strand) auch als Strang, Faden oder Schnur gedeutet werden. Norman Reedus soll ein zusammengebrochenes Netzwerk wieder zum Laufen bringen. Generell ist Verbindung ein wichtiges Motiv, das immer wieder auftaucht: Wesen auf dem Strand der Toten sind miteinander verkabelt. Die Babys in ihren Tanks hängen an künstlichen Nabelschnüren, die es den Portern erlaubt, eine Verbindung mit den Kindern einzugehen, um die unsichtbaren Geister zu sehen und Erfahrungen auszutauschen. Wir dürfen nicht schweigen, denn eine Verbindung zu reparieren ist eine schweißtreibende Arbeit, was ein Grund sein mag, warum sich das Gameplay oft zieht. Verbindungsstellen zu schaffen, ist schwierig, wenn sie zuvor gewaltsam aufgetrennt worden sind und ihre Existenz weiterhin geleugnet wird. Wir müssen über Ursachen sprechen, denn wie im Regenfall, der die Zeit in der Spielwelt beschleunigt und die Geisterwesen ankündigt, rast der Klimawandel aus der Zukunft auf uns zu, um die Menschheit in die Nähe eines echten Massenaussterbens zu bringen.

In diesem Kontext wirkt die hyperrealistische Grafik mit der kinohaften Inszenierung bis zum Casting namhafter SchauspielerInnen beinahe absurd, weil überflüssig. Warum Toilettengänge animieren? Warum das Tragen und Positionieren von Kisten, ein Akt, der in den meisten Computerspielen automatisiert wird, so unglaublich komplex ausgestalten? Warum diese ewig langen Belohnungsbildschirme, auf denen kaum nachzuvollziehende Punkte und Noten vergeben werden? An manchen Stellen wirkt das Spiel wie eine Parodie der Industrie, die es hervorgebracht hat; nur, dass es uns die Katharsis verweigert. Stattdessen lässt er uns durch eine metaphorisch verdichtete Version unserer Gegenwarts- und Zukunftsängste wandeln. Man kann die stoisch-zurückgezogenen Haltung von Norman Reedus‘ Charakter nachfühlen. Er ist ein Bauer, erst nach dem Tod würde er ich sich in eine Naturgewalt transformieren und damit doch gleichzeitig eine Gefahr für seine Mitmenschen sein. In der Wildnis ist Sam Porter Bridges all den Gefahren ausgeliefert, denen seine AuftraggeberInnen nie begegnen werden. Doch sind sie auch von Norman Reedus abhängig, der ihnen die Terminals, Kraftwerke und Stationen erst an das Netzwerk anschließen muss. Nur die produktive Macht der Hände kann den virtuellen Raum erhalten, der die Menschheit zusammenhält. Keine Reden, keine Maschinen, keine Versprechungen. Doch erhält Bridges zur Belohnung nur einen Taschencomputer, der buchstäblich aus Handschellen besteht. Hier hält uns Kojima den ultimativen Spiegel unserer Existenz im 21. Jahrhundert vor. Eine Simulation ist keine Fälschung. Im Gegenteil: Die Simulation verbirgt sich oft in Dingen, die wir für realer als das Reale halten:

„Disneyland is a perfect model of all the entangled orders of simulacra. It is first of all a play of illusions and phantasms: the Pirates, the Frontier, the Future World, etc. This imaginary world is supposed to ensure the success of the operation. But what attracts the crowds the most is without doubt the social microcosm, the religious, miniaturized pleasure of real America, of its constraints and joys. One parks outside and stands in line inside, one is altogether abandoned at the exit.“ (Baudrillard 1994, S. 12)

Platos Höhlengleichnis existierte unter PhilosophInnen, um zu verbergen, dass die Höhle mit ihren Schattenbildern omnipräsent ist. Es spielt keine Rolle, ob es sich bei der Lichtquelle um ein von Menschen gemachtes Feuer oder die Sonne handelt. Die Simulation ist bereits Teil der Realität, indem sie Repräsentationen am Bewusstsein vorbei in die Natur geschleust hat. Von der Gedankenwelt der Simulation ausgehend gilt der Hyperrealismus als eine Tugend. Ein Simulakrum, also eine Kopie ohne Original entsteht dann, wenn es ein Zeichen ohne Referent, das eigentlich nur der Repräsentationsebene zuzuordnen ist (Götter, Ideologie, Vorurteile etc.) zwischen die Zeichen mit Bezug zu real erfahrbaren Referenten schafft (Haus, Katze, Baum, ökonomische Besitzverhältnisse) und somit fälschlicher Weise als natürlich fixiert wahrgenommen wird. Die Schatten müssen im Hyperrealismus wegrationalisiert werden, um in der Optimierung die wahre Welt dem Zweifel, aber eben nicht notwendiger Weise der Lüge (der Erzählung, dem Fehlurteil etc.) zu entziehen. Was in der hyperrealen Simulation präsentiert wird, muss nicht besser, nur glaubhafter sein. Anders als Baudrillard meint, ist das Prinzip Simulation nicht neu. Durch die Omnipräsenz der Kommunikationsmedien macht die Mechanismen der Simulation auch so intensiv erfahrbar wie nie zuvor in der menschlichen Geschichte. Es ist kein Zufall, dass die Philosophie etwa in Gestalt von Baudrillard die virtuellen Scheinelemente in Wechselwirkung mit der Realität im Informationszeitalter bewusst aufnimmt. Die ganze Medienwelt im 21. Jahrhundert existiert, um zu destillieren und zu kondensieren. Das sollte man nicht missverstehen: Simulationen sind keine Diktaturen. Sie erlauben Dissens. Nur fließt dieser in vorgefertigte Boxen. Es gibt keine Verschwörung der Kontrolle, lediglich das Herausfiltern von Unsicherheiten, Ambivalenzen und Zwischenräumen. Die Realität wird zu Bausteinen gepresst, was vermutlich auf eine viel tiefergehende, bereits vormoderne Eigenschaft des menschlichen Wahrnehmungsapparats zurückzuführen ist. Der amerikanische YouTuber Peter Coffin schuf hier den Begriff Custom Reality, eine radikalisierte Synthese von Guy Debords Spektakel- und Pierre Bourdieus Habituskonzepten, um die Selbstbestätigungskreisläufe von Medienalgorithmen zu beschreiben.

Nicht nur Social Media ist von diesem Trend betroffen. Die meisten Computerspiele, zumindest der großen Hersteller, sind Freizeitparks. Sie sind Kopien ohne Originale, nicht daran interessiert etwas zu erkunden, dass sich nicht in einem Unterhaltung-Liveservice-Index bemessen lässt. Doch handelt es sich ohne Zweifel um Illusionen, in die sich Millionen Menschen tagtäglich zurückziehen. Das Reale, sofern es noch existiert (Baudrillard hat da seine Zweifel), ist demgegenüber doch schrecklich banal. Dabei birgt die virtuelle Realität doch zumindest das Potenzial einen Mikrokosmos der gesellschaftlichen Fiktion nicht nur abzubilden, sondern auch zu hinterfragen. (Gesellschaftliche) Geschichten verknüpfen Begebenheiten, schaffen aus heterogenen Dingen neue Strukturen oder reparieren Alteingesessenes. Weltanschauungen sind überaus dehnbare Dinge, doch werden sie von den meisten Menschen als starr und unbeweglich wahrgenommen. Die Libido wirft sich mit dem Wunsch und, ist der Wunsch ausgereizt, lässt sie in der Wüste zurück, die immer schon dort war: Die Wüste des Realen. Es gab keine Wahl. Irgendwann war da ein Strand … Computerfreizeitparks versuchen abzulenken, indem sie die erwartete (nicht die wirkliche) Realität herstellen. „Du bist so einzigartig“ steht in Verbindung mit „Keep Politics out of it“, weil der untote Wunsch erhalten werden will. Ein Bruch der Illusion käme einem Eingeständnis der Unmöglichkeit des Untodes gleich. Die Libido entlädt sich und die Wüste breitet sich aus. Der Spieler sucht Bestätigung, dann nochmal, nochmal… Doch bieten sich im Schein der Parallelwelt nicht auch die Möglichkeit an, die Simulation als Gedankengefängnis in der Simulation zu überwinden? Kann es ein Spiel geben, dass die Wesensgleichheit von Untod und Simulation zur Schau stellt?

Der Hyperrealismus ist eine Sprache, mit der eine Fiktion der Wirklichkeit soweit nachempfunden wird, dass sie sich möglichst nahtlos in diese einfügt. Deswegen ähneln sich die religiöse Ikonografie des Mittelalters, die artige Kunst unter den Faschisten und der sozialistische Realismus der orthodox-marxistischen Diktaturen so sehr. Sie alle verpacken das Imaginäre im Realismus. In der neoliberalen Einöde wird die Bebilderung blühender Landschaften eingehegt in die Alternativlosigkeit der herrschenden Ideologie. Bilder dieser Art verstehen sich als rhetorisch und beinhalten doch einen Eingriff in das Reale, das chirurgisch zur Schimäre umgestaltet wird. So soll die Kirche/die eigene Rasse/die Revolutionsführer/das Kapital in ihrem latent formulierten Anspruch manifest werden. Es ist eine Form der Wirklichkeitskontrolle. Ich stelle dem Hyperrealismus den Begriff der Hyperabstraktion gegenüber. Das Hyperreale ist ein Simulakrum (eine Kopie ohne Original), das Nachbildungen so sehr liebt, dass es sie optimieren und ausschmücken will. So wird aus einem Lichtkreis ein Gotteszeichen und aus einer Ikone ein Gott und bildet im Spiegelbild eine Zeichensprache für das Göttliche und den Gott, die mit den eigentlichen Fiktionen angereichert ist. So stellt sich das Hyperreale als etwas dar, was es immer schon gegeben haben muss, und installiert einen Anlass dazu, etwas zu erhalten, was es zuvor nicht gegeben hat. Konservative bauen ganze politische Karrieren mit diesem Betrug an der Wahrnehmung auf. Das Verständnis wird im Realismus durch die Aussparung des Unglaubens dem Denken vorgeschaltet und automatisiert. Der Witz ist, dass man dann selbst in der Verneinung dem Fiktiven nicht mehr entkommen kann, spricht man doch aus der Erinnerung heraus bereits die Sprache der Herrschenden und kann somit nur ein Bild attackieren, das es in dieser Konstellation nie gegeben hat. So gelangt auch die Idee durch alle Barrieren, ungefragt. Unhintergehbar als Teil natürlicher Gegebenheiten erzwingt es das Schweigen in allen wichtigen Dingen. Frei nach Nietzsche: Der befreite Sklave fügt sich in die Sklavenmoral, die dem Herrn immer genehm war.

Es ist die radikale Kunst, die diesem Wirken einen Gegenpol entgegensetzen kann. Die Hyperabstraktion, in meinem Verständnis zumindest, versucht aus dem Scheitern der Avantgarde-Bewegungen des 20. Jahrhunderts zu lernen, indem es zurückgreift auf die Mechanismen der Mythen in den Diensten der Unterwanderung der hyperrealen Simulation. Es macht das Unmittelbare unlesbar, ohne jedoch die Kategoriereflexe der menschlichen Wahrnehmung vollständig zu verwerfen (und so zu bloßer Dekoration zu verkommen, wie es so vielen Künstlern der alten Avantgarde geschah). Gleichzeitig hinterlässt uns das Hyperabstrakte Türen und Schlüssel im Text, um das Gesehene auf einer zweiten Ebene so offensichtlich wie möglich zu machen. Damit soll die Existenz mehrerer Deutungsebenen von Zeichen auch für jene normalisiert werden, denen eine wache Sicht im Realismus genommen wurde. Death Stranding „verschwendet“ die hyperreale Grafik absichtlich, um die Simulation als Prinzip zu banalisieren und so den Blick auf das Wichtige (Ungeformte) zu schärfen. Die Semiotik, auf Saussure zurückgehend, unterteilte das Zeichen in einen (sprachlichen, visuellen) Bezeichner (Signifikant), der auf ein mentales Sprachbild des Bezeichneten (Signifikat) verweist. Bleibt man bei diesen Begriffen zielt die alte Avantgarde auf eine Befreiung durch die Zerstörung des Signifikanten in seiner Beziehung zu einem Signifikat. Aber ist das Zeichen nicht mit Bedeutung beladen, wird die Beziehung zwischen Signifikanten und Signifikat beliebig und definiert sich nun mehr durch ihren Kontext etwa als Luxusgut oder Museumsstück. Sie ist nicht revolutionäre, weil sie Millionenbeträge erzielt. Der Käufer fühlt sich nicht hintergangen, denn der historische Moment lässt ihn glauben, den Witz verstanden zu haben. Die Entwicklung der modernen Kunst von revolutionärer Ästhetik zu einem handzahmen Produkt sollte uns lehren, dass sich der Signifikant eben nicht zerstören lässt, sondern abhängig von der Nutzung ein neues Signifikat erhält. Eine Veränderung in der Wahrnehmung lässt sich nur erreichen, wenn die Signifikate in ihrer Position im Raum der Signifikanten verschoben und manipuliert werden. Diese Zeilen sollen Avantgardekunst nicht schlechtreden. Nur ist es mittlerweile evident, dass sie sich mit jedem radikalen Schritt in einer Kreisbewegung an derselben Position haltmacht, die über Jahrhunderte dem Realismus vorbehalten war: Die dekorative Selbstbeweihräucherung einer kulturellen Hegemonie (in diesem Fall des modernen Konsumkapitalismus). Einen neuen Menschen erschuf sie nicht, sondern gestaltete lediglich den Tapetenwechsel der neuen Ordnung mit. Die Hyperabstraktion hingegen ist retrofuturistisch in dem Sinne, dass sie sich an den Epochen bedient, in der die Kunst das Bewusstsein noch auf einer tieferen Ebene als der  der Unterhaltung oder des ästhetischen Empfindens zu beeinflussen wusste. Sie immunisiert sich gegen falsche Nostalgie, indem sie unverblümt das Unbekannte und Fremde zwischen den etablierten Zeichen hervorbrechen lässt.

Ist Kojimas Death Stranding nun ein hyperabstraktes Werk? Einiges spricht dafür. Einiges (nicht zuletzt Kojimas Ego) auch dagegen. Andererseits sind Computerspiele generell prädestiniert für diese Form der Kommunikation. Während Norman Reedus in seiner Dystopie das zentrale Netzwerk wiederherzustellen versucht, verknüpfen wir in unserem Kopf die Punkte eines metaphorischen Unterbaus mit dem Weltgeschehen. Vielleicht werden HistorikerInnen im 22. Jahrhundert auf diese Zeit zurückblicken und im Aufkommen der virtuellen Simulation einen ähnlichen Katalysator für tiefgreifende kulturelle Veränderungen erkennen, wie zum Umbruch vom 19. zum 20. Jahrhundert die Kamera und der Film das Kunstwerk in das Zeitalter seiner mechanischen Reproduzierbarkeit warf. Es ist nicht so, dass die subversiven Kräfte digitaler Räume, nicht bereits genutzt würden. Sie werden aber hauptsächlich von reaktionären Kräften instrumentalisiert, um einen untoten Faschismus hip erscheinen zu lassen, während die progressiven Kräfte Politik immer noch viel zu analog denken. Wollen wir das 21. Jahrhundert als Akteure und nicht bloß als Anhängsel einer hegemonialen Simulation mitgestalten, müssen wir den Homo Ludens für uns beanspruchen und dem Homo Demens gegenüberstellen. Eine solche Kunst fordert aktive Hirnarbeit ein und stellt sie nicht nur zur Schau. Zumindest solange wir offensichtliches Product Placement ignorieren können. Nobody is perfect.
Death Stranding ist eine Ankündigung. Etwas muss kommen. Etwas wird kommen…

Literatur:
Baudrillard, J. (1994). Simulacra and Simulation. Translated by Sheila Faria Glaser. Ann Arbor: University of Michigan Press.
Benjamin, W. (1991). Walter Benjamin. Gesammelte Schiften I, 2. Herausgegeben von Rolf Tiefemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Coffin, P. (2018). Custom Reality and you. Wroclaw: Amazon Fullfillment.
Deleuze, G.–Guattari, F. (1987). A Thousand Plateaus. Capitalism and Schizophrenia. translation and foreword by Brian Massumi. Minneapolis: University of Minnesota Press.
Deleuze, G.–Guattari, F. (1974). Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Übersetzt von Bernd Schwibs. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Frushtick, R. (Polygon). Death Stranding review: Hideo Kojima tries to make fetch happen. Im Internet unter: https://www.polygon.com/reviews/2019/11/1/20942070/death-stranding-review-hideo-kojima-ps4 (18.11.2019)
Gault, M. (Vice). Kojima Blames ‘Tougher Critiques’ of ‘Death Stranding’ on American Love of Shooters. Im Internet unter: https://www.vice.com/en_us/article/a35p7k/kojima-blames-tougher-critiques-of-death-stranding-on-american-love-of-shooters (18.11.2019)
Mannheim, K. (2015). Ideologie und Utopie. In: J. Kaube (Hrsg.), Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. Mit einer Einleitung von Jürgen Kaube. 9., um eine Einleitung erweiterte Auflage. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann.
May, T. (2005). Gilles Deleuze. An introduction. Cambridge: Cambridge University Press.
Nagle, A. (2017). Kill All Normies. Winchester/Washington: Zero Books.
Nietzsche, F. (2012). Gesammelte Werke. Köln: Anaconda Verlag.

Video-Essays:

(YouTube) Jim Sterling. Death Stranding - Made for Walking (Jimpressions). Im Internet unter: https://www.youtube.com/watch?v=2Hy87yKfXn0 (18.11.2019).






________________________________________________________________________________

LeO Tiresias

Phasmate Nova – Politik und Kultur

Für Fragen, Kooperationen und Anregungen, schreibe mir eine E-Mail unter leotiresias@gmail.com oder besuche mich auf meinen Social-Media-Seiten!

Comments