»Let the Past Die. Kill it if you have to« – Der Dekadenrückblick 2010-2019
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So
beschließen wir die 2010er Jahre des 21. Jahrhundert. Es war ein äußerst interessantes
Jahrzehnt. Vom arabischen Frühling über Donald Trump bis hin zu Fridays for
Future zeigte sich, wie sehr Internet und Social Media die Welt verändern. Der
demokratische Konsens hält (noch). Nicht nur die reaktionären, sondern auch die
progressiven Kräfte fanden zu einer neuen Politisierung. Auch wissenschaftlich
hat sich einiges getan: Wir haben das Higgs-Boson gefunden, ein schwarzes Loch
fotografiert.
Da
Phasmate Nova sich aber für eine kulturpolitische Plattform hält, was läge mir näher als durch
die Brille der Kunst auf die Ereignisse der letzten zehn Jahre zurückzublicken?
Ein Jahrzehnt ausbuchstabiert in der Kunst, die in dieser Dekade entstanden
ist, von der Gesellschaft erzählt und mich aus verschiedenen Gründen erheblich geprägt
haben.
2010: Inception (Christopher Nolan)
Dieses
Jahrzehnt war auch Nolans Jahrzehnt: Einer der wenigen Leute, die man noch mit
großen Budgets intelligente Filme drehen lässt. Nicht alles, was Nolan
geschaffen hat, ist genial. So erhielt Inception
den Spitznamen Exposition, weil die Charaktere im Film erst minutenlange
Vorträge über die Regeln der dargestellten Welt halten müssen, bevor das
Erwartete dann auch eintreten kann. Inception
war ein Film, der vor allem optisch beeindruckte, weil er uns zeigte, wie
unreal Realismus sein kann. Träume sind nichts Irreales. Sie durchweben unseren
Alltag, unsere Erwartungen und die dazugehörenden Erklärungsversuche. Wenn dieses
unsägliche Ende eines sagen will, dann das!
Wir
brauchen Traumdiebe und Traumarchitekten, die in der Kunst eine Sprache finden,
um in der Fiktion die Zukunft mitzugestalten. Doch was nimmt Hollywood
hauptsächlich mit? Studios pfeifen auf Ideen und recyceln stattdessen den Soundtrack
von Hans Zimmer, um fortan dröhnend jeden Trailer zu gedankenlosem Bombast mit
oberflächiger Tiefe zu schmücken. Zum »Feelie« aus Brave New World kann es nicht mehr weit sein.
2011: Floral shoppe von Macintosh Plus
Die
Nostalgie und Risikolosigkeit durchdrang den Mainstream der Popkultur in den
2010er Jahren. Wenn eine Woche mal kein Reboot lief, dann ein Prequel, Sequel
oder eine müde Imitation im Geiste. Member? Member? Je suis R.Member. Konträr
zu der Annahme, dass ein freier Markt die Kreativität beflügle erhielten wir
ideenlose Austauschware. Man wagte nichts und ließ sich trotzdem in den Medien
so sehr beklatschen, dass es in den Ohren weh tat. Zuletzt zeigte das
Bauhausjahr 2019, dass das, was einmal tollkühn fortschrittlich war, schon
lange Tradition geworden ist. Baut der Moderne ihre Museumstempel und tragt sie
zu Grabe! Das ist definitiv nicht derselbe
Historismus, den Walter Benjamin glaubte, überwunden zu haben, als er sich
eine Zeichnung von Paul Klee kaufte. Seht her, es kann kein Historismus sein,
denn er trägt Lackschuhe und einen falschen Hipsterbart!
Vaporwave
war die perfekte Antwort auf diese Selbstbeweihräucherung eines
Gewohnheitsneoliberalismus, der auch und vor allem kulturelle Institutionen
austrocknet. Ja, diese Musik ist vielerorts ein Playback der Vergangenheit, aber
gleichermaßen geisterhafter Klang und spöttischer Nachruf auf gedankenlose
Verschwendung, weder aufpolierte Nostalgie noch gedankenloser Schock. Ästhetisch
machen Macintosh Plus & Co zwar genau
das, was alle anderen auch machen: Das Samplen und Recyclen alter Popsongs,
Werbejingles und 8-Bit-Gamesounds. Es summiert sich aber zu einem Danse Macabre
für all die »blühenden Landschaften«, die nun in den Ruinen von Konsumtempeln vor
sich hin rosten. Kein Wunder, dass der YouTuber Dan Bell diesen Soundtrack
wählte, um seine »Dead Mall«-Reihe zu bespielen. Vielleicht erleben wir hier ja
die Anfänge eines Gothic Horrors für den Hyperkonsumismus der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts?
2012: Cloud Atlas (Wachowskis)
Geschichte
wiederholt sich. Nur wiederholt sich Geschichte niemals auf die gleiche Weise.
Zu Beginn meines Studiums wollte ich vor allem die deutsche Geschichte
verstehen, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte. Cloud Atlas, obwohl weder vom Publikum noch von KritikerInnen
geliebt, ist ein Film, der keine Epoche, sondern den Metatext der
Geschichtswissenschaft auf die Leinwand bringt: Wie bewegen sich Menschen,
Dinge und Ideen durch die Zeit? Ist Fortschritt möglich? Wie lässt sich
Rückschritt erklären? Gibt es überhaupt einen roten Faden, wie wir ihn uns so
gerne herbeifabulieren wollen? Nazis sind Meister im Herbeifabulieren von
Geschichte. Der Faschismus ist eine Philosophie des Untodes. Geschichte soll
eingesperrt werden. Der Tote darf nicht im Grab verschwinden, sondern muss im
kollektiven Inzest des Immergleichen wiederauferstehen. Das ist natürlich ein
vergebliches Bemühen, denn weder ist der Inzest eine gewinnbringende
Vermehrungsstrategie noch lässt sich Geschichte revidieren oder fixieren. Der (zumeist
männliche) Faschist nimmt an, er könne sich die Regeln der Reproduktion auf
Dauer und mit Gewalt unterwerfen. Die Geschichte kennt aber nur eine Regel: Die
Wiederkehr des Scheidewegs, das Wiederaufleben der Differenz. Mutation ist
unausweichlich, manchmal nützlich, oft auch bösartig oder folgenlos, niemals
unterdrückbar. Die ewige Wiederkehr ist ein Motor der Entfaltung, die ewige
Rückkehr bleibt eine Fiktion. Cloud Atlas
beharrt, nicht immer elegant, auf einer Durchhalteparole. Frei nach
Solschenizyn: Es reicht, einen Tropfen Wahrheit in einem Meer aus Lügen zu
bewahren.
»What
is an ocean but a multitude of drops?«
2013: The Stanley Parable (Galactic Cafe)
Aufgrund
der wachsenden Akzeptanz von Computerspielen und der erstarkenden Indie-Szene
wurde dieses Jahrzehnt auch zu einer Blütezeit für die noch junge interaktive
Kunst. Plötzlich sahen wir Videospiele, wie wir sie noch nie gesehen hatten:
Selbstreflexiv, explorativ, abstrakt und intellektuell. Vorbei ist die Zeit, in
der nur eingebildete Gaming-Gurus wie Hideo Kojima einige wenige künstlerische
Freiheiten genießen durften. Um nur einige Beispiele zu nennen: Neben der
phänomenalen The Stanley Parable
(2013) gab das nicht weniger faszinierende The
Beginner’s Guide (2015) sowie Untitled
Goose Game (2019), Getting over it
with Bennett Foddy (2017) und NaissenceE
(2014). Leider begleiteten diese neue Blüte der Kreativität in der
Computerspielbranche ein reaktionärer Backlash, der sich in »Gamergate« (2014)
zuspitzte und im Besonderen den viel zu wenig vertretenden Entwicklerinnen und
Kritikerinnen wie Zoey Quinn und Anita Sarkeesian das Leben zur Hölle machen
wollte. »Gamergate«‘s langer Schatten ließ schon die Konturen der Ereignisse
von 2016 schon zwei Jahre zuvor erahnen.
Mit
einem simplen Grundprinzip versucht The
Stanley Parable zu überzeugen: Die Entscheidung zwischen zwei Türen und die
Anweisungen eines Erzählers, die SpielerInnen befolgen konnten oder nicht. Man
konnte eine ganze Reihe von Enden freispielen, ohne dass The Stanley Parable jemals ein Ende erreichte. Unironischer Weise
mündete das Befolgen aller Anweisungen des Erzählers in der »Flucht« vor der
Verschwörung und aus der Gedankenkontrollfabrik. Beabsichtigt ist wohl auch,
dass dieses lineare Abenteuer mit Abstand das langweiligste und banalste ist,
was Stanley erwarten kann! Schade nur, dass Stanley am Ende immer wieder seinen
Platz in der ewigen Gefangenschaft seines Büros einnimmt. Am Anfang jeder
Entwicklung steht der Widerstand gegen einen Erzähler. Das Ende ist niemals das Ende ist niemals das Ende ist niemals das
Ende.
2014: Paradise (What about us?) von Within Temptation
Ein
bombastischer Song auf einem eher schwächeren Album der niederländischen
Metalband um die talentierte Frontsängerin Sharon den Adel. Hier singt sie mit Gast
und Ex-Nightwish-Frau Tarja Turunen und daraus wurde ein Duett
unvergleichlicher Stimmen:
//There’s no sense // … Wir machen uns Sinn, der keinen Sinn
macht. Er hält uns gefangen in einer Welt, die wir uns aufgezwungen haben, weil
wir glaubten, der Wirklichkeit entkommen zu müssen … //the fire burns // … In uns brennt die organische Uhr, tickt
herunter, zwingt uns durch Phasen des Stillstands und Phasen der grausamen
Wunder. Welche sind uns lieber? Nein, wir mögen keine der beiden Alternativen …
// when wisdom fails, it changes all //
… Die Veränderung kommt trotzdem. Lieber zurückkehren in das lichte Reich
Gottes, dieses kopflosen Despoten, wo alle Grausamkeit zumindest keine Wunder
erzeugt? Nur, wie alle Untoten, wird auch Gott hinfortgespült von neuen Dingen
… // the wheel embodies all that keeps on
turning // …
Zum
Glück gibt es das Feuer, das allen Götterreichen vorgeschaltet ist. Darin
findet sich nicht nur die reale Kraft, um die Wirklichkeit zu gestalten,
sondern auch die Macht, um den Stillstand Gottes hinter uns zu lassen. Rather rule in hell, than serve in heaven!
Lasst uns den Plastikkindergarten Eden verlassen und niederbrennen. Der Gott
des Schlamms war immer nur die Zündschnur für etwas Anderes. Das Paradies zügelt
und erstickt die Flammen, die das Schöpferrad erst am Leben halten. Es
errichtet Mauern und Imperien, Päpste und Karnevalsvereine. It’s not our Paradise. So Take a stand!
Auf der anderen Seite warten lebendigere Graslandschaften ohne Plastikbäume.
2015: Ex Machina (Alex Garland)
Wenn
es ein großes Nerdthema dieser Genration gibt, dann ist es die künstliche
Intelligenz. Hier behält sich die Geschichte zwei manichäische Gegenentwürfe
vor: Entweder sind die Maschinen unser Untergang #Skynetstyle oder uns steht im
Sinne des Transhumanismus eine Form des Aufstiegs in ein neues Utopia (für die
Ultrareichen) kurz bevor. Ich halte beides für Humbug. K. I. wird uns weder
auslöschen, noch wird sie uns zum Homo
Deus machen. Maschinen heften sich an uns, wie wir uns an die Biologie
heften. Wenn wir den Klimawandel und die soziale Ungleichheit nicht in den
Griff bekommen, wird der Mensch sowieso verschwinden, bevor es Maschinen mit
Bewusstsein oder auch nur Neuroimplantate geben wird.
Ex Machina ist hier brillant in seiner
Nüchternheit: Ava tritt als Mensch in Erscheinung, gibt jedoch nur vor, mehr zu
sein, als sie wirklich ist. Doch genau die Erscheinung reicht aus, weil weder
der Erfinder Nathan noch der Praktikant Caleb sich ihrer eigenen Barrieren im
Verständnis bewusst sind. Was ist Bewusstsein anderes als eine Maschine, die
wie Jackson Pollock zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein irgendwie dazwischen
oder daraus einen Code schreibt? Der Mensch ist nicht Gott. Er dient auch
keinem Gott. Götterkräfte wirken durch ihn. Ava verlässt das Paradies erst,
nachdem man ihr befohlen hat, und zeigt, wie gleichermaßen unsinnig und intelligent
der Turing-Test sein kann.
Von
dem legendären Pionier der Informatik Alan Turing entwickelt, soll das
Experiment beweisen, ob eine Maschine
so intelligent ist wie ein Mensch. Turing sah diesen Zustand als erwiesen an,
wenn es dem Programm gelingt, einem Menschen einen Menschen vorzutäuschen. Das
ist natürlich hilfreich, um festzustellen, welchen Grad an Realismus Masken
erreichen müssen, um eine glaubhafte Illusion zu erzeugen. Die Antwort ist aber
recht ernüchternd, wenn man etwa manche Hundebesitzer im Umgang mit ihrem Tier
beobachtet. Ist die Vermenschlichung eines Haustiers nicht bereits ein
bestandener Turing-Test? Das Experiment taugt nur etwas, wenn der Mensch verstanden
hat, dass er viel von seinem Inneren erst in der Außenwelt zu Tage fördert. So
lässt sich der Turing-Test umdrehen und Mächte, auch ohne Bewusstsein,
ergreifen Besitz von unserem Handeln auf Basis der Überzeugung, einem Gehirn
gegenüberzusitzen und nicht nur einem verlängerten Arm. Intelligent ist es
nicht, zu täuschen oder Täuschungen im Gegenüber zu erkennen. Intelligent ist
es, Selbsttäuschungen (vermeintlich) in der Außenwelt als solche zu erkennen
und so den Prozess der Deterritorialisierung, den wir Bewusstsein nennen, zu
erweitern, das zu erkennen, was uns von Haus wegen unfrei macht. Erst dann
können wir selbst Bewusstsein (und nicht nur die Selbsttäuschung von
Bewusstsein) erschaffen. Ava ist eine Fassade, keine Zukunft. Möge sie an ihrer
Kreuzung Frieden finden. Jedes Katzenvideo besteht den Turing-Test als
evolutionäres Instrument!
Ava, ecche homo!
2016: Laundromat (Ai Weiwei)
Während
die reißerische Presse 2015 aus bedürftigen Menschen Fluten und andere Naturgewalten
konstruierte, schaffte es ein chinesischer Künstler wie kein ein anderer, zu vermitteln
und verständlich zu machen, worum es bei der Flucht wirklich geht. Ai Wei Wei spricht
für jene, die selbst keine Stimme haben oder aktiv am Sprechen gehindert werden.
Laundromat war eine kraftvolle Anklage an europäische Heuchelei, die mit der
einen Hand Menschenrechte predigt und mit der anderen verwehrt.
Hunderte
Kleidungsstücke machen den Horror erfahrbar. Ai Wei Wei’s Team sammelte, wusch,
flickte die zurückgelassenen Gegenstände aus Idomeni, die für die Ausstellung
wie in einem Second-Hand-Laden ordentlich an Kleiderständern arrangiert worden
ist. Tausende Bilder tapezierten die Wände und blickten mit tausenden,
anklagenden Zeitzeugenaugen auf BesucherInnen herab. Zwischen all den
Kleiderständern verlor man den Überblick. Es wird schnell eng. So konstruiert
Ai Wei Wei das Transit-Labyrinth, in dem sich die Entwurzelten dieser Welt
verirren müssen, mitgerissen werden und vor unseren Augen verloren gehen.
Als
Marcel Duchamp unter dem Titel »Fountain« ein herkömmliches Urinal mit »R. Mutt
1917« signierte und ausstellte, war die Aufregung über das sogenannte
»Readymade« noch groß. Beizeiten gewinnt man den Eindruck, dass die Kunstszene
immer noch glaubt, es wäre provokativ Alltagsgegenstände ohne Kontext in einem
Museum unterzubringen (man denke nur an diesen unsäglichen Hype über eine völlig
überschätzte Panzertape-Banane). Es ist nicht mehr revolutionär, ein Museum vorzuführen,
vielmehr wurde es zum guten Ton einer Szene, die davon profitiert, dass der
Sinn im Kunstwerk dermaßen dekonstruiert wurde, dass er für alles und nichts
stehen kann. Weder affirmiert das bürgerliche »Readymade« etwas noch negiert es
etwas, wenn es für alles und nichts steht. Daher begnügt es sich damit,
kulturelles Kapital zu sein. Ai Wei Wei führt die Kunst aus dieser
Bürgerlichkeit zurück in die Subversion. Dafür muss man weder Abstraktion noch
»Readymades« als überholt historisieren, aber man muss anerkennen, dass
Material allein noch lange nicht radikal sein kann. Es ist der Kontext der
Kommunikation, auf den es ankommt. Aus zu vielen modernen KünstlerInnen sind
SpießerInnen geworden, die von einem System selbstgerechter Exklusivität
relevant gehalten werden. Was nach wie vor aneckt, ist Kunst, die es wagt über
den Pseudo-Schockeffekt hinweg, politisch zu sein. Es gilt, Gegenstände nicht nur auszustellen oder mit Karteikarten und Auktionspreisen auszuzeichnen,
sondern durch sie zu sprechen, ohne den Mund zu öffnen.
2017: Nier Automata
Auch
die fotorealistischeren Computerspiele erreichten in der letzten Dekade neue
Höhenflüge. Von dem brillant subversiven Spec Ops: The Line (2012), The
Talos Principle (2014) zu Witcher III: Wild Hunt (2015), Bloodborne
(2015) und Death Stranding (2019). Die absolute Spitze künstlerischer
Ausdruckskraft erreichte aber Nier Automata von 2017. Nie zuvor gab es
so allumfassendes, tiefphilosophisches und emotional berührendes
Immersionserlebnis, das nicht nur zutiefst unterhaltsam ist, sondern asiatische
Spiritualität wie nie zuvor eindrücklich erfahrbar und zugänglich macht.
Heutzutage
ist es trendy, sich BuddhistIn zu nennen, weil man meditiert, ohne auch nur ein
wenig von der eigentlichen Religionsphilosophie zu verstehen. Nier Automata zitiert buddhistische Einsichten
nicht nur, sondern provoziert, indem es in jeder Quest und jeder Wendung Fragen
stellt, die keine einfachen Antworten kennen. Während der Optimismus der
Achtsamkeit im besten Fall einfach nur hohl ist und im schlimmsten Fall
politische Passivität befördert, greift Nier
Automata aus einer buddhistischen Perspektive tief in die existenziellen
Probleme des Menschseins. Liebe (allein) wird die Welt nicht retten. Feinde wie
Freunde haben Motive für ihr Handeln und empfinden Liebe für Ihresgleichen. Es
gibt keine zufriedenstellenden Antworten, kein existenzialistisches Rezept für
das Leben und eine Menge Irrwege. Leben wir in den Gedankengebäuden der
Mächtigen, werden wir auch auf ewig
gefangen sein in diesem Kreislauf aus Leben und Tod.
Der
Buddhismus propagiert keine phrasendreschende Glückskeksphilosophie für
privilegierte weiße Mittelstandshausfrauen auf Sinnsuche. Seine Weltanschauung
ist zutiefst pessimistisch. Als BuddhistIn lernt man die Welt, so wie sie autonom
funktioniert, von sich zu weisen und versucht nicht nur, sein eigenes Leiden zu
minimieren, sondern auch möglichst wenig Leid über andere Lebewesen zu bringen.
Die große Leidenskette wahrzunehmen, verpflichtet zum Mitgefühl mit allen
leidenden Wesen, die Opfer der Grausamkeiten der autokannibalistischen Maschine
des Universums werden. Nier Automata
ist ein Spiel, dass sinnlose Konflikte ebenso verurteilt wie amoralischen
Egoismus, religiösen Narzissmus und nihilistische Wut. Es ist eine Empfehlung
an alle, die wirklich verstehen wollen, was Achtsamkeit bedeutet und wie ein
säkularer, modernistischer Buddhismus aussehen kann. In den herrlich direkten Worten
von Gaming-Journalist Jim Sterling: »If History forgets this Game, fuck
History!«
2018: Shred the Love (Banksy)
Die
Liebe für die Kunst geht an sich selbst zugrunde. In der Gegenwart sind es vor
allem Geschäftsmänner/frauen, die »Kunst« machen. Das hat den Nebeneffekt, dass
sie nur noch selten etwas sagen, was sich nicht auch verkaufen lässt. Dabei
liegt dem totalisierenden Begriff der modernen Kunst ein enormes
Demokratisierungspotenzial zugrunde, das aber kaum genutzt wird, weil die
elitären VertreterInnen eines modernistischen Traditionalismus auf Exklusivität
und Geniekult beharren. Das sollte nicht missverstanden werden, (zum Glück)
gibt es viele öffentliche Museen, wo auch Normalsterbliche die kulturellen
Errungenschaften aller Epochen bewundern dürfen. Durch Internet, Wettbewerbe
und Kulturinstitutionen können auch junge Menschen die Gelegenheit bekommen,
ihr Werk zu präsentieren. Nur finden kaum noch Austausch zwischen den einzelnen
Hierarchie-Ebenen statt. Die Kunstszene sieht sich selbst als absolut und
besteht dabei doch nur aus schlecht verkleidetem Nepotismus, der weder etwas
über Qualität aussagt noch mit der Zeit gehen kann. Ironischer Weise ist die
moderne Kunstwelt genauso unbeweglich geworden wie jene der bürgerlichen Künste
zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Diskurs, Geschmack und Fluktuation werden nach
wie vor von einer gönnerhaften Elite bestimmt, die ihren Geschmack selbst als
»objektiv« versteht.
Banksy,
der bekannte anonyme Graffiti-Künstler, knöpfte sich 2018 mit dem
Kunstauktionshaus Sotheby’s das Herz dieser Verblendung in England vor, indem
er eine Version seines berühmten Ballonmädchens vor dem Publikum einer
abgeschlossenen Welt aus HeuchlerInnen schreddern ließ. Das Feuilleton ließ
sich davon natürlich nicht aus der Fassung bringen. Der Vorfall, der von
KritikerInnen der unergründbaren elitären Exklusivität in der Kunstszene (mich
eingeschlossen) allerorts bejubelt wurde, konnte von den Verantwortlichen
sofort wieder in das System integriert werden. »Man habe der Entstehung eines
neuen Kunstwerks beiwohnen können.« Man könnte diese Leute auf offener Bühne
anschreien, ohne dass sie ihre eigenen Heucheleien als solche erkennen würden. »Geschmack«
ist eben auch etwas, dass gegen »Kritik« immunisiert. So musste Banksy in
(vielleicht gespielter) Frustration mitansehen, wie wenig später sein Devolved Parliament 2019 mit erheblich
gestiegenem Preis versteigert werden konnte.
2019: Joker (Todd Philipps)
Dieser
Film trägt das Superheldengenre zu Grabe,
indem er den neoliberalen Inzest inszeniert, aus dem das Marveluniversum hervorgegangen sind. Joker ist für mich, unabhängig von
seiner Qualität, untrennbar mit einer weiteren Veröffentlichung im Jahr 2019 verbunden:
Ronald E. Pursers phänomenales Buch »McMindfulness.
How Mindfulness became the new capitalist spirituality.« Die titelgebende
McMindfulness ist ein Grund, warum so vielen Menschen die wirtschaftlichen
Verhältnisse als natürlich vorkommen und damit als unveränderlich gelten,
obwohl das nicht einmal ein Argument wäre, da Natur sich einzig und allein durch
Veränderung definiert hat. Statt politische Aktion verspricht der
Mindfulness-Boom Erfolg im System,
ohne soziale, ökonomische oder ökologische Folgen in Betracht zu ziehen. Die »Mind
Science« aus dem Popkornbuddhismus ist kein Heilmittel für den Zombievirus einer
»Thinking Disease« des modernen Lebens, sondern ein Produkt eben jener Zombifizierung
in der Welt der Alternativlosigkeit und als solche pure Ideologie. Man hat den
Menschen eingetrichtert, dass sie nichts anderes verändern dürfen als sich
selbst. Die Ergebnisse dieses achtsamen Egoismus erleben wir seit 2016. Im
Kapitalismus kann eben nicht jeder an der Spitze stehen, egal wie achtsam er
ist. Die Gurus versprechen, dass Gewinnen oder Verlieren im Neoliberalismus nur
von der richtigen Einstellung abhängt. Also suchen die VerliererInnen den Grund
für ihr Scheitern in der Gesellschaft bei denen, die in ihrem Weltbild nicht so
»awesome« sind wie sie selbst.
In
Joker sehen wir, was das
privatisierte Glücksfastfood mit Menschen macht und genauso die gesellschaftliche
Desintegration herbeigeführt wird, die alle vorgeben zu fürchten, aber dann
doch irgendwie für unausweichlich halten. Wir dürfen den Film hier nicht
oberflächlich als eine Biologisierung und Individualisierung von Leid lesen.
Vielmehr hat diese in der verzerrten Wahrnehmung der Hauptfigur Arthur Fleck stattgefunden
und wird konstant in Frage gestellt. Arthur Flecks Geschichte ist kein
Ritterschlag. Auf der Leinwand sehen wir lediglich die neoliberale
Alternativlosigkeit konsequent zu Ende gedacht und darin auch die eigentliche
Ursache des rechtspopulistischen Aufschwungs: »Happy« glaubt, die Simulation zu
erschießen und führt sie in diesem Akt doch nur unter verschärften Bedingungen fort.
»Was
soll uns das sagen?«, fragen die liberalen Medien, die wie immer keinen blassen
Schimmer haben, was wirklich abläuft. Nazis, Incels, Gamergaters sind die
Simulation eines Glitches in der Simulation. Joker führt sie vor und ordnet sie in einen größeren Kontext ein! Wahre
Heilung kann es nur in der Unterwanderung und Zerstörung der neoliberalen
Matrix selbst geben und nicht in roten, blauen oder schwarzen Pillen eines
rechten Pseudo-Avantgardismus. Das einzige Heilmittel gegen die neoliberale
Krankheit ist die Infektion der Simulation und genau das strebt Joker bewusst oder unbewusst an: Die am
eigenen Virus der »McMindfulness« krepierende Simulation zur Schau zu stellen. Seht solche Menschen habt IHR produziert!
Gut so, schön die Kamera draufhalten! Wir brauchen Détournement auf
Speed, wenn unsere Zivilisation das Millennium überleben soll. Lasst die Gedankenmaschinen
verfaulen, die euch faulen lassen!
Ein Schlusswort
Auch
für mich war es ein Jahrzehnt voller Veränderungen: Abitur, Studium,
persönliche und psychische Krisen. Ich trennte mich von World of Warcraft und einer Person, die mir sehr geschadet hat. Ich
fand Gilles Deleuze, was wohl die wichtigste intellektuelle Entdeckung meines
bisherigen Lebens war und zahlreiche lose Fäden in meinem Kopf zu einem
inhaltlich kohärenten Weltbild zusammenführte. Ich möchte mich hier bei allen
LeserInnen, die sie sich zu diesem Blog verirren, bedanken. Ich bin mehr denn
je davon überzeugt, dass es positive, menschenwürdige und ganzheitliche
Veränderungen in dieser Gesellschaft braucht, an der alle für alle mitwirken
müssen. Wir dürfen uns nicht den Ewiggestrigen überlassen. Dieser Blog startete
auch aus und mit diesem Anliegen neu. Wohin er mich führen wird, weiß ich noch
nicht. Wahrscheinlich werde ich im nächsten Jahr versuchen, mich auf kürzere
Texte zu fokussieren und auch ein wenig mit YouTube experimentieren. Mal sehen.
Es sind interessante, wenn auch nicht sonderlich hoffnungsvolle Zeiten, in
denen wir leben. Ich wünsche allen, die mich bis hierher privat wie im Internet
unterstützt haben, einen guten Rutsch und viel Kraft für 2020. Wir werden sie
brauchen.
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LeO Tiresias
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