Die Lücke der grausamen Wunder - Solaris und posthumane Science-Fiction
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Wie
steht es um die Beziehung zwischen Zukunft und Vergangenheit in einer
posthumanistischen Gesellschaft? Zu oft wurden wir schon von unseren eigenen
Erwartungen hintergangen. Eine Zukunft, die vertraut wirkt, schafft zwar Erleichterung,
aber sie zieht auch allzu oft, fernab der logischen Reflektion, den Komfort des
Moments einer realistischen Einschätzung der historischen Entwicklungen vor.
Entweder: Der Kollaps der Zivilisation kann
nicht stattfinden, bevor es Cyberpunk-Megacitys geben wird. Oder: Der Kollaps steht vor der Tür und unser
Badass-Survival-Team wird mit der aktuellen Generation des IPod am Ohr und Retrobubblegum
im Mundwinkel auf Zombiejagd gehen. Die Zukunft ist aber die Art von
Partygast, die sich stumm von hinten anschleicht, wenn in der Gruppe gerade über
ihn oder sie gelästert wird, und dann einfach da ist. Das Ergebnis: Peinlich
berührtes Schweigen bei T - 0. Die Frage, was die Zukunft uns zu erzählen hat,
hängt eng mit der Frage zusammen, wer sich diese Zukunft vorstellt. Während die
erste Frage, von den Orakeln der Antike zu den TranshumanistInnen von heute,
die Menschheit stets fasziniert hat, stehen wir doch erst am Anfang zu
verstehen, was die zweite Frage für uns eigentlich bedeutet.
Die
Science-Fiction, die sich seit ihrer (offiziellen)
Geburt im 19. Jahrhundert als Vorhut der Wissenschaft versteht, existiert seit
geraumer Zeit in einem Spannungsfeld zwischen dem Unbekannten und dem
Vertrauten. Doch wie viel »Vertrauen« auf uns selbst können wir als Spezies
tatsächlich unter Quarantäne stellen? Wie sehr manipuliert der Konsens Homo
Sapiens das Denken in einer vermeintlich objektiven Wissenschaft und ihrem
wahrsagerischen Außenposten in der Science-Fiction-Popkultur? »Solaris« ist
besonders, weil sich der polnische Schriftsteller Stanislaw Lem diese Fragen
bereits 1961, vor dem Mainstreaming
der posthumanistischen Wende, auf eine sehr klare und zugängliche Weise stellt.
Der Roman steht außerdem für eine Art der Resignation vor dem Unbekannten, die
gleichwohl neue Chancen birgt, denn unsere Zukunftsvisionen handeln nie von der
Zukunft, sondern stets von der Gegenwart.
Der
Inhalt ist schnell zusammengefasst: Der Psychologe Kris Kelvin wird auf die
internationale Forschungsstation geschickt, die den seltsamen Ozean des
Planeten Solaris untersuchen soll. Entgegen aller Intuition und wider die
Naturgesetze scheint er ein Bewusstsein entwickelt zu haben, das aber keinem
irdischen Äquivalent ähnelt. Als Kelvin andockt, findet er eine verstörte
Besatzung vor. Der ehemalige Leiter der Station Gibarian hat sich umgebracht,
während sich Sartorius in seinem Labor verschanzt und niemandem mehr freiwillig
entgegentritt. Lediglich Snaut empfängt Kelvin, wirkt jedoch vom ersten Moment
an äußerst verwirrt. Kelvin erfährt auch bald darauf, warum sich seine neuen
Kollegen so seltsam verhalten. Nach einem gescheiterten Experiment an der
Ozeanoberfläche wird die Crew von »Gästen« heimgesucht, die ihr tiefstes
Inneres ans Tageslicht bringen. Kelvin wird von der fleischgewordenen
Erinnerung an seine verstorbene Frau Harey heimgesucht, für deren Selbstmord er
sich schuldig fühlt.
Es
mangelte nie an Deutungen für die »Solaris«, mit denen der Autor Stanislaw Lem
nicht zufrieden war. Da waren die Filmadaptionen, die versuchten die
Philosophie des Romans an persönliche Traumata und Erinnerungsbewältigung zu koppeln
und den fremdartigen Ozean mehr oder weniger außer Acht ließen; nicht, dass die
Interpretationen, die sich den Ozean vornahmen, besser waren. Von
psychoanalytischer Krisenbewältigung, die sich auf eine missverständliche
Übersetzung berief, bis zu einer Abrechnung mit der gescheiterten Utopie der Sowjetunion
meinten KritikerInnen in der »Solaris« alles wiederzuerkennen und verfehlten
dabei das eigentliche Ziel. Zumindest meiner Ansicht nach geht es um wesentlich
grundlegendere Fragen. Begehen wir nicht dieselben Fehler wie die Solaristen,
wenn wir ein bodenloses Loch mit allerhand akademischen Wortklaubereien zu stopfen
versuchen? Interpretiert man den Roman »Solaris«, verhält man sich anscheinend wie
die WissenschaftlerInnen, die sich ihrem Planeten Solaris widmen und ganze Bibliotheken füllen, ohne irgendeine
zufriedenstellende Antwort auf ihr Verlangen nach Verständnis zu finden.
Der
Ozean steht für nicht mehr als das, was beschrieben wird: Eine amorphe, vielleicht
nicht undefinierbare, dafür aber undurchdringliche Masse, die sich schon in
Form und Verhalten unserem Verständnis entzieht. Legen wir aus unserer
Erfahrung bzw. Bildung heraus eine transzendente Linie in das Unbekannte, ist
sie unser eigenes Erzeugnis nicht die Bedeutung des Ozeans. Realpolitische
Ereignisse, persönliche Schicksale oder Ödipus werden nur als vorgefertigte
Grenzen im Ozean platziert. Sie müssen nicht die eigentlichen Grenzen
erreichen. Künstliche Mauern der Kognition können uns aussperren, bevor wir
überhaupt in die Nähe der interessanten Fragen gelangen können. Eine immanente
Interpretation ist notwendig, weil »Solaris« eben keine Kunst des historischen
Moments ist, sondern eine philosophische Studie über die Ortsgebundenheit der
Wahrnehmung in Zeit und Raum. Es geht nicht um eine Ozeanmetapher der Solaris,
die für irgendetwas steht, sondern um
die Wissenschaftler, die (unbeholfen und voreingenommen) mit diesem »für« umgehen. So verdeutlichen all die
weithergeholten Interpretationen doch vor allem, dass das Problem, für das sich
der Roman interessiert, eine zeitlose Frage ist, auf die der Mensch im Mythos eine Antwort sucht. Wie begegnet
der Mensch dem Fremdartigen? Wo liegt die Grenze zwischen dem, was wir da
draußen erwarten und was uns da draußen erwartet? Was trägt er oder sie vom
Eigenen in das Fremde hinein und wie kann sich das Fremde trotzdem (bzw. gerade
deswegen) einem Kontakt entziehen? Das Orakel ist eine Science-Fiction und Science-Fiction ist ein Orakel.
»Solaris«
spart nicht gerade an Kritik an der Selbstbeweihräucherung einer (vermeintlich)
objektiven Naturwissenschaft, die so viele FuturistInnen in der Science-Fiction
bestätigt sehen wollen. Allen Innovationen, ob geistig, politisch,
technologisch oder explorativ, liegt zunächst das menschliche Hirn zugrunde. Dass
uns neue Technologien nach Utopia oder in den Untergang führen werden, sagt
noch nichts darüber aus, wie sie eigentlich ersonnen werden. Vielleicht sollten
wir uns, bevor es an den Roman geht, zunächst einer anderen Frage stellen:
Wofür steht das Science in Science-Fiction?
Wir
können natürlich behaupten, dass sich Science-Fiction überwiegend für die
Zukunft und vorwärtsgewandtes Denken interessiert, doch diese Herangehensweise an
das Genre muss sich gegen eine ganze Armada an rosaroten Brillen durchsetzen. Genre hat eine Bedeutung, aber diese
Bedeutung ist im vorwissenschaftlichen Raum anzusiedeln: Marktinteressen,
Konsumidentitäten, Techno-Optimismus oder -Pessimismus. Es steckt ein Kern
Wahrheit in der Markenidentität Science
in Science-Fiction. Als Gegner im
Genrekampf wird deswegen häufig die Fantasy, mit ihrem Archetyp in J. R.
R. Tolkiens Herr der Ringe, als
Gegenpol gesetzt. Im Gegensatz zur Science-Fiction
ist Fantasy rückwärtsgewandt,
nostalgisch, mythisch, emotional und an Geschichte interessiert. Aber ist SF Science-Fiction, weil sie intelligente
Fragen stellt oder weil man an Bord der Enterprise mit Spock durchs Weltall schiffen
kann und auf der Kreuzfahrt vom Roboterbutler einen pangalaktischen
Donnergurgler serviert bekommt? Suchen
wir nach wirklich Neuem oder lesen wir Science-Fiction, weil wir uns in einer
Version der Zukunft bestätigt sehen wollen?
Das Zeitalter der Mythen haben wir
überwunden, ganz sicher!
Von wegen: Die Science-Fiction ist
selbst ein Mythengebilde, das seine Legitimation lediglich darin begründet,
kein Mythos zu sein. Der Mythos ist
nicht vordefinierbar, er ist das Betriebssystem unseres Heimathafens. Der
Mythos kann dementsprechend auch nicht abgelehnt werden. Deswegen findet er
sich sowohl in der Science-Fiction
als auch in der Fantasy. Die »genreprägende«
Wortwahl in der Fantastik ermöglicht es nur allzu leicht aus einer ästhetischen
Opposition eine unzulässige Hierarchie zu modellieren: Hier die RationalistInnen,
da die RomantikerInnen. Das übersieht nicht nur, wie sehr sich die Fantasy seit
Tolkien weiterentwickelt hat, sondern überschätzt auch die Rationalität der Science-Fiction. Im 21. Jahrhundert
stehen wir nach einer über hundertjährigen Literaturgeschichte der SF vor einer
ganze Reihe von Zukunftsartefakten, für die Mark Fisher treffender Weise den
Begriff der Lost Future, der
verlorenen Zukunft, prägte. Die Zukunft wird wie eine Fernsehserie abgesetzt. All
dies bedeutet nicht, dass SF keinen Wert besitzt. Neue Technologien gestalten selbstverständlich
eine Gesellschaft erheblich mit, aber zuallererst bringen Gesellschaften aber Technologien
hervor (oder eben nicht). Dass intelligente Spekulation möglich ist, steht dabei
außer Frage. Vielmehr sollte sich die Science-Fiction von ihrem Boden der
Tatsachen verabschieden und keinen Alleinanspruch auf Rationalität in der Kunst
erheben. Mit den Fragen einer gegenwärtigen, das heißt verorteten, Gesellschaft
kann sich ein Schriftsteller oder eine Schriftstellerin unabhängig von der
Genrefrage mehr oder weniger ernsthaft auseinandersetzen.
Was
spricht gegen Science-Fantasy oder Science-Horror? Die Science-Fiction hat
hier, historisch betrachtet, sicherlich einen Vorsprung, aber sicherlich kein
Alleinstellungsmerkmal. Eine strikte Trennung der Genres ist nicht nur
unmöglich, sondern auf Basis impliziter Identitätszuschreibungen auch
ausschließend. So wird in der SF intern zwischen harter und softer
Science-Fiction mit der Intention unterschieden, naturwissenschaftlich-versierte
AutorInnen auf ein Podest mit Nudelsternchen zu heben. Schränkt eine solche
Differenzierung nicht das Potenzial eins Science-Storytellings ein? Es gibt
doch neben den Natur- beispielsweise auch Geisteswissenschaften, die in immersiven Welten Gedankenexperimente
entwerfen könnten. Diese ist nicht weniger kritisch, weil sie den überaus
rational herbeifantasierten Warpantrieb übergeht, um einen vermenschlichten
Kosmos in Frage zu stellen. Was für einen mechanisch-methodischen Unterschied
macht es, einen Fuß in eine Fantasiewelt oder auf einen Fantasieplaneten zu
setzen, wenn das soziokulturelle anstelle eines technischen Interesses
konsequent verfolgt wird? Ist Asimovs Foundation-Trilogie
auf Genrebasis wissenschaftlicher als George R. R. Martin A Song of Ice and Fire? Beide Beispiele tragen den klar erkennbaren
Fingerabdruck der historischen Wissenschaft ihrer Zeit vor völlig
unterschiedlichen Kulissen, wobei Martin, der Fantasy-Schriftsteller, hier
wesentlich vorsichtiger und selbstreflexiver mit der ambivalenten Natur
historischer Überlieferungen umgeht. Asimov ließ sich sehr unkritisch von Edward
Gibbons The History and Decline of the
Roman Empire inspirieren.
Der
Mythos des rationalen Denkens, das zwischen dem Magier oder Schamanen und
Philosophen oder Wissenschaftler eine klare Grenze zieht, beruht selbst auf dem
Mythos unbefleckbarer Logik, die sich nicht mehr selbst zu hinterfragen
braucht, weil sie bereits zu wissen meint, dass sie ihr eigener Ausgangspunkt
ist. Eine Dialektik der Aufklärung, die sich mit »Dialektik« eine eigene Grenze
geschaffen hat, wo keine Grenze existiert. Nicht mehr Gott ist Diktator über
das Wissen, sondern der »schicksalhafte« Materialismus. An der Abhängigkeit von
einer Transzendenz ändert sich da wenig. Lediglich die Tapete wechselte. Das
Besondere an dieser Perspektive ist nicht ihre Rationalität, sondern der
spezifische Weg der Rationalisierung, der damit das Potenzial ihres Scheiterns bereits
in sich trägt. Der Unterschied zwischen einer humanistischen und
posthumanistischen Science-Fiction liegt genau hier: In der Antizipation dieses
Scheiterns und damit einhergehend, in der Faszination weniger vom nächsten
Schritt in der menschlichen Entwicklung, sondern eher mit dem Heraufbeschwören ihrer
möglichen Irrwege. Der Anfang dieser Wende lässt sich gar nicht so leicht
festlegen, doch sie geht einher mit der Entwicklung einer neuen Kosmologie, die
mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet. H. P. Lovecraft war vermutlich der
erste Prophet einer posthumanen Zukunftskunst oder wie der Mitbegründer der Object Oriented Ontology Graham Harman
in seinem Buch Weird Realism
schreibt:
»If
we apply this distinction to imaginative writers, then H. P. Lovecraft is
clearly a productionist author. No other writer is so perplexed by the gap
between objects and the qualities they posess. Despite his apparently limited
interest in philosophy, Lovecraft as a tacit philosopher is violently
anti-idealist and anti-Humean. Indeed, there are times when Lovecraft echoes
cubist panting in a manner amounting almost to a parody of Hume. While Hume
thinks that objects are a simple amassing of familiar qualities, Lovecraft
resembles Braque, Picasso, and the philosopher Edmund Husserl by slicing an
object into vast crosssections of qualities, planes, or adumbrations, which
even when added up do not exhaust the reality of the object they compose.«
(Harman 2012, S. 3)
»Productionist«
bezieht sich in diesem Zusammenhang, auf Philosophen, die nicht von neuem
Wissen schwärmen, sondern davon fasziniert sind, die neuen Lücken in der Welt
bzw. unserer Beschreibung dieser Welt zu finden, zu besetzen und in der Kunst
zu inszenieren. Genre ist dabei auch nicht beschränkt auf Horror, wie Lovecraft
ihn aus seinem reaktionären Weltbild heraus erlebte, sondern kann auch wie im
Werk von Bataille, Nietzsche oder Deleuze der aktiven, progressiven
Transgression dienen. Die vorgefertigte, abgepackte Zukunft einer in der
Gegenwart gefesselten Gesellschaft, egal ob sie mystisch-religiös oder
materialistisch-wissenschaftlich ausstaffiert ist, muss im Dienst einer wirklich
produktiven Fremdheit erst vernichtet werden. Dann, wenn der Schleier der
Wahrnehmung gefallen ist, kann nüchtern über Bedenken und Chancen einer möglichen Zukunft geurteilt
werden. Das ist das Prinzip der Karte, die ihre weißen Flecke verliert, anstatt
sie mit Drachen und Riesen zu bevölkern. Auch in der »Solaris« ist die zentrale
Figur des Horrors kein Glibbermonster oder eine außer Kontrolle geratene
Maschine, sondern der Doppelgänger einer Vorstellung, der so in der Nicht-Erwartung kein Wissen, sondern
Paranoia nach sich zieht. Auch Lem ist Produktionist.
Glaubt man durch eine spezifische Weltanschauung, bspw. in Gottes Wort oder der
wissenschaftlichen Methode, bereits im Heimathafen das gesamte Universum
erschlossen zu haben, wird das Scheitern alle Versuche der Deutung von etwas
Neuem eine Leere erzeugen, die sich in Angst und Wut, Lethargie oder Wahnsinn
wieder zu schließen versucht. Zieht man das
grausame Wunder der Fiktion vor, war der Raum, den man vorfindet, immer
schon leer und damit voller Möglichkeiten. Ein Gott des Schlamms oder wie
Deleuze es formulieren würde: Ein Körper
ohne Organe. Die Wissenschaftler auf der Station gehen sehr unterschiedlich
mit dieser Erfahrung des grausamen
Wunders um.
Der
Pragmatiker Sartorius schließt sich in sein Labor ein, wo das Fremde dem
Skalpell, d. h. der Kontrolle, nicht entkommen kann. Der Pragmatiker versucht
den Effekt der Fremdheit einzudämmen, indem er das Fremde einhegt, einsperrt,
umoperiert oder gar verschwinden lässt. Bei einem Videoanruf versucht er seinen
»Gast« gewaltsam aus dem Bild zu halten. Es ist kein Zufall, dass die Maschine,
die die »Gäste« letztendlich verschwinden lässt, von Sartorius entworfen worden
ist. Sartorius »zerstört« das, was er vorfindet im Geheimen, um das Außen in
der Vorstellung seiner Erwartung wieder ganz
werden zu lassen. Das Labor dient der Unsicherheit als Käfig und seinen
Zweifeln zur Quarantäne. Der Zustand der Unsicherheit wird solange aus- bzw.
eingesperrt, bis er sich selbst auflöst oder aufgelöst werden kann. Das Fremde
besitzt in diesem Sinne entblößende Eigenschaften, für die sich der Ordner Sartorius
glaubt, schämen zu müssen.
Snaut
ist demgegenüber zwar in Lage, die Anwesenheit des Ozeans gegenüber der
menschlichen Erfahrung auf einer abstrakten Ebene zu rechtfertigen, bleibt aber
in Ermanglung angemessener Kategorien bis zum Ende unfähig, dieses Verständnis
zu teilen. Er weiht Kelvin bei Ankunft nicht in das ein, was ihn auf der
Station erwartet, weil er glaubt, dass dieser es nur am eigenen Körper erfahren
könne. Das Fremde verwirrt. Zum anderen scheint ihn dieses Wissen psychisch
sehr zu belasten. Die Unbeständigkeit anzunehmen ist keine
Selbstverständlichkeit, sie erfordert harte, mentale Arbeit. Somit ist
verständlich, dass auch Snaut eine kürzere Route sucht, die auch die unzähligen
SolaristInnen vor ihm wählten: Die konzeptuelle Quarantäne. Wenn Sartorius für
die Abstoßung des Fremden durch Quarantäne steht, inkarniert sich in Snaut der Philosoph,
der versucht die Grenzen des Möglichen zu erweitern und so die Kontrolle
zurückzuerlangen. Dabei ist ihm egal, ob er das Fremde wirklich angemessen
repräsentiert, solange sich die einzelnen Bausteine nur wieder zusammenfügen. Auch
er »zerstört« die Erfahrungen, die er macht, indem er sie durch Schweigen oder
nicht unzureichende Beschreibungen verstümmelt.
Sartorius
steht für eine physische, Snaut für eine linguistische Abstoßungsreaktion. Beide
Perspektiven haben Schwächen, die ersichtlich gemacht werden. Das Unbekannte verschwindet
nicht, indem man es ein- oder aussperrt. Als Heimsuchung existiert es weiter.
Durch die physische oder linguistische Zerstörung – Bataille unterscheidet
zwischen Abstoßung und Neutralisierung – dessen, was man nicht versteht,
verwirft man gleichwohl auch alle Möglichkeiten, von der Andersartigkeit zu
lernen, unabhängig davon, ob man sie gutheißt oder nicht. Die nietzscheanische
Affirmation erfordert nicht notwendiger Weise eine Ja-Sager-Mentalität, wie sie
etwa in transhumanistischen Zirkeln allgegenwärtig ist. Die Begegnung mit dem
Fremden verändert. Die Wertung sollte auf diese Veränderung folgen und ihr
nicht in starren Strukturen vorgreifen. Weder Snaut noch Sartorius wollen das
anerkennen. So bleiben ihre »Gäste« den Lesenden verborgen.
Die
»Gäste«, die wir sehen, stammen von Kelvin, dessen Perspektive wir teilen, und
Gibarian, der vor der Ankunft der Hauptfigur bereits verstorben ist. Kelvin pendelt
zwischen den Polen, die Sartorius‘ Quarantäne und Snauts Selbstreflexion repräsentieren.
Der »Gast« nimmt bei ihm (für ihn?) die Gestalt seiner verstorbenen Ehefrau
Harey an, die sich einst nach einem Ehestreit das Leben nahm. Zunächst lehnt Kelvin
Hareys Erscheinung radikal ab, geht sogar so weit, seinen »Gast« mit der Rakete
in den Weltraum zu schießen. Mit der Zeit schlägt sein Verhalten jedoch in eine
völlig andere Richtung um, sodass er am Ende gewillt scheint, seine Kollegen auszutricksen
und mit »Harey« zu fliehen, was jedoch durch den Einsatz von Sartorius‘
Maschine verhindert wird. Infolgedessen erleidet Kelvin einen psychischen Zusammenbruch,
will erst am Ozean Rache üben und sich dann selbst umbringen, fängt sich aber
wieder. Am Ende bleibt es ihm vorbehalten, nicht den Ozean der »Solaris« zu
verstehen, sondern zu begreifen, was dieses Gebilde
für das Menschsein repräsentiert. Vor der Heimreise übernimmt er einen letzten
Erkundungsflug. Er landet auf einer Insel und streckt die Hand aus, um das grausame Wunder berühren. Doch die
Oberfläche entzieht sich ihm auch in nächster Nähe. Kelvin sieht ein, dass der
Wunsch nach vollständigem Verstehen ebenso unerfüllbar ist wie die Rückkehr der
Toten auf einer außerirdischen Welt:
»Um
welcher Sache willen? Um der Hoffnung auf ihre Rückkehr willen? Hoffnung hatte
ich nicht. Aber in mir lebte das letzte, was mir davon noch verblieben war: die
Erwartung. Auf welche Erfüllungen, welchen Spott, welche Qualen war ich noch
gefaßt? Ich wußte nichts, und so verharrte ich im unerschütterlichen Glauben,
die Zeit der grausamen Wunder sei noch nicht um.« (Lem, 270)
Diese
Erwartung ist ein Experiment, das Einweichen von Grenzen der Erkenntnis, um die
Möglichkeit des Erkennens zu jeder Zeit offenzuhalten. Kelvin ist hier die
Figur des Konflikts, den er dem Leser/der Leserin vermitteln soll. In »Solaris«
geht es um die vielen Grenzen, die dem Menschen durch den Menschen gesetzt und
nicht durch das Universum aufgezwungen werden. So sagt Kelvin später in einem
Streitgespräch über die Natur eines Gottes, der diesem Ozean entspräche:
»Dem
Schein zum Trotz schafft der Mensch sich die Ziele nicht selbst. Die Zeit, in
die er hineingeboren wird, zwängt sie ihm auf, er kann ihnen dienen oder sich
gegen sie auflehnen, aber der Gegenstand der Dienstbarkeit oder Auflehnung ist
von außen gegeben. Um in der Suche nach Zielen volle Freiheit zu erfahren,
müßte der Mensch allein sein, und daraus kann nichts werden, denn ein Mensch,
der nicht unter Menschen groß wird, kann nicht zum Menschen werden. Meiner …
das muß ein Wesen sein, das keine Mehrzahl hat, weißt du?« (Lem, S. 261)
Lem
zeigt sich hier durchaus pessimistisch, wenn es um die Frage geht, ob ein alleiniger Mensch, ein moderner Mensch, ein Übermensch im Sinne Nietzsches überhaupt
existieren kann. Hier kommt der letzte Charakter ins Spiel, der die
interessanteste Figur sein könnte. Gibarian ist auch die wohl am schwersten
einzuordnende Figur, zumal der Leser/die Leserin wenig bis gar nichts über ihn
erfährt. Sein »Gast« tritt als massiv übergewichtige schwarze Frau in
Erscheinung, die nach seinem Selbstmord vor Kelvins Ankunft, stumm auf der
Station umherirrt. Es kann zur Debatte gestellt werden, ob der Autor hier
Assoziationen mit einer exotisch erotisierten Fruchtbarkeitsgöttin im Sinne
orientalistischer Kolonialfantasien aufrufen wollte. Eine abkürzende, wenn auch
problematische Inszenierung des »Fremden«. Ist das Fremde so »nah« zu
inszenieren nicht selbst eine Folge mangelnder Vorstellungskraft? Kelvin
beschreibt Gibarians »Gast« nach der ersten Begegnung als »scheußliche
Aphrodite«, die »diesen fettsteißigen Altsteinzeitplastiken ähnlich« sieht, die
manchmal in anthropologischen Museen zu sehen sind (Lem, S 48). Anhand der
wenigen Dinge, die wir über Kelvins Perspektive von Gibarian erfahren, war er
unter den Wissenschaftlern wohl der, der am ehesten Sehnsuchtsfantasien nach
der Erfahrung des Fremden hatte und dafür sogar bereit war, Gesetze zu brechen.
Darauf deutet die Recherche hin, die Kelvin in seinem Zimmer findet. Man sollte
meinen, dass es in dieser Welt nichts Fremderes als die Solaris gibt. Warum
bringt sich Gibarian nach Erscheinen der »Gäste« um? Sollte er nicht, sofern
diese meine Charakteranalyse zutrifft, zutiefst glücklich sein, je mehr Rätsel
sich in seinem Blickfeld auftun? Die Konfrontation mit dem Fremden kann auch
enttäuschend sein, wenn sie den Wünschen und Erwartungen nicht gerecht werden
kann, mit denen das Unbekannte vorher aufgeladen worden war. Das Reale
»zerstört« dann das Fremde. Die »Zerstörung« wiederum knöpft sich dann das
Selbst vor und lässt es Suizid begehen: Enttäuschung, weil das Fremde den
Ansprüchen nicht genügen wollte, zu fremd war oder (bei Kontakt) nicht fremd
genug, zu viele Freiheit eröffnete oder zu wenige. Lässt sich Gibarians Tod
dadurch erklären, dass sein »Gast« (wie für Kelvin) zu grotesk oder zu
menschlich in Erscheinung tritt? Der Roman lässt die Antwort auf diese Frage intelligenter
Weise offen. So bleibt uns Gibarian selbst fremd und verkörpert Lems eigene
Ratlosigkeit, wie sich aus dem mythischen Menschen ein moderner Mensch machen
lässt. Alle Charaktere fliehen auf ihre Weise vor der Solaris-Erfahrung, lassen
wie vor dem Aufgang des zweiten, blauen, heißen Sterns die Hitzeschilde herunterfahren
und in der Sicherheit der Station eine künstliche Nacht entstehen. In den
Worten Lovecrafts:
»The
most merciful thing in the world, I think, is the inability of the human mind
to correlate all its contents. We live on a placid island of ignorance in the
midst of black seas of infinity, and it was not meant that we should voyage
far. The sciences, each straining in its own direction, have hitherto harmed us
little; but some day the piecing together of dissociated knowledge will open up
such terrifying vistas of reality, and of our frightful position therein, that
we shall either go mad from the revelation or flee from the deadly light into
the peace and safety of a new dark age.« (Lovecraft 2014, S. 381)
Das
Unbekannte wirkt anziehend auf den Menschen, solange die dunklen Ländereien für
eine Expedition zugänglich sind. Dann können sie kartiert und dem Königreich
Gottes, d. h. dem beleuchteten Inneren, hinzugefügt werden. Kann der Mensch es
sich nicht erschließen, gibt er häufig nur mehr vor, es sich anzuschauen und
hält stattdessen seine Augen fest verschlossen, um sich vor dem Licht der
Erkenntnis zu schützen. Diese Zeit, die Lovecraft vorausgesehen hat, ist schon
lange über uns gekommen. Deswegen ziehen derzeit so viele Menschen rechte
Märchenländereien der komplexen Wirklichkeit der grausamen Wunder vor. Deswegen
ist die humanistische Exegese der Zukunft einer posthumanistischen Ernüchterung
gewichen. Kann es demnach eine Science-Fiction
der grausamen Wunder geben? Welche
Rolle muss Science darin spielen? Science, in meinem Verständnis, steht in
erster Linie für Verantwortung im Umgang mit Wissen, nicht für die
technologischen Errungenschaften, die daraus hervorgehen. Dass unsere
kognitiven Fähigkeiten uns im Stich lassen können, kratzt an unserem Ego. Doch
das Zulassen eben dieser Möglichkeit ist genau das Geheimnis, warum die
wissenschaftliche Methode zu erfolgreich ist. Nur muss die Wissenschaft eben
auch bereit sein, diese Regeln nicht nur im Umgang mit Materie penibel
einzuhalten, sondern auch auf ihre eigenen anthropologischen, ökonomischen und
soziokulturellen Fundamente beziehen. Wie futuristische Floskeln, Lost Futures
und der gegenwärtig sehr bedenkliche, pseudo-esoterische Trend zum
Transhumanismus zeigen, sind NaturwissenschaftlerInnen trotz wissenschaftlicher
Methode gerne bereit, ins Messer zu laufen. Ich »freue« mich jedenfalls schon auf
die erste Schlagzeile »Mord durch
Mind-Uploading. Er erwartete alles und bekam nichts.« Und wenn wir doch in »Transhumania« wildern wollen, ziehe
ich doch als Vorbereitung die verstörend-transgressive Nüchternheit eines Nick
Land in »Fanged Noumena« der
kindlichen Erwartungshaltung eines Elon Musk oder Ray Kurzweil vor. Der Akzelerationismus ist zwar politisch
nicht zu gebrauchen, übertrifft sich aber selbst, wenn es um Zeitdiagnosen
geht. Affirmation ist nicht gleich Positivierung. Transhumanismus hat im
Gegensatz zu Posthumanismus das Potenzial zur Vorlage für sehr schwarzhumorige
Slapstick-Comedy zu werden. Genaugenommen müsste man die Schlagzeile umdrehen: »Er erwartete nichts und bekam deswegen
alles.« Wissen kann eben auch umfassend nichtssagend werden, besonders
dann, wenn es in die Zukunft projiziert wird. Hier liest Kelvin im umfassenden
Gesamtwerk zur Solaris und resümiert Jahre der Forschung und des akademischen
Streits, die zu immer komplexeren Beschreibungen kommen, ohne verlässliche Antworten
hervorbringen zu können. Beschrieben werden die Gebilde, die das Ozeanwesen
spontan und ohne ersichtlichen Grund entstehen lässt:
»Wer
sie zum ersten Mal beobachtet, den erschüttern sie hauptsächlich durch ihre
Fremdheit und Riesengröße; würden sie in kleinem Maßstab auftreten, in
irgendeinem Tümpel, so hätte man sie gewiß als eine weitere »Laune der Natur«
aufgefaßt, als Äußerung der Zufälligkeit und des blinden Spiels der Kräfte. Daß
Mittelmaß und Genie gleichermaßen hilflos der unerschöpflichen Mannigfaltigkeit
solarischer Formen gegenüberstehen, erleichtert auch nicht gerade den Umgang
mit den Phänomenen des lebenden Ozeans.« (Lem, 148)
Es
ist die Sinnlosigkeit, die uns mustersuchenden Primaten zu schaffen macht,
nicht unser eigenes Unwissen, weswegen wir nur zu gerne Fiktionen und nicht
Realitäten anpeilen. Dann kennen wir alles, ohne alles kennen zu müssen. Dann
haben, behalten, imaginieren wir eine Karte, die zuverlässig ist. Im Zweifel
leben dort halt Antipoden. Das muss doch einen Wert haben, oder? Nur allmählich
ereilt uns das Wissen, dass das Universum so unendlich viel größer und undurchdringlicher
ist:
»Solang
er konnte, bediente sich Giese einfach der Sprache der Beschreibung, und wenn
ihm Wörter fehlten, half er sich, indem er neue Wörter schuf, oft unglückliche,
den beschriebenen Phänomenen nicht angemessene. Aber letztlich können keinerlei
Termini wiedergeben, was auf der Solaris vorgeht. Seine ‚Bergbaumer‘, seine
‚Längichte‘, ‚Verpilzungen‘, ‚Mimoide‘, ‚Symmetriaden‘ und ‚Asymmetriaden‘,
‚Wirbelknöchrigen‘ und ‚Schneller‘ klingen schrecklich künstlich, aber
irgendeine Vorstellung von der Solaris geben sie sogar denen, die außer
undeutlichen Fotos und höchst unvollkommenen Filmen nichts gesehen haben.«
(Lem, 148)
Klingen
diese hilflosen Fremdworte nicht ein wenig wie die Augenwischerei, die man
einer vermeintlichen »Postmoderne« als »Anything Goes« vorwirft? Wenn das, was
man sieht, nicht ansatzweise mit Worten beschrieben werden kann, was hat der
Maßstab der Präzision dann noch für einen Wert im rationalen Diskurs? Natürlich
sollen der Nutzen und die Autorität der wissenschaftlichen Methode hier nicht
in Frage gestellt werden, nur die Gleichsetzung von Wissenschaft mit
wissenschaftlicher Sprache bzw. Ästhetik. Nicht alles, was sich Neurolink nennt, ist auch das. Man kann
wissenschaftlich über künstliche Intelligenz unwissenschaftliches Racial-Profiling
betreiben. Die Kraniometrie des 21. Jahrhunderts. Es gibt einen Schein in Science, weil Wissenschaft an Menschen gebunden ist. Der
sogenannten »Postmoderne« ist man in diesem Sinne bis heute nicht wirklich fair
begegnet. Sie wurde, oft auch selbstverschuldet, vorschnell historisiert. Die
ihr zugeordneten DenkerInnen bedienten sich zu exzessiv an dem Junk-Jargon, das sie an anderer Stelle
kritisierten. Was dabei herauskam, waren »Asymmetriaden« und »Längichte«, mit
denen niemand so recht etwas anfangen konnte. Kann eine Science-Fiction der grausamen
Wunder hier Abhilfe schaffen? Man muss »postmoderne« Konzepte vor allem um
ihre technizistische Sprache bereinigen, zumal die von den AutorInnen
angedeuteten Phänomene nicht mehr in die Zukunft projiziert werden müssen,
sondern empirisch beobachtet werden können. Man muss das Unbekannte weder
physisch vernichten noch linguistisch verstümmeln. Man kann sich darauf
einlassen, Dinge nur annäherungsweise beschreiben zu können und damit vermeiden,
einen ewigen Geltungsanspruch zu erheben. Das ist harte Arbeit, die sich zu
großen Teilen nicht auf die Zuverlässigkeit der menschlichen Wahrnehmung und Konsensbildung
stützen kann:
»Der
Mensch kann so wenige Sachen zugleich erfassen; wir sehen nur, was sich vor uns
abspielt, hier und jetzt; die Vergegenwärtigung einer simultanen Vielheit von
Prozessen, selbst wenn sie miteinander zusammenhängen, selbst wenn sie einander
ergänzen, geht über menschliche Möglichkeiten hinaus. Wir erfahren dies sogar
angesichts relativ einfacher Phänomene. Das Los eines Menschen kann viel
bedeuten, das Los einiger Hunderte ist schwer zu erfassen, aber die Geschichte
Tausender, die einer Million bedeutet im Grund genommen nichts. Die Symmetriade
ist Million, neun, potenzierte Milliarde, die Unvorstellbarkeit an sich.« (Lem,
161)
Man
kann das große Jenseitige, bei Deleuze die Ebene der Immanenz (franz. plan d’immanence), natürlich auch
leugnen, indem man ihr mit der Fantasie vorgreift, auf die Gefahr hin, von ihr
eingeholt, unterwandert oder überrascht zu werden. Sehr viel
Unwissenschaftlichem kann über die Magie der Fachbegriffe und Zahlen einen
wissenschaftlichen Anstrich erlangen, wenn sie lediglich dazu dienen Gottes Reich im Licht mit Kanonen und
Teilchenbeschleunigern zu bestücken. In diesem Sinne macht das geflügelte Wort von
Arthur C. Clarke die Runde: »Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist
von Magie nicht zu unterscheiden.« Man kann dieses Zitat auch umdrehen und zur
Grundlage von Science-Fantasy machen:
»Jede hinreichend fortschrittliche Magie wird mit technologischem Anstrich
nicht klar von der Realität unterschieden werden zu können.« Wirklichkeitsbilder
lassen sich hier im Mythos nicht nur vortäuschen, sondern auch freilegen,
hinterfragen oder verändern. Es gibt keinen Grund, diese Arbeit einem rigiden naturwissenschaftlich
inspirierten Rationalismus zu unterwerfen, weil ihn gerade diese freischwebende
Rigidität behindert. Technologie umfasst in diesem Sinne nicht nur die Maschine
als Mechanismus, sondern die Maschine als abstraktes Medium. Die deleuzischen abstrakten Maschinen der
Immanenz.
Unsere
Ahnen waren nicht dumm. Sie waren auch nicht klüger als wir im 21. Jahrhundert,
aber sie waren auch nicht dumm. Man kann die Arroganz der Aufklärung übergehen
und ihnen einen ähnlichen Umgang mit Erzählungen zutrauen, wie wir ihn heute
pflegen. Nehmen wir den Mythos des Talos zur Hilfe. Der Riese aus Bronze, der
von einer einzigen Ader am Leben gehalten wurde, umrundete drei Mal am Tag die
Insel Kreta und bewarf alle Schiffe mit Felsbrocken. Jeder, der auf Kreta
landete, verbrannte in der Rotglut seines sich erhitzenden Körpers. Erst die
Argonauten brachten die metallene Monstrosität zu Fall. Medea lenkte Talos mit dem
Versprechen nach Unsterblichkeit ab, nur um ihm aus dem Hinterhalt die einzige
Ader an der Ferse aufzuschneiden und die Maschine so ausbluten zu lassen.
Die
Kurzschlussreaktion des übereifrigen Rationalisten bestünde darin, Talos als »wilde
Magie« zu verwerfen. Doch könnte es sich, aus dem Blickwinkel der Bronzezeit,
nicht auch um intelligente Spekulation handeln? Was, wenn die antiken Griechen,
hier ihre kulturelle Perspektive in die (vermeintlich nahe) Zukunft projizierten?
Was wäre, wenn man die Kraftquelle der wasserbetriebenen Mühle in einem
Schlauch, einer Ader, mobil machen könnte, um eine autonome Waffe zu betreiben?
Welche Vor- und Nachteile sowie gesellschaftlichen Folgen hätte das? Wie weit
ist es vom Bronzeriesen Talos zur Visualisierung von Stromkabeln, Batterien oder
Benzintanks? Es ist Science in dieser
Geschichte, wann man sich auf ihre Sprache einlässt. Ist es von hier weiterführend
so schwer zu verstehen, dass Hephaistos, der in einer Version des Mythos dem
König Minos den bronzenen Koloss zum Geschenk machte, als abstrakter Bringer von
Maschinen verstanden werden kann? Was ist, wenn wir Hephaistos als deterritorialisierte
Kraftquelle des Erfindergeistes im Menschen visualisieren? Vielleicht nannten
die antiken GriechInnen diesen Teilbereich menschlichen Schaffens Hephaistos
und meinten damit kein physisches, übernatürliches Wesen? Ist es so weit
hergeholt, dass alle damals wussten, dass da nicht buchstäblich der Gott ein
Wesen geschmiedet hat, sondern Minoer mit
(genug) Hephaistos, dem körperlosen Erfindergeist, in der Lage wären, ein
solches Maschinenwesen zu erschaffen? Bronzekybernetik.
»Primitiv« zu sein, dient im westlichen Sprachgebrauch vor allem dazu, (als
Mythenwelt) nicht im Materialismus mitreden zu dürfen. In dieser Verurteilung
der Hinterbliebenen distanziert sich der Möchtegern-Übermensch davon, selbst einer
Mythenwelt anzuhängen. Wo der Stammesgesellschaft vorgeworfen wird, eine
Traumwelt voller Fiktionen zu bewohnen, wird die Industrialisierung zum
vermeintlichen Beweis, dass der Mythos selbst Fiktion geworden ist.
Unsere
Gehirne sind so konzipiert, dass sie auf der Suche nach dem Sinn schummeln
werden, wenn wir sie schummeln lassen. Hier kann eine posthumanistische Kunst
einen wertvollen Dienst erweisen, indem sie das Schummeln in immersiven Welten
inszeniert. Die Science-Fiction der grausamen Wunder ist in ihrer besten
Form eine Grenzgängerin, während die herkömmliche SF der Priesterschaft von
RomantikerInnen und MuseumspädagogInnen, also dem Spießertum der herrschenden
Ordnung frönen will. Ersteres vor Letzterem zu schützen ist eine Herausforderung,
der sich Literatur egal welchen Genres stellen muss. »Technobabble« steht für
einen Erzählstil, der im Ausdruck durch die Wahl von durchtechnisierten Worten
und futuristisch-affektiver Sprache, Wissenschaftlichkeit (und damit Glaubwürdigkeit)
suggerieren will, auch wenn die beschriebenen Maschinen, Ereignisse oder
Wesenheiten sich jeglicher wissenschaftlichen Grundlage entziehen. Star Trek und Star Wars so wie viele anderen Mainstream-Abenteuer im Weltraum
nutzen Technobabble, um sich von immersiven
Welten des New-Frontier-Prinzips als Zukunftsvision abzutrennen. Doch was
unterscheidet sie in der Funktion vom Wilden Westen oder einer Fantasy-Welt.
Man erkundet neue Welten mit scheinbar grenzenlosen Potenzialen, hinter deren
Fassade wieder nur exotische Konflikte und Sehnsüchte des Heimathafens stehen. Hier
setzt die Kritik von »Solaris« an. Wir sind mal Gibarian, mal Snaut, mal
Sartorius. Wir leben aber immer im Zeitalter
der grausamen Wunder:
»Wir
brechen in den Kosmos auf, wir sind auf alles vorbereitet, das heißt, auf die
Einsamkeit, auf den Kampf, auf Martyrium und Tod. Aus Bescheidenheit sprechen
wir es nicht laut aus, aber wir denken uns manchmal, daß wir großartig sind.
Indessen, indessen ist das nicht alles, und unsere Bereitschaft erweist sich
als Theater. Wir wollen gar nicht den Kosmos erobern, wir wollen nur die Erde
bis an seine Grenzen erweitern. Die einen Planeten haben voll Wüste zu sein,
wie die Sahara, die anderen eisig wie der Pol oder tropisch wie der brasilianische
Urwald.« (Lem, S. 101)
All
das bedeutet nicht, dass rationale Spekulationen, intelligente Spekulationen,
keinen Wert haben. Die klassische Science-Fiction
hat eine Menge Dinge vom U-Boot (»20000 Meilen unter dem Meer«) über IPads (»Star
Trek«) bis zu den Effekten der Internetkommunikation und Gamification auf die menschliche Psyche (»Enders Game«) vorhergesehen,
lange bevor diese Veränderungen empirisch Gestalt annahmen. Teilweise haben sie
diese Veränderung durch ästhetische Überlegungen und Denkanreize sogar aktiv
mitgestaltet. Wir sollten uns nur nicht durch willkürliche Grenzen einschränken
und uns auch nicht zum willkürlichen Überschreiten von Grenzen auf Basis von
fiktiven Annahmen überreden lassen. »Solaris« bittet uns darum. Die
Konfrontation des wirklich Neuen ist auch so schon anstrengend genug. Von der
Warte der Gegenwart aus erstrecken sich in beide Richtungen des Zeitstrahls dunkle,
desorientierende Wüsten, die den Nomaden, die sie zu durchqueren bereit sind,
metatextuelles Wissen abverlangen, um auf einem einfachen Erkundungsgang nicht
zu verdursten oder zu halluzinieren. Der Mythos der Moderne beruht nicht nur auf
einer Reduktion der Wahrnehmung auf das Materielle, sondern führt durch diese
Reduzierung auch eine neue Form der Verfremdung ein, die als ihr Mythos
funktioniert, aber den Anspruch hat, dies zu leugnen. »Solaris« antizipierte
viel mehr die kulturelle Wende von einer humanistischen Science-Fiction Mitte des 19. und 20. Jahrhunderts zu einer
posthumanistischen Science-Fiction
Anfang des 21. Jahrhunderts, die sich nicht mehr bloß mit der futuristischen
Zeichensprache zufrieden gibt, die ihr von der gescheiterten Aufklärung
aufgezwungen worden ist. Sie nutzt den Mythos, um den Mythos zu überwinden. Sie
kann sich auch der Fantasy oder des Horrors bedienen. Sie sucht die grausamen
Wunder. Wir haben gerade erst begonnen zu
verstehen, was wir alles nicht verstehen.
Literatur:
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D. (2012). Why We Need Dragons: The Progressive Potential of Fantasy. In: Journal
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Chaos. Mythen und Fiktionen im Alltag. Bern [u. a.]: Verlag Hans Huber.
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G. (1994). Difference and
Repetition. Translated by Paul Patton. New York:
Columbia University Press.
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Schizophrenia. translation and foreword by Brian Massumi. Minneapolis:
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Deleuze, G.–Guattari, F. (1974). Anti-Ödipus. Kapitalismus
und Schizophrenie I. Übersetzt von Bernd Schwibs. Frankfurt a. M.:
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K. (2015). Ideologie und Utopie. Mit
einer Einleitung von Jürgen Kaube. 9., um eine Einleitung erweiterte Auflage.
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Cambridge University Press.
Nietzsche, F. (2012). Gesammelte Werke. Köln: Anaconda Verlag.
Taleb, Nicholas Nassim
(2007). The Black Swan. The impact of the
Highly Improbable. London: Allen Lane, an imprint of Penguin Books.
Video-Essays:
PlasticPills (28.11.2019). Posthumanism Explained - Nietzsche, Deleuze, Stiegler,
Haraway (Stand:
17.12.2019)
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