Die Lücke der grausamen Wunder - Solaris und posthumane Science-Fiction



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Wie steht es um die Beziehung zwischen Zukunft und Vergangenheit in einer posthumanistischen Gesellschaft? Zu oft wurden wir schon von unseren eigenen Erwartungen hintergangen. Eine Zukunft, die vertraut wirkt, schafft zwar Erleichterung, aber sie zieht auch allzu oft, fernab der logischen Reflektion, den Komfort des Moments einer realistischen Einschätzung der historischen Entwicklungen vor. Entweder: Der Kollaps der Zivilisation kann nicht stattfinden, bevor es Cyberpunk-Megacitys geben wird. Oder: Der Kollaps steht vor der Tür und unser Badass-Survival-Team wird mit der aktuellen Generation des IPod am Ohr und Retrobubblegum im Mundwinkel auf Zombiejagd gehen. Die Zukunft ist aber die Art von Partygast, die sich stumm von hinten anschleicht, wenn in der Gruppe gerade über ihn oder sie gelästert wird, und dann einfach da ist. Das Ergebnis: Peinlich berührtes Schweigen bei T - 0. Die Frage, was die Zukunft uns zu erzählen hat, hängt eng mit der Frage zusammen, wer sich diese Zukunft vorstellt. Während die erste Frage, von den Orakeln der Antike zu den TranshumanistInnen von heute, die Menschheit stets fasziniert hat, stehen wir doch erst am Anfang zu verstehen, was die zweite Frage für uns eigentlich bedeutet.

Die Science-Fiction, die sich seit ihrer (offiziellen) Geburt im 19. Jahrhundert als Vorhut der Wissenschaft versteht, existiert seit geraumer Zeit in einem Spannungsfeld zwischen dem Unbekannten und dem Vertrauten. Doch wie viel »Vertrauen« auf uns selbst können wir als Spezies tatsächlich unter Quarantäne stellen? Wie sehr manipuliert der Konsens Homo Sapiens das Denken in einer vermeintlich objektiven Wissenschaft und ihrem wahrsagerischen Außenposten in der Science-Fiction-Popkultur? »Solaris« ist besonders, weil sich der polnische Schriftsteller Stanislaw Lem diese Fragen bereits 1961, vor dem Mainstreaming der posthumanistischen Wende, auf eine sehr klare und zugängliche Weise stellt. Der Roman steht außerdem für eine Art der Resignation vor dem Unbekannten, die gleichwohl neue Chancen birgt, denn unsere Zukunftsvisionen handeln nie von der Zukunft, sondern stets von der Gegenwart.

Der Inhalt ist schnell zusammengefasst: Der Psychologe Kris Kelvin wird auf die internationale Forschungsstation geschickt, die den seltsamen Ozean des Planeten Solaris untersuchen soll.  Entgegen aller Intuition und wider die Naturgesetze scheint er ein Bewusstsein entwickelt zu haben, das aber keinem irdischen Äquivalent ähnelt. Als Kelvin andockt, findet er eine verstörte Besatzung vor. Der ehemalige Leiter der Station Gibarian hat sich umgebracht, während sich Sartorius in seinem Labor verschanzt und niemandem mehr freiwillig entgegentritt. Lediglich Snaut empfängt Kelvin, wirkt jedoch vom ersten Moment an äußerst verwirrt. Kelvin erfährt auch bald darauf, warum sich seine neuen Kollegen so seltsam verhalten. Nach einem gescheiterten Experiment an der Ozeanoberfläche wird die Crew von »Gästen« heimgesucht, die ihr tiefstes Inneres ans Tageslicht bringen. Kelvin wird von der fleischgewordenen Erinnerung an seine verstorbene Frau Harey heimgesucht, für deren Selbstmord er sich schuldig fühlt.

Es mangelte nie an Deutungen für die »Solaris«, mit denen der Autor Stanislaw Lem nicht zufrieden war. Da waren die Filmadaptionen, die versuchten die Philosophie des Romans an persönliche Traumata und Erinnerungsbewältigung zu koppeln und den fremdartigen Ozean mehr oder weniger außer Acht ließen; nicht, dass die Interpretationen, die sich den Ozean vornahmen, besser waren. Von psychoanalytischer Krisenbewältigung, die sich auf eine missverständliche Übersetzung berief, bis zu einer Abrechnung mit der gescheiterten Utopie der Sowjetunion meinten KritikerInnen in der »Solaris« alles wiederzuerkennen und verfehlten dabei das eigentliche Ziel. Zumindest meiner Ansicht nach geht es um wesentlich grundlegendere Fragen. Begehen wir nicht dieselben Fehler wie die Solaristen, wenn wir ein bodenloses Loch mit allerhand akademischen Wortklaubereien zu stopfen versuchen? Interpretiert man den Roman »Solaris«, verhält man sich anscheinend wie die WissenschaftlerInnen, die sich ihrem Planeten Solaris widmen und ganze Bibliotheken füllen, ohne irgendeine zufriedenstellende Antwort auf ihr Verlangen nach Verständnis zu finden.

Der Ozean steht für nicht mehr als das, was beschrieben wird: Eine amorphe, vielleicht nicht undefinierbare, dafür aber undurchdringliche Masse, die sich schon in Form und Verhalten unserem Verständnis entzieht. Legen wir aus unserer Erfahrung bzw. Bildung heraus eine transzendente Linie in das Unbekannte, ist sie unser eigenes Erzeugnis nicht die Bedeutung des Ozeans. Realpolitische Ereignisse, persönliche Schicksale oder Ödipus werden nur als vorgefertigte Grenzen im Ozean platziert. Sie müssen nicht die eigentlichen Grenzen erreichen. Künstliche Mauern der Kognition können uns aussperren, bevor wir überhaupt in die Nähe der interessanten Fragen gelangen können. Eine immanente Interpretation ist notwendig, weil »Solaris« eben keine Kunst des historischen Moments ist, sondern eine philosophische Studie über die Ortsgebundenheit der Wahrnehmung in Zeit und Raum. Es geht nicht um eine Ozeanmetapher der Solaris, die für irgendetwas steht, sondern um die Wissenschaftler, die (unbeholfen und voreingenommen) mit diesem »für« umgehen. So verdeutlichen all die weithergeholten Interpretationen doch vor allem, dass das Problem, für das sich der Roman interessiert, eine zeitlose Frage ist, auf die der Mensch im Mythos eine Antwort sucht. Wie begegnet der Mensch dem Fremdartigen? Wo liegt die Grenze zwischen dem, was wir da draußen erwarten und was uns da draußen erwartet? Was trägt er oder sie vom Eigenen in das Fremde hinein und wie kann sich das Fremde trotzdem (bzw. gerade deswegen) einem Kontakt entziehen? Das Orakel ist eine Science-Fiction und Science-Fiction ist ein Orakel.

»Solaris« spart nicht gerade an Kritik an der Selbstbeweihräucherung einer (vermeintlich) objektiven Naturwissenschaft, die so viele FuturistInnen in der Science-Fiction bestätigt sehen wollen. Allen Innovationen, ob geistig, politisch, technologisch oder explorativ, liegt zunächst das menschliche Hirn zugrunde. Dass uns neue Technologien nach Utopia oder in den Untergang führen werden, sagt noch nichts darüber aus, wie sie eigentlich ersonnen werden. Vielleicht sollten wir uns, bevor es an den Roman geht, zunächst einer anderen Frage stellen: Wofür steht das Science in Science-Fiction?

Wir können natürlich behaupten, dass sich Science-Fiction überwiegend für die Zukunft und vorwärtsgewandtes Denken interessiert, doch diese Herangehensweise an das Genre muss sich gegen eine ganze Armada an rosaroten Brillen durchsetzen. Genre hat eine Bedeutung, aber diese Bedeutung ist im vorwissenschaftlichen Raum anzusiedeln: Marktinteressen, Konsumidentitäten, Techno-Optimismus oder -Pessimismus. Es steckt ein Kern Wahrheit in der Markenidentität Science in Science-Fiction. Als Gegner im Genrekampf wird deswegen häufig die Fantasy, mit ihrem Archetyp in J. R. R. Tolkiens Herr der Ringe, als Gegenpol gesetzt. Im Gegensatz zur Science-Fiction ist Fantasy rückwärtsgewandt, nostalgisch, mythisch, emotional und an Geschichte interessiert. Aber ist SF Science-Fiction, weil sie intelligente Fragen stellt oder weil man an Bord der Enterprise mit Spock durchs Weltall schiffen kann und auf der Kreuzfahrt vom Roboterbutler einen pangalaktischen Donnergurgler serviert bekommt? Suchen wir nach wirklich Neuem oder lesen wir Science-Fiction, weil wir uns in einer Version der Zukunft bestätigt sehen wollen?

Das Zeitalter der Mythen haben wir überwunden, ganz sicher! Von wegen: Die Science-Fiction ist selbst ein Mythengebilde, das seine Legitimation lediglich darin begründet, kein Mythos zu sein. Der Mythos ist nicht vordefinierbar, er ist das Betriebssystem unseres Heimathafens. Der Mythos kann dementsprechend auch nicht abgelehnt werden. Deswegen findet er sich sowohl in der Science-Fiction als auch in der Fantasy. Die »genreprägende« Wortwahl in der Fantastik ermöglicht es nur allzu leicht aus einer ästhetischen Opposition eine unzulässige Hierarchie zu modellieren: Hier die RationalistInnen, da die RomantikerInnen. Das übersieht nicht nur, wie sehr sich die Fantasy seit Tolkien weiterentwickelt hat, sondern überschätzt auch die Rationalität der Science-Fiction. Im 21. Jahrhundert stehen wir nach einer über hundertjährigen Literaturgeschichte der SF vor einer ganze Reihe von Zukunftsartefakten, für die Mark Fisher treffender Weise den Begriff der Lost Future, der verlorenen Zukunft, prägte. Die Zukunft wird wie eine Fernsehserie abgesetzt. All dies bedeutet nicht, dass SF keinen Wert besitzt. Neue Technologien gestalten selbstverständlich eine Gesellschaft erheblich mit, aber zuallererst bringen Gesellschaften aber Technologien hervor (oder eben nicht). Dass intelligente Spekulation möglich ist, steht dabei außer Frage. Vielmehr sollte sich die Science-Fiction von ihrem Boden der Tatsachen verabschieden und keinen Alleinanspruch auf Rationalität in der Kunst erheben. Mit den Fragen einer gegenwärtigen, das heißt verorteten, Gesellschaft kann sich ein Schriftsteller oder eine Schriftstellerin unabhängig von der Genrefrage mehr oder weniger ernsthaft auseinandersetzen.

Was spricht gegen Science-Fantasy oder Science-Horror? Die Science-Fiction hat hier, historisch betrachtet, sicherlich einen Vorsprung, aber sicherlich kein Alleinstellungsmerkmal. Eine strikte Trennung der Genres ist nicht nur unmöglich, sondern auf Basis impliziter Identitätszuschreibungen auch ausschließend. So wird in der SF intern zwischen harter und softer Science-Fiction mit der Intention unterschieden, naturwissenschaftlich-versierte AutorInnen auf ein Podest mit Nudelsternchen zu heben. Schränkt eine solche Differenzierung nicht das Potenzial eins Science-Storytellings ein? Es gibt doch neben den Natur- beispielsweise auch Geisteswissenschaften, die in immersiven Welten Gedankenexperimente entwerfen könnten. Diese ist nicht weniger kritisch, weil sie den überaus rational herbeifantasierten Warpantrieb übergeht, um einen vermenschlichten Kosmos in Frage zu stellen. Was für einen mechanisch-methodischen Unterschied macht es, einen Fuß in eine Fantasiewelt oder auf einen Fantasieplaneten zu setzen, wenn das soziokulturelle anstelle eines technischen Interesses konsequent verfolgt wird? Ist Asimovs Foundation-Trilogie auf Genrebasis wissenschaftlicher als George R. R. Martin A Song of Ice and Fire? Beide Beispiele tragen den klar erkennbaren Fingerabdruck der historischen Wissenschaft ihrer Zeit vor völlig unterschiedlichen Kulissen, wobei Martin, der Fantasy-Schriftsteller, hier wesentlich vorsichtiger und selbstreflexiver mit der ambivalenten Natur historischer Überlieferungen umgeht. Asimov ließ sich sehr unkritisch von Edward Gibbons The History and Decline of the Roman Empire inspirieren.

Der Mythos des rationalen Denkens, das zwischen dem Magier oder Schamanen und Philosophen oder Wissenschaftler eine klare Grenze zieht, beruht selbst auf dem Mythos unbefleckbarer Logik, die sich nicht mehr selbst zu hinterfragen braucht, weil sie bereits zu wissen meint, dass sie ihr eigener Ausgangspunkt ist. Eine Dialektik der Aufklärung, die sich mit »Dialektik« eine eigene Grenze geschaffen hat, wo keine Grenze existiert. Nicht mehr Gott ist Diktator über das Wissen, sondern der »schicksalhafte« Materialismus. An der Abhängigkeit von einer Transzendenz ändert sich da wenig. Lediglich die Tapete wechselte. Das Besondere an dieser Perspektive ist nicht ihre Rationalität, sondern der spezifische Weg der Rationalisierung, der damit das Potenzial ihres Scheiterns bereits in sich trägt. Der Unterschied zwischen einer humanistischen und posthumanistischen Science-Fiction liegt genau hier: In der Antizipation dieses Scheiterns und damit einhergehend, in der Faszination weniger vom nächsten Schritt in der menschlichen Entwicklung, sondern eher mit dem Heraufbeschwören ihrer möglichen Irrwege. Der Anfang dieser Wende lässt sich gar nicht so leicht festlegen, doch sie geht einher mit der Entwicklung einer neuen Kosmologie, die mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet. H. P. Lovecraft war vermutlich der erste Prophet einer posthumanen Zukunftskunst oder wie der Mitbegründer der Object Oriented Ontology Graham Harman in seinem Buch Weird Realism schreibt:

»If we apply this distinction to imaginative writers, then H. P. Lovecraft is clearly a productionist author. No other writer is so perplexed by the gap between objects and the qualities they posess. Despite his apparently limited interest in philosophy, Lovecraft as a tacit philosopher is violently anti-idealist and anti-Humean. Indeed, there are times when Lovecraft echoes cubist panting in a manner amounting almost to a parody of Hume. While Hume thinks that objects are a simple amassing of familiar qualities, Lovecraft resembles Braque, Picasso, and the philosopher Edmund Husserl by slicing an object into vast crosssections of qualities, planes, or adumbrations, which even when added up do not exhaust the reality of the object they compose.« (Harman 2012, S. 3)

»Productionist« bezieht sich in diesem Zusammenhang, auf Philosophen, die nicht von neuem Wissen schwärmen, sondern davon fasziniert sind, die neuen Lücken in der Welt bzw. unserer Beschreibung dieser Welt zu finden, zu besetzen und in der Kunst zu inszenieren. Genre ist dabei auch nicht beschränkt auf Horror, wie Lovecraft ihn aus seinem reaktionären Weltbild heraus erlebte, sondern kann auch wie im Werk von Bataille, Nietzsche oder Deleuze der aktiven, progressiven Transgression dienen. Die vorgefertigte, abgepackte Zukunft einer in der Gegenwart gefesselten Gesellschaft, egal ob sie mystisch-religiös oder materialistisch-wissenschaftlich ausstaffiert ist, muss im Dienst einer wirklich produktiven Fremdheit erst vernichtet werden. Dann, wenn der Schleier der Wahrnehmung gefallen ist, kann nüchtern über Bedenken und Chancen einer möglichen Zukunft geurteilt werden. Das ist das Prinzip der Karte, die ihre weißen Flecke verliert, anstatt sie mit Drachen und Riesen zu bevölkern. Auch in der »Solaris« ist die zentrale Figur des Horrors kein Glibbermonster oder eine außer Kontrolle geratene Maschine, sondern der Doppelgänger einer Vorstellung, der so in der Nicht-Erwartung kein Wissen, sondern Paranoia nach sich zieht. Auch Lem ist Produktionist. Glaubt man durch eine spezifische Weltanschauung, bspw. in Gottes Wort oder der wissenschaftlichen Methode, bereits im Heimathafen das gesamte Universum erschlossen zu haben, wird das Scheitern alle Versuche der Deutung von etwas Neuem eine Leere erzeugen, die sich in Angst und Wut, Lethargie oder Wahnsinn wieder zu schließen versucht. Zieht man das grausame Wunder der Fiktion vor, war der Raum, den man vorfindet, immer schon leer und damit voller Möglichkeiten. Ein Gott des Schlamms oder wie Deleuze es formulieren würde: Ein Körper ohne Organe. Die Wissenschaftler auf der Station gehen sehr unterschiedlich mit dieser Erfahrung des grausamen Wunders um.

Der Pragmatiker Sartorius schließt sich in sein Labor ein, wo das Fremde dem Skalpell, d. h. der Kontrolle, nicht entkommen kann. Der Pragmatiker versucht den Effekt der Fremdheit einzudämmen, indem er das Fremde einhegt, einsperrt, umoperiert oder gar verschwinden lässt. Bei einem Videoanruf versucht er seinen »Gast« gewaltsam aus dem Bild zu halten. Es ist kein Zufall, dass die Maschine, die die »Gäste« letztendlich verschwinden lässt, von Sartorius entworfen worden ist. Sartorius »zerstört« das, was er vorfindet im Geheimen, um das Außen in der Vorstellung seiner Erwartung wieder ganz werden zu lassen. Das Labor dient der Unsicherheit als Käfig und seinen Zweifeln zur Quarantäne. Der Zustand der Unsicherheit wird solange aus- bzw. eingesperrt, bis er sich selbst auflöst oder aufgelöst werden kann. Das Fremde besitzt in diesem Sinne entblößende Eigenschaften, für die sich der Ordner Sartorius glaubt, schämen zu müssen.

Snaut ist demgegenüber zwar in Lage, die Anwesenheit des Ozeans gegenüber der menschlichen Erfahrung auf einer abstrakten Ebene zu rechtfertigen, bleibt aber in Ermanglung angemessener Kategorien bis zum Ende unfähig, dieses Verständnis zu teilen. Er weiht Kelvin bei Ankunft nicht in das ein, was ihn auf der Station erwartet, weil er glaubt, dass dieser es nur am eigenen Körper erfahren könne. Das Fremde verwirrt. Zum anderen scheint ihn dieses Wissen psychisch sehr zu belasten. Die Unbeständigkeit anzunehmen ist keine Selbstverständlichkeit, sie erfordert harte, mentale Arbeit. Somit ist verständlich, dass auch Snaut eine kürzere Route sucht, die auch die unzähligen SolaristInnen vor ihm wählten: Die konzeptuelle Quarantäne. Wenn Sartorius für die Abstoßung des Fremden durch Quarantäne steht, inkarniert sich in Snaut der Philosoph, der versucht die Grenzen des Möglichen zu erweitern und so die Kontrolle zurückzuerlangen. Dabei ist ihm egal, ob er das Fremde wirklich angemessen repräsentiert, solange sich die einzelnen Bausteine nur wieder zusammenfügen. Auch er »zerstört« die Erfahrungen, die er macht, indem er sie durch Schweigen oder nicht unzureichende Beschreibungen verstümmelt.

Sartorius steht für eine physische, Snaut für eine linguistische Abstoßungsreaktion. Beide Perspektiven haben Schwächen, die ersichtlich gemacht werden. Das Unbekannte verschwindet nicht, indem man es ein- oder aussperrt. Als Heimsuchung existiert es weiter. Durch die physische oder linguistische Zerstörung – Bataille unterscheidet zwischen Abstoßung und Neutralisierung – dessen, was man nicht versteht, verwirft man gleichwohl auch alle Möglichkeiten, von der Andersartigkeit zu lernen, unabhängig davon, ob man sie gutheißt oder nicht. Die nietzscheanische Affirmation erfordert nicht notwendiger Weise eine Ja-Sager-Mentalität, wie sie etwa in transhumanistischen Zirkeln allgegenwärtig ist. Die Begegnung mit dem Fremden verändert. Die Wertung sollte auf diese Veränderung folgen und ihr nicht in starren Strukturen vorgreifen. Weder Snaut noch Sartorius wollen das anerkennen. So bleiben ihre »Gäste« den Lesenden verborgen.

Die »Gäste«, die wir sehen, stammen von Kelvin, dessen Perspektive wir teilen, und Gibarian, der vor der Ankunft der Hauptfigur bereits verstorben ist. Kelvin pendelt zwischen den Polen, die Sartorius‘ Quarantäne und Snauts Selbstreflexion repräsentieren. Der »Gast« nimmt bei ihm (für ihn?) die Gestalt seiner verstorbenen Ehefrau Harey an, die sich einst nach einem Ehestreit das Leben nahm. Zunächst lehnt Kelvin Hareys Erscheinung radikal ab, geht sogar so weit, seinen »Gast« mit der Rakete in den Weltraum zu schießen. Mit der Zeit schlägt sein Verhalten jedoch in eine völlig andere Richtung um, sodass er am Ende gewillt scheint, seine Kollegen auszutricksen und mit »Harey« zu fliehen, was jedoch durch den Einsatz von Sartorius‘ Maschine verhindert wird. Infolgedessen erleidet Kelvin einen psychischen Zusammenbruch, will erst am Ozean Rache üben und sich dann selbst umbringen, fängt sich aber wieder. Am Ende bleibt es ihm vorbehalten, nicht den Ozean der »Solaris« zu verstehen, sondern zu begreifen, was dieses Gebilde für das Menschsein repräsentiert. Vor der Heimreise übernimmt er einen letzten Erkundungsflug. Er landet auf einer Insel und streckt die Hand aus, um das grausame Wunder berühren. Doch die Oberfläche entzieht sich ihm auch in nächster Nähe. Kelvin sieht ein, dass der Wunsch nach vollständigem Verstehen ebenso unerfüllbar ist wie die Rückkehr der Toten auf einer außerirdischen Welt:

»Um welcher Sache willen? Um der Hoffnung auf ihre Rückkehr willen? Hoffnung hatte ich nicht. Aber in mir lebte das letzte, was mir davon noch verblieben war: die Erwartung. Auf welche Erfüllungen, welchen Spott, welche Qualen war ich noch gefaßt? Ich wußte nichts, und so verharrte ich im unerschütterlichen Glauben, die Zeit der grausamen Wunder sei noch nicht um.« (Lem, 270)

Diese Erwartung ist ein Experiment, das Einweichen von Grenzen der Erkenntnis, um die Möglichkeit des Erkennens zu jeder Zeit offenzuhalten. Kelvin ist hier die Figur des Konflikts, den er dem Leser/der Leserin vermitteln soll. In »Solaris« geht es um die vielen Grenzen, die dem Menschen durch den Menschen gesetzt und nicht durch das Universum aufgezwungen werden. So sagt Kelvin später in einem Streitgespräch über die Natur eines Gottes, der diesem Ozean entspräche:

»Dem Schein zum Trotz schafft der Mensch sich die Ziele nicht selbst. Die Zeit, in die er hineingeboren wird, zwängt sie ihm auf, er kann ihnen dienen oder sich gegen sie auflehnen, aber der Gegenstand der Dienstbarkeit oder Auflehnung ist von außen gegeben. Um in der Suche nach Zielen volle Freiheit zu erfahren, müßte der Mensch allein sein, und daraus kann nichts werden, denn ein Mensch, der nicht unter Menschen groß wird, kann nicht zum Menschen werden. Meiner … das muß ein Wesen sein, das keine Mehrzahl hat, weißt du?« (Lem, S. 261)

Lem zeigt sich hier durchaus pessimistisch, wenn es um die Frage geht, ob ein alleiniger Mensch, ein moderner Mensch, ein Übermensch im Sinne Nietzsches überhaupt existieren kann. Hier kommt der letzte Charakter ins Spiel, der die interessanteste Figur sein könnte. Gibarian ist auch die wohl am schwersten einzuordnende Figur, zumal der Leser/die Leserin wenig bis gar nichts über ihn erfährt. Sein »Gast« tritt als massiv übergewichtige schwarze Frau in Erscheinung, die nach seinem Selbstmord vor Kelvins Ankunft, stumm auf der Station umherirrt. Es kann zur Debatte gestellt werden, ob der Autor hier Assoziationen mit einer exotisch erotisierten Fruchtbarkeitsgöttin im Sinne orientalistischer Kolonialfantasien aufrufen wollte. Eine abkürzende, wenn auch problematische Inszenierung des »Fremden«. Ist das Fremde so »nah« zu inszenieren nicht selbst eine Folge mangelnder Vorstellungskraft? Kelvin beschreibt Gibarians »Gast« nach der ersten Begegnung als »scheußliche Aphrodite«, die »diesen fettsteißigen Altsteinzeitplastiken ähnlich« sieht, die manchmal in anthropologischen Museen zu sehen sind (Lem, S 48). Anhand der wenigen Dinge, die wir über Kelvins Perspektive von Gibarian erfahren, war er unter den Wissenschaftlern wohl der, der am ehesten Sehnsuchtsfantasien nach der Erfahrung des Fremden hatte und dafür sogar bereit war, Gesetze zu brechen. Darauf deutet die Recherche hin, die Kelvin in seinem Zimmer findet. Man sollte meinen, dass es in dieser Welt nichts Fremderes als die Solaris gibt. Warum bringt sich Gibarian nach Erscheinen der »Gäste« um? Sollte er nicht, sofern diese meine Charakteranalyse zutrifft, zutiefst glücklich sein, je mehr Rätsel sich in seinem Blickfeld auftun? Die Konfrontation mit dem Fremden kann auch enttäuschend sein, wenn sie den Wünschen und Erwartungen nicht gerecht werden kann, mit denen das Unbekannte vorher aufgeladen worden war. Das Reale »zerstört« dann das Fremde. Die »Zerstörung« wiederum knöpft sich dann das Selbst vor und lässt es Suizid begehen: Enttäuschung, weil das Fremde den Ansprüchen nicht genügen wollte, zu fremd war oder (bei Kontakt) nicht fremd genug, zu viele Freiheit eröffnete oder zu wenige. Lässt sich Gibarians Tod dadurch erklären, dass sein »Gast« (wie für Kelvin) zu grotesk oder zu menschlich in Erscheinung tritt? Der Roman lässt die Antwort auf diese Frage intelligenter Weise offen. So bleibt uns Gibarian selbst fremd und verkörpert Lems eigene Ratlosigkeit, wie sich aus dem mythischen Menschen ein moderner Mensch machen lässt. Alle Charaktere fliehen auf ihre Weise vor der Solaris-Erfahrung, lassen wie vor dem Aufgang des zweiten, blauen, heißen Sterns die Hitzeschilde herunterfahren und in der Sicherheit der Station eine künstliche Nacht entstehen. In den Worten Lovecrafts:

»The most merciful thing in the world, I think, is the inability of the human mind to correlate all its contents. We live on a placid island of ignorance in the midst of black seas of infinity, and it was not meant that we should voyage far. The sciences, each straining in its own direction, have hitherto harmed us little; but some day the piecing together of dissociated knowledge will open up such terrifying vistas of reality, and of our frightful position therein, that we shall either go mad from the revelation or flee from the deadly light into the peace and safety of a new dark age.« (Lovecraft 2014, S. 381)

Das Unbekannte wirkt anziehend auf den Menschen, solange die dunklen Ländereien für eine Expedition zugänglich sind. Dann können sie kartiert und dem Königreich Gottes, d. h. dem beleuchteten Inneren, hinzugefügt werden. Kann der Mensch es sich nicht erschließen, gibt er häufig nur mehr vor, es sich anzuschauen und hält stattdessen seine Augen fest verschlossen, um sich vor dem Licht der Erkenntnis zu schützen. Diese Zeit, die Lovecraft vorausgesehen hat, ist schon lange über uns gekommen. Deswegen ziehen derzeit so viele Menschen rechte Märchenländereien der komplexen Wirklichkeit der grausamen Wunder vor. Deswegen ist die humanistische Exegese der Zukunft einer posthumanistischen Ernüchterung gewichen. Kann es demnach eine Science-Fiction der grausamen Wunder geben? Welche Rolle muss Science darin spielen? Science, in meinem Verständnis, steht in erster Linie für Verantwortung im Umgang mit Wissen, nicht für die technologischen Errungenschaften, die daraus hervorgehen. Dass unsere kognitiven Fähigkeiten uns im Stich lassen können, kratzt an unserem Ego. Doch das Zulassen eben dieser Möglichkeit ist genau das Geheimnis, warum die wissenschaftliche Methode zu erfolgreich ist. Nur muss die Wissenschaft eben auch bereit sein, diese Regeln nicht nur im Umgang mit Materie penibel einzuhalten, sondern auch auf ihre eigenen anthropologischen, ökonomischen und soziokulturellen Fundamente beziehen. Wie futuristische Floskeln, Lost Futures und der gegenwärtig sehr bedenkliche, pseudo-esoterische Trend zum Transhumanismus zeigen, sind NaturwissenschaftlerInnen trotz wissenschaftlicher Methode gerne bereit, ins Messer zu laufen. Ich »freue« mich jedenfalls schon auf die erste Schlagzeile »Mord durch Mind-Uploading. Er erwartete alles und bekam nichts.« Und wenn wir doch in »Transhumania« wildern wollen, ziehe ich doch als Vorbereitung die verstörend-transgressive Nüchternheit eines Nick Land in »Fanged Noumena« der kindlichen Erwartungshaltung eines Elon Musk oder Ray Kurzweil vor. Der Akzelerationismus ist zwar politisch nicht zu gebrauchen, übertrifft sich aber selbst, wenn es um Zeitdiagnosen geht. Affirmation ist nicht gleich Positivierung. Transhumanismus hat im Gegensatz zu Posthumanismus das Potenzial zur Vorlage für sehr schwarzhumorige Slapstick-Comedy zu werden. Genaugenommen müsste man die Schlagzeile umdrehen: »Er erwartete nichts und bekam deswegen alles.« Wissen kann eben auch umfassend nichtssagend werden, besonders dann, wenn es in die Zukunft projiziert wird. Hier liest Kelvin im umfassenden Gesamtwerk zur Solaris und resümiert Jahre der Forschung und des akademischen Streits, die zu immer komplexeren Beschreibungen kommen, ohne verlässliche Antworten hervorbringen zu können. Beschrieben werden die Gebilde, die das Ozeanwesen spontan und ohne ersichtlichen Grund entstehen lässt:

»Wer sie zum ersten Mal beobachtet, den erschüttern sie hauptsächlich durch ihre Fremdheit und Riesengröße; würden sie in kleinem Maßstab auftreten, in irgendeinem Tümpel, so hätte man sie gewiß als eine weitere »Laune der Natur« aufgefaßt, als Äußerung der Zufälligkeit und des blinden Spiels der Kräfte. Daß Mittelmaß und Genie gleichermaßen hilflos der unerschöpflichen Mannigfaltigkeit solarischer Formen gegenüberstehen, erleichtert auch nicht gerade den Umgang mit den Phänomenen des lebenden Ozeans.« (Lem, 148)

Es ist die Sinnlosigkeit, die uns mustersuchenden Primaten zu schaffen macht, nicht unser eigenes Unwissen, weswegen wir nur zu gerne Fiktionen und nicht Realitäten anpeilen. Dann kennen wir alles, ohne alles kennen zu müssen. Dann haben, behalten, imaginieren wir eine Karte, die zuverlässig ist. Im Zweifel leben dort halt Antipoden. Das muss doch einen Wert haben, oder? Nur allmählich ereilt uns das Wissen, dass das Universum so unendlich viel größer und undurchdringlicher ist:

»Solang er konnte, bediente sich Giese einfach der Sprache der Beschreibung, und wenn ihm Wörter fehlten, half er sich, indem er neue Wörter schuf, oft unglückliche, den beschriebenen Phänomenen nicht angemessene. Aber letztlich können keinerlei Termini wiedergeben, was auf der Solaris vorgeht. Seine ‚Bergbaumer‘, seine ‚Längichte‘, ‚Verpilzungen‘, ‚Mimoide‘, ‚Symmetriaden‘ und ‚Asymmetriaden‘, ‚Wirbelknöchrigen‘ und ‚Schneller‘ klingen schrecklich künstlich, aber irgendeine Vorstellung von der Solaris geben sie sogar denen, die außer undeutlichen Fotos und höchst unvollkommenen Filmen nichts gesehen haben.« (Lem, 148)

Klingen diese hilflosen Fremdworte nicht ein wenig wie die Augenwischerei, die man einer vermeintlichen »Postmoderne« als »Anything Goes« vorwirft? Wenn das, was man sieht, nicht ansatzweise mit Worten beschrieben werden kann, was hat der Maßstab der Präzision dann noch für einen Wert im rationalen Diskurs? Natürlich sollen der Nutzen und die Autorität der wissenschaftlichen Methode hier nicht in Frage gestellt werden, nur die Gleichsetzung von Wissenschaft mit wissenschaftlicher Sprache bzw. Ästhetik. Nicht alles, was sich Neurolink nennt, ist auch das. Man kann wissenschaftlich über künstliche Intelligenz unwissenschaftliches Racial-Profiling betreiben. Die Kraniometrie des 21. Jahrhunderts. Es gibt einen Schein in Science, weil Wissenschaft an Menschen gebunden ist. Der sogenannten »Postmoderne« ist man in diesem Sinne bis heute nicht wirklich fair begegnet. Sie wurde, oft auch selbstverschuldet, vorschnell historisiert. Die ihr zugeordneten DenkerInnen bedienten sich zu exzessiv an dem Junk-Jargon, das sie an anderer Stelle kritisierten. Was dabei herauskam, waren »Asymmetriaden« und »Längichte«, mit denen niemand so recht etwas anfangen konnte. Kann eine Science-Fiction der grausamen Wunder hier Abhilfe schaffen? Man muss »postmoderne« Konzepte vor allem um ihre technizistische Sprache bereinigen, zumal die von den AutorInnen angedeuteten Phänomene nicht mehr in die Zukunft projiziert werden müssen, sondern empirisch beobachtet werden können. Man muss das Unbekannte weder physisch vernichten noch linguistisch verstümmeln. Man kann sich darauf einlassen, Dinge nur annäherungsweise beschreiben zu können und damit vermeiden, einen ewigen Geltungsanspruch zu erheben. Das ist harte Arbeit, die sich zu großen Teilen nicht auf die Zuverlässigkeit der menschlichen Wahrnehmung und Konsensbildung stützen kann:

»Der Mensch kann so wenige Sachen zugleich erfassen; wir sehen nur, was sich vor uns abspielt, hier und jetzt; die Vergegenwärtigung einer simultanen Vielheit von Prozessen, selbst wenn sie miteinander zusammenhängen, selbst wenn sie einander ergänzen, geht über menschliche Möglichkeiten hinaus. Wir erfahren dies sogar angesichts relativ einfacher Phänomene. Das Los eines Menschen kann viel bedeuten, das Los einiger Hunderte ist schwer zu erfassen, aber die Geschichte Tausender, die einer Million bedeutet im Grund genommen nichts. Die Symmetriade ist Million, neun, potenzierte Milliarde, die Unvorstellbarkeit an sich.« (Lem, 161)

Man kann das große Jenseitige, bei Deleuze die Ebene der Immanenz (franz. plan d’immanence), natürlich auch leugnen, indem man ihr mit der Fantasie vorgreift, auf die Gefahr hin, von ihr eingeholt, unterwandert oder überrascht zu werden. Sehr viel Unwissenschaftlichem kann über die Magie der Fachbegriffe und Zahlen einen wissenschaftlichen Anstrich erlangen, wenn sie lediglich dazu dienen Gottes Reich im Licht mit Kanonen und Teilchenbeschleunigern zu bestücken. In diesem Sinne macht das geflügelte Wort von Arthur C. Clarke die Runde: »Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.« Man kann dieses Zitat auch umdrehen und zur Grundlage von Science-Fantasy machen: »Jede hinreichend fortschrittliche Magie wird mit technologischem Anstrich nicht klar von der Realität unterschieden werden zu können.« Wirklichkeitsbilder lassen sich hier im Mythos nicht nur vortäuschen, sondern auch freilegen, hinterfragen oder verändern. Es gibt keinen Grund, diese Arbeit einem rigiden naturwissenschaftlich inspirierten Rationalismus zu unterwerfen, weil ihn gerade diese freischwebende Rigidität behindert. Technologie umfasst in diesem Sinne nicht nur die Maschine als Mechanismus, sondern die Maschine als abstraktes Medium. Die deleuzischen abstrakten Maschinen der Immanenz.

Unsere Ahnen waren nicht dumm. Sie waren auch nicht klüger als wir im 21. Jahrhundert, aber sie waren auch nicht dumm. Man kann die Arroganz der Aufklärung übergehen und ihnen einen ähnlichen Umgang mit Erzählungen zutrauen, wie wir ihn heute pflegen. Nehmen wir den Mythos des Talos zur Hilfe. Der Riese aus Bronze, der von einer einzigen Ader am Leben gehalten wurde, umrundete drei Mal am Tag die Insel Kreta und bewarf alle Schiffe mit Felsbrocken. Jeder, der auf Kreta landete, verbrannte in der Rotglut seines sich erhitzenden Körpers. Erst die Argonauten brachten die metallene Monstrosität zu Fall. Medea lenkte Talos mit dem Versprechen nach Unsterblichkeit ab, nur um ihm aus dem Hinterhalt die einzige Ader an der Ferse aufzuschneiden und die Maschine so ausbluten zu lassen.

Die Kurzschlussreaktion des übereifrigen Rationalisten bestünde darin, Talos als »wilde Magie« zu verwerfen. Doch könnte es sich, aus dem Blickwinkel der Bronzezeit, nicht auch um intelligente Spekulation handeln? Was, wenn die antiken Griechen, hier ihre kulturelle Perspektive in die (vermeintlich nahe) Zukunft projizierten? Was wäre, wenn man die Kraftquelle der wasserbetriebenen Mühle in einem Schlauch, einer Ader, mobil machen könnte, um eine autonome Waffe zu betreiben? Welche Vor- und Nachteile sowie gesellschaftlichen Folgen hätte das? Wie weit ist es vom Bronzeriesen Talos zur Visualisierung von Stromkabeln, Batterien oder Benzintanks? Es ist Science in dieser Geschichte, wann man sich auf ihre Sprache einlässt. Ist es von hier weiterführend so schwer zu verstehen, dass Hephaistos, der in einer Version des Mythos dem König Minos den bronzenen Koloss zum Geschenk machte, als abstrakter Bringer von Maschinen verstanden werden kann? Was ist, wenn wir Hephaistos als deterritorialisierte Kraftquelle des Erfindergeistes im Menschen visualisieren? Vielleicht nannten die antiken GriechInnen diesen Teilbereich menschlichen Schaffens Hephaistos und meinten damit kein physisches, übernatürliches Wesen? Ist es so weit hergeholt, dass alle damals wussten, dass da nicht buchstäblich der Gott ein Wesen geschmiedet hat, sondern Minoer mit (genug) Hephaistos, dem körperlosen Erfindergeist, in der Lage wären, ein solches Maschinenwesen zu erschaffen? Bronzekybernetik. »Primitiv« zu sein, dient im westlichen Sprachgebrauch vor allem dazu, (als Mythenwelt) nicht im Materialismus mitreden zu dürfen. In dieser Verurteilung der Hinterbliebenen distanziert sich der Möchtegern-Übermensch davon, selbst einer Mythenwelt anzuhängen. Wo der Stammesgesellschaft vorgeworfen wird, eine Traumwelt voller Fiktionen zu bewohnen, wird die Industrialisierung zum vermeintlichen Beweis, dass der Mythos selbst Fiktion geworden ist.

Unsere Gehirne sind so konzipiert, dass sie auf der Suche nach dem Sinn schummeln werden, wenn wir sie schummeln lassen. Hier kann eine posthumanistische Kunst einen wertvollen Dienst erweisen, indem sie das Schummeln in immersiven Welten inszeniert. Die Science-Fiction der grausamen Wunder ist in ihrer besten Form eine Grenzgängerin, während die herkömmliche SF der Priesterschaft von RomantikerInnen und MuseumspädagogInnen, also dem Spießertum der herrschenden Ordnung frönen will. Ersteres vor Letzterem zu schützen ist eine Herausforderung, der sich Literatur egal welchen Genres stellen muss. »Technobabble« steht für einen Erzählstil, der im Ausdruck durch die Wahl von durchtechnisierten Worten und futuristisch-affektiver Sprache, Wissenschaftlichkeit (und damit Glaubwürdigkeit) suggerieren will, auch wenn die beschriebenen Maschinen, Ereignisse oder Wesenheiten sich jeglicher wissenschaftlichen Grundlage entziehen. Star Trek und Star Wars so wie viele anderen Mainstream-Abenteuer im Weltraum nutzen Technobabble, um sich von immersiven Welten des New-Frontier-Prinzips als Zukunftsvision abzutrennen. Doch was unterscheidet sie in der Funktion vom Wilden Westen oder einer Fantasy-Welt. Man erkundet neue Welten mit scheinbar grenzenlosen Potenzialen, hinter deren Fassade wieder nur exotische Konflikte und Sehnsüchte des Heimathafens stehen. Hier setzt die Kritik von »Solaris« an. Wir sind mal Gibarian, mal Snaut, mal Sartorius. Wir leben aber immer im Zeitalter der grausamen Wunder:

»Wir brechen in den Kosmos auf, wir sind auf alles vorbereitet, das heißt, auf die Einsamkeit, auf den Kampf, auf Martyrium und Tod. Aus Bescheidenheit sprechen wir es nicht laut aus, aber wir denken uns manchmal, daß wir großartig sind. Indessen, indessen ist das nicht alles, und unsere Bereitschaft erweist sich als Theater. Wir wollen gar nicht den Kosmos erobern, wir wollen nur die Erde bis an seine Grenzen erweitern. Die einen Planeten haben voll Wüste zu sein, wie die Sahara, die anderen eisig wie der Pol oder tropisch wie der brasilianische Urwald.« (Lem, S. 101)

All das bedeutet nicht, dass rationale Spekulationen, intelligente Spekulationen, keinen Wert haben. Die klassische Science-Fiction hat eine Menge Dinge vom U-Boot (»20000 Meilen unter dem Meer«) über IPads (»Star Trek«) bis zu den Effekten der Internetkommunikation und Gamification auf die menschliche Psyche (»Enders Game«) vorhergesehen, lange bevor diese Veränderungen empirisch Gestalt annahmen. Teilweise haben sie diese Veränderung durch ästhetische Überlegungen und Denkanreize sogar aktiv mitgestaltet. Wir sollten uns nur nicht durch willkürliche Grenzen einschränken und uns auch nicht zum willkürlichen Überschreiten von Grenzen auf Basis von fiktiven Annahmen überreden lassen. »Solaris« bittet uns darum. Die Konfrontation des wirklich Neuen ist auch so schon anstrengend genug. Von der Warte der Gegenwart aus erstrecken sich in beide Richtungen des Zeitstrahls dunkle, desorientierende Wüsten, die den Nomaden, die sie zu durchqueren bereit sind, metatextuelles Wissen abverlangen, um auf einem einfachen Erkundungsgang nicht zu verdursten oder zu halluzinieren. Der Mythos der Moderne beruht nicht nur auf einer Reduktion der Wahrnehmung auf das Materielle, sondern führt durch diese Reduzierung auch eine neue Form der Verfremdung ein, die als ihr Mythos funktioniert, aber den Anspruch hat, dies zu leugnen. »Solaris« antizipierte viel mehr die kulturelle Wende von einer humanistischen Science-Fiction Mitte des 19. und 20. Jahrhunderts zu einer posthumanistischen Science-Fiction Anfang des 21. Jahrhunderts, die sich nicht mehr bloß mit der futuristischen Zeichensprache zufrieden gibt, die ihr von der gescheiterten Aufklärung aufgezwungen worden ist. Sie nutzt den Mythos, um den Mythos zu überwinden. Sie kann sich auch der Fantasy oder des Horrors bedienen. Sie sucht die grausamen Wunder. Wir haben gerade erst begonnen zu verstehen, was wir alles nicht verstehen.

Literatur:


Baker, D. (2012). Why We Need Dragons: The Progressive Potential of Fantasy. In: Journal of the Fantastic in the Arts 23 (3), 437-459.
Bevernage, B. & Lorenz, C. (2013). Breaking up Time. Negotiating the Borders between Present, Past and Future. Storia della Storiografia 63 (1), 31-50.
Boesch, Ernst E. (2000). Das lauernde Chaos. Mythen und Fiktionen im Alltag. Bern [u. a.]: Verlag Hans Huber.
Deleuze, G. (1994). Difference and Repetition. Translated by Paul Patton. New York: Columbia University Press.
Deleuze, G.–Guattari, F. (1987). A Thousand Plateaus. Capitalism and Schizophrenia. translation and foreword by Brian Massumi. Minneapolis: University of Minnesota Press.
Deleuze, G.–Guattari, F. (1974). Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Übersetzt von Bernd Schwibs. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Fisher, M. (2009). Capitalist Realism: Is There no Alternative?. Winchester/Washington: Zero Books.
Harman, G. (2012). Weird Realism. Lovecraft and Philosophy. Winchester/Washington.
Land, N. (2012). Fanged Noumena. Second Edition. Windsor Quarry: Urbanomic.
Lovecraft, H. P. (2014). The Complete Fiction of H. P. Lovecraft. New York: Quarto Publishing Group.
Mannheim, K. (2015). Ideologie und Utopie. Mit einer Einleitung von Jürgen Kaube. 9., um eine Einleitung erweiterte Auflage. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann.
May, T. (2005). Gilles Deleuze. An introduction. Cambridge: Cambridge University Press.
Nietzsche, F. (2012). Gesammelte Werke. Köln: Anaconda Verlag.
Taleb, Nicholas Nassim (2007). The Black Swan. The impact of the Highly Improbable. London: Allen Lane, an imprint of Penguin Books.

Video-Essays:


Cuck Philosophy (29.10.2018). Hellraiser, Bataille and Limit Experiences (Stand: 17.12.2019)
PlasticPills (28.11.2019). Posthumanism Explained - Nietzsche, Deleuze, Stiegler, Haraway (Stand: 17.12.2019)


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LeO Tiresias

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