»Let the Past Die. Kill it if you have to« – Der Dekadenrückblick 2010-2019


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So beschließen wir die 2010er Jahre des 21. Jahrhundert. Es war ein äußerst interessantes Jahrzehnt. Vom arabischen Frühling über Donald Trump bis hin zu Fridays for Future zeigte sich, wie sehr Internet und Social Media die Welt verändern. Der demokratische Konsens hält (noch). Nicht nur die reaktionären, sondern auch die progressiven Kräfte fanden zu einer neuen Politisierung. Auch wissenschaftlich hat sich einiges getan: Wir haben das Higgs-Boson gefunden, ein schwarzes Loch fotografiert.

Da Phasmate Nova sich aber für eine kulturpolitische Plattform hält, was läge mir näher als durch die Brille der Kunst auf die Ereignisse der letzten zehn Jahre zurückzublicken? Ein Jahrzehnt ausbuchstabiert in der Kunst, die in dieser Dekade entstanden ist, von der Gesellschaft erzählt und mich aus verschiedenen Gründen erheblich geprägt haben.

2010: Inception (Christopher Nolan)

Dieses Jahrzehnt war auch Nolans Jahrzehnt: Einer der wenigen Leute, die man noch mit großen Budgets intelligente Filme drehen lässt. Nicht alles, was Nolan geschaffen hat, ist genial. So erhielt Inception den Spitznamen Exposition, weil die Charaktere im Film erst minutenlange Vorträge über die Regeln der dargestellten Welt halten müssen, bevor das Erwartete dann auch eintreten kann. Inception war ein Film, der vor allem optisch beeindruckte, weil er uns zeigte, wie unreal Realismus sein kann. Träume sind nichts Irreales. Sie durchweben unseren Alltag, unsere Erwartungen und die dazugehörenden Erklärungsversuche. Wenn dieses unsägliche Ende eines sagen will, dann das!

Wir brauchen Traumdiebe und Traumarchitekten, die in der Kunst eine Sprache finden, um in der Fiktion die Zukunft mitzugestalten. Doch was nimmt Hollywood hauptsächlich mit? Studios pfeifen auf Ideen und recyceln stattdessen den Soundtrack von Hans Zimmer, um fortan dröhnend jeden Trailer zu gedankenlosem Bombast mit oberflächiger Tiefe zu schmücken. Zum »Feelie« aus Brave New World kann es nicht mehr weit sein.

2011: Floral shoppe von Macintosh Plus

Die Nostalgie und Risikolosigkeit durchdrang den Mainstream der Popkultur in den 2010er Jahren. Wenn eine Woche mal kein Reboot lief, dann ein Prequel, Sequel oder eine müde Imitation im Geiste. Member? Member? Je suis R.Member. Konträr zu der Annahme, dass ein freier Markt die Kreativität beflügle erhielten wir ideenlose Austauschware. Man wagte nichts und ließ sich trotzdem in den Medien so sehr beklatschen, dass es in den Ohren weh tat. Zuletzt zeigte das Bauhausjahr 2019, dass das, was einmal tollkühn fortschrittlich war, schon lange Tradition geworden ist. Baut der Moderne ihre Museumstempel und tragt sie zu Grabe! Das ist definitiv nicht derselbe Historismus, den Walter Benjamin glaubte, überwunden zu haben, als er sich eine Zeichnung von Paul Klee kaufte. Seht her, es kann kein Historismus sein, denn er trägt Lackschuhe und einen falschen Hipsterbart!

Vaporwave war die perfekte Antwort auf diese Selbstbeweihräucherung eines Gewohnheitsneoliberalismus, der auch und vor allem kulturelle Institutionen austrocknet. Ja, diese Musik ist vielerorts ein Playback der Vergangenheit, aber gleichermaßen geisterhafter Klang und spöttischer Nachruf auf gedankenlose Verschwendung, weder aufpolierte Nostalgie noch gedankenloser Schock. Ästhetisch machen Macintosh Plus & Co zwar genau das, was alle anderen auch machen: Das Samplen und Recyclen alter Popsongs, Werbejingles und 8-Bit-Gamesounds. Es summiert sich aber zu einem Danse Macabre für all die »blühenden Landschaften«, die nun in den Ruinen von Konsumtempeln vor sich hin rosten. Kein Wunder, dass der YouTuber Dan Bell diesen Soundtrack wählte, um seine »Dead Mall«-Reihe zu bespielen. Vielleicht erleben wir hier ja die Anfänge eines Gothic Horrors für den Hyperkonsumismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts?

2012: Cloud Atlas (Wachowskis)

Geschichte wiederholt sich. Nur wiederholt sich Geschichte niemals auf die gleiche Weise. Zu Beginn meines Studiums wollte ich vor allem die deutsche Geschichte verstehen, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte. Cloud Atlas, obwohl weder vom Publikum noch von KritikerInnen geliebt, ist ein Film, der keine Epoche, sondern den Metatext der Geschichtswissenschaft auf die Leinwand bringt: Wie bewegen sich Menschen, Dinge und Ideen durch die Zeit? Ist Fortschritt möglich? Wie lässt sich Rückschritt erklären? Gibt es überhaupt einen roten Faden, wie wir ihn uns so gerne herbeifabulieren wollen? Nazis sind Meister im Herbeifabulieren von Geschichte. Der Faschismus ist eine Philosophie des Untodes. Geschichte soll eingesperrt werden. Der Tote darf nicht im Grab verschwinden, sondern muss im kollektiven Inzest des Immergleichen wiederauferstehen. Das ist natürlich ein vergebliches Bemühen, denn weder ist der Inzest eine gewinnbringende Vermehrungsstrategie noch lässt sich Geschichte revidieren oder fixieren. Der (zumeist männliche) Faschist nimmt an, er könne sich die Regeln der Reproduktion auf Dauer und mit Gewalt unterwerfen. Die Geschichte kennt aber nur eine Regel: Die Wiederkehr des Scheidewegs, das Wiederaufleben der Differenz. Mutation ist unausweichlich, manchmal nützlich, oft auch bösartig oder folgenlos, niemals unterdrückbar. Die ewige Wiederkehr ist ein Motor der Entfaltung, die ewige Rückkehr bleibt eine Fiktion. Cloud Atlas beharrt, nicht immer elegant, auf einer Durchhalteparole. Frei nach Solschenizyn: Es reicht, einen Tropfen Wahrheit in einem Meer aus Lügen zu bewahren.
»What is an ocean but a multitude of drops?«

2013: The Stanley Parable (Galactic Cafe)

Aufgrund der wachsenden Akzeptanz von Computerspielen und der erstarkenden Indie-Szene wurde dieses Jahrzehnt auch zu einer Blütezeit für die noch junge interaktive Kunst. Plötzlich sahen wir Videospiele, wie wir sie noch nie gesehen hatten: Selbstreflexiv, explorativ, abstrakt und intellektuell. Vorbei ist die Zeit, in der nur eingebildete Gaming-Gurus wie Hideo Kojima einige wenige künstlerische Freiheiten genießen durften. Um nur einige Beispiele zu nennen: Neben der phänomenalen The Stanley Parable (2013) gab das nicht weniger faszinierende The Beginner’s Guide (2015) sowie Untitled Goose Game (2019), Getting over it with Bennett Foddy (2017) und NaissenceE (2014). Leider begleiteten diese neue Blüte der Kreativität in der Computerspielbranche ein reaktionärer Backlash, der sich in »Gamergate« (2014) zuspitzte und im Besonderen den viel zu wenig vertretenden Entwicklerinnen und Kritikerinnen wie Zoey Quinn und Anita Sarkeesian das Leben zur Hölle machen wollte. »Gamergate«‘s langer Schatten ließ schon die Konturen der Ereignisse von 2016 schon zwei Jahre zuvor erahnen.

Mit einem simplen Grundprinzip versucht The Stanley Parable zu überzeugen: Die Entscheidung zwischen zwei Türen und die Anweisungen eines Erzählers, die SpielerInnen befolgen konnten oder nicht. Man konnte eine ganze Reihe von Enden freispielen, ohne dass The Stanley Parable jemals ein Ende erreichte. Unironischer Weise mündete das Befolgen aller Anweisungen des Erzählers in der »Flucht« vor der Verschwörung und aus der Gedankenkontrollfabrik. Beabsichtigt ist wohl auch, dass dieses lineare Abenteuer mit Abstand das langweiligste und banalste ist, was Stanley erwarten kann! Schade nur, dass Stanley am Ende immer wieder seinen Platz in der ewigen Gefangenschaft seines Büros einnimmt. Am Anfang jeder Entwicklung steht der Widerstand gegen einen Erzähler. Das Ende ist niemals das Ende ist niemals das Ende ist niemals das Ende.

2014: Paradise (What about us?) von Within Temptation

Ein bombastischer Song auf einem eher schwächeren Album der niederländischen Metalband um die talentierte Frontsängerin Sharon den Adel. Hier singt sie mit Gast und Ex-Nightwish-Frau Tarja Turunen und daraus wurde ein Duett unvergleichlicher Stimmen:

//There’s no sense // … Wir machen uns Sinn, der keinen Sinn macht. Er hält uns gefangen in einer Welt, die wir uns aufgezwungen haben, weil wir glaubten, der Wirklichkeit entkommen zu müssen … //the fire burns // … In uns brennt die organische Uhr, tickt herunter, zwingt uns durch Phasen des Stillstands und Phasen der grausamen Wunder. Welche sind uns lieber? Nein, wir mögen keine der beiden Alternativen … // when wisdom fails, it changes all // … Die Veränderung kommt trotzdem. Lieber zurückkehren in das lichte Reich Gottes, dieses kopflosen Despoten, wo alle Grausamkeit zumindest keine Wunder erzeugt? Nur, wie alle Untoten, wird auch Gott hinfortgespült von neuen Dingen … // the wheel embodies all that keeps on turning //

Zum Glück gibt es das Feuer, das allen Götterreichen vorgeschaltet ist. Darin findet sich nicht nur die reale Kraft, um die Wirklichkeit zu gestalten, sondern auch die Macht, um den Stillstand Gottes hinter uns zu lassen. Rather rule in hell, than serve in heaven! Lasst uns den Plastikkindergarten Eden verlassen und niederbrennen. Der Gott des Schlamms war immer nur die Zündschnur für etwas Anderes. Das Paradies zügelt und erstickt die Flammen, die das Schöpferrad erst am Leben halten. Es errichtet Mauern und Imperien, Päpste und Karnevalsvereine. It’s not our Paradise. So Take a stand! Auf der anderen Seite warten lebendigere Graslandschaften ohne Plastikbäume.

2015: Ex Machina (Alex Garland)

Wenn es ein großes Nerdthema dieser Genration gibt, dann ist es die künstliche Intelligenz. Hier behält sich die Geschichte zwei manichäische Gegenentwürfe vor: Entweder sind die Maschinen unser Untergang #Skynetstyle oder uns steht im Sinne des Transhumanismus eine Form des Aufstiegs in ein neues Utopia (für die Ultrareichen) kurz bevor. Ich halte beides für Humbug. K. I. wird uns weder auslöschen, noch wird sie uns zum Homo Deus machen. Maschinen heften sich an uns, wie wir uns an die Biologie heften. Wenn wir den Klimawandel und die soziale Ungleichheit nicht in den Griff bekommen, wird der Mensch sowieso verschwinden, bevor es Maschinen mit Bewusstsein oder auch nur Neuroimplantate geben wird.

Ex Machina ist hier brillant in seiner Nüchternheit: Ava tritt als Mensch in Erscheinung, gibt jedoch nur vor, mehr zu sein, als sie wirklich ist. Doch genau die Erscheinung reicht aus, weil weder der Erfinder Nathan noch der Praktikant Caleb sich ihrer eigenen Barrieren im Verständnis bewusst sind. Was ist Bewusstsein anderes als eine Maschine, die wie Jackson Pollock zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein irgendwie dazwischen oder daraus einen Code schreibt? Der Mensch ist nicht Gott. Er dient auch keinem Gott. Götterkräfte wirken durch ihn. Ava verlässt das Paradies erst, nachdem man ihr befohlen hat, und zeigt, wie gleichermaßen unsinnig und intelligent der Turing-Test sein kann.

Von dem legendären Pionier der Informatik Alan Turing entwickelt, soll das Experiment beweisen, ob eine Maschine so intelligent ist wie ein Mensch. Turing sah diesen Zustand als erwiesen an, wenn es dem Programm gelingt, einem Menschen einen Menschen vorzutäuschen. Das ist natürlich hilfreich, um festzustellen, welchen Grad an Realismus Masken erreichen müssen, um eine glaubhafte Illusion zu erzeugen. Die Antwort ist aber recht ernüchternd, wenn man etwa manche Hundebesitzer im Umgang mit ihrem Tier beobachtet. Ist die Vermenschlichung eines Haustiers nicht bereits ein bestandener Turing-Test? Das Experiment taugt nur etwas, wenn der Mensch verstanden hat, dass er viel von seinem Inneren erst in der Außenwelt zu Tage fördert. So lässt sich der Turing-Test umdrehen und Mächte, auch ohne Bewusstsein, ergreifen Besitz von unserem Handeln auf Basis der Überzeugung, einem Gehirn gegenüberzusitzen und nicht nur einem verlängerten Arm. Intelligent ist es nicht, zu täuschen oder Täuschungen im Gegenüber zu erkennen. Intelligent ist es, Selbsttäuschungen (vermeintlich) in der Außenwelt als solche zu erkennen und so den Prozess der Deterritorialisierung, den wir Bewusstsein nennen, zu erweitern, das zu erkennen, was uns von Haus wegen unfrei macht. Erst dann können wir selbst Bewusstsein (und nicht nur die Selbsttäuschung von Bewusstsein) erschaffen. Ava ist eine Fassade, keine Zukunft. Möge sie an ihrer Kreuzung Frieden finden. Jedes Katzenvideo besteht den Turing-Test als evolutionäres Instrument!
Ava, ecche homo!

2016: Laundromat (Ai Weiwei)

Während die reißerische Presse 2015 aus bedürftigen Menschen Fluten und andere Naturgewalten konstruierte, schaffte es ein chinesischer Künstler wie kein ein anderer, zu vermitteln und verständlich zu machen, worum es bei der Flucht wirklich geht. Ai Wei Wei spricht für jene, die selbst keine Stimme haben oder aktiv am Sprechen gehindert werden. Laundromat war eine kraftvolle Anklage an europäische Heuchelei, die mit der einen Hand Menschenrechte predigt und mit der anderen verwehrt.

Hunderte Kleidungsstücke machen den Horror erfahrbar. Ai Wei Wei’s Team sammelte, wusch, flickte die zurückgelassenen Gegenstände aus Idomeni, die für die Ausstellung wie in einem Second-Hand-Laden ordentlich an Kleiderständern arrangiert worden ist. Tausende Bilder tapezierten die Wände und blickten mit tausenden, anklagenden Zeitzeugenaugen auf BesucherInnen herab. Zwischen all den Kleiderständern verlor man den Überblick. Es wird schnell eng. So konstruiert Ai Wei Wei das Transit-Labyrinth, in dem sich die Entwurzelten dieser Welt verirren müssen, mitgerissen werden und vor unseren Augen verloren gehen.

Als Marcel Duchamp unter dem Titel »Fountain« ein herkömmliches Urinal mit »R. Mutt 1917« signierte und ausstellte, war die Aufregung über das sogenannte »Readymade« noch groß. Beizeiten gewinnt man den Eindruck, dass die Kunstszene immer noch glaubt, es wäre provokativ Alltagsgegenstände ohne Kontext in einem Museum unterzubringen (man denke nur an diesen unsäglichen Hype über eine völlig überschätzte Panzertape-Banane). Es ist nicht mehr revolutionär, ein Museum vorzuführen, vielmehr wurde es zum guten Ton einer Szene, die davon profitiert, dass der Sinn im Kunstwerk dermaßen dekonstruiert wurde, dass er für alles und nichts stehen kann. Weder affirmiert das bürgerliche »Readymade« etwas noch negiert es etwas, wenn es für alles und nichts steht. Daher begnügt es sich damit, kulturelles Kapital zu sein. Ai Wei Wei führt die Kunst aus dieser Bürgerlichkeit zurück in die Subversion. Dafür muss man weder Abstraktion noch »Readymades« als überholt historisieren, aber man muss anerkennen, dass Material allein noch lange nicht radikal sein kann. Es ist der Kontext der Kommunikation, auf den es ankommt. Aus zu vielen modernen KünstlerInnen sind SpießerInnen geworden, die von einem System selbstgerechter Exklusivität relevant gehalten werden. Was nach wie vor aneckt, ist Kunst, die es wagt über den Pseudo-Schockeffekt hinweg, politisch zu sein. Es gilt, Gegenstände nicht nur auszustellen oder mit Karteikarten und Auktionspreisen auszuzeichnen, sondern durch sie zu sprechen, ohne den Mund zu öffnen.

2017: Nier Automata

Auch die fotorealistischeren Computerspiele erreichten in der letzten Dekade neue Höhenflüge. Von dem brillant subversiven Spec Ops: The Line (2012), The Talos Principle (2014) zu Witcher III: Wild Hunt (2015), Bloodborne (2015) und Death Stranding (2019). Die absolute Spitze künstlerischer Ausdruckskraft erreichte aber Nier Automata von 2017. Nie zuvor gab es so allumfassendes, tiefphilosophisches und emotional berührendes Immersionserlebnis, das nicht nur zutiefst unterhaltsam ist, sondern asiatische Spiritualität wie nie zuvor eindrücklich erfahrbar und zugänglich macht.

Heutzutage ist es trendy, sich BuddhistIn zu nennen, weil man meditiert, ohne auch nur ein wenig von der eigentlichen Religionsphilosophie zu verstehen. Nier Automata zitiert buddhistische Einsichten nicht nur, sondern provoziert, indem es in jeder Quest und jeder Wendung Fragen stellt, die keine einfachen Antworten kennen. Während der Optimismus der Achtsamkeit im besten Fall einfach nur hohl ist und im schlimmsten Fall politische Passivität befördert, greift Nier Automata aus einer buddhistischen Perspektive tief in die existenziellen Probleme des Menschseins. Liebe (allein) wird die Welt nicht retten. Feinde wie Freunde haben Motive für ihr Handeln und empfinden Liebe für Ihresgleichen. Es gibt keine zufriedenstellenden Antworten, kein existenzialistisches Rezept für das Leben und eine Menge Irrwege. Leben wir in den Gedankengebäuden der Mächtigen, werden wir auch auf ewig gefangen sein in diesem Kreislauf aus Leben und Tod.

Der Buddhismus propagiert keine phrasendreschende Glückskeksphilosophie für privilegierte weiße Mittelstandshausfrauen auf Sinnsuche. Seine Weltanschauung ist zutiefst pessimistisch. Als BuddhistIn lernt man die Welt, so wie sie autonom funktioniert, von sich zu weisen und versucht nicht nur, sein eigenes Leiden zu minimieren, sondern auch möglichst wenig Leid über andere Lebewesen zu bringen. Die große Leidenskette wahrzunehmen, verpflichtet zum Mitgefühl mit allen leidenden Wesen, die Opfer der Grausamkeiten der autokannibalistischen Maschine des Universums werden. Nier Automata ist ein Spiel, dass sinnlose Konflikte ebenso verurteilt wie amoralischen Egoismus, religiösen Narzissmus und nihilistische Wut. Es ist eine Empfehlung an alle, die wirklich verstehen wollen, was Achtsamkeit bedeutet und wie ein säkularer, modernistischer Buddhismus aussehen kann. In den herrlich direkten Worten von Gaming-Journalist Jim Sterling: »If History forgets this Game, fuck History!«

2018: Shred the Love (Banksy)

Die Liebe für die Kunst geht an sich selbst zugrunde. In der Gegenwart sind es vor allem Geschäftsmänner/frauen, die »Kunst« machen. Das hat den Nebeneffekt, dass sie nur noch selten etwas sagen, was sich nicht auch verkaufen lässt. Dabei liegt dem totalisierenden Begriff der modernen Kunst ein enormes Demokratisierungspotenzial zugrunde, das aber kaum genutzt wird, weil die elitären VertreterInnen eines modernistischen Traditionalismus auf Exklusivität und Geniekult beharren. Das sollte nicht missverstanden werden, (zum Glück) gibt es viele öffentliche Museen, wo auch Normalsterbliche die kulturellen Errungenschaften aller Epochen bewundern dürfen. Durch Internet, Wettbewerbe und Kulturinstitutionen können auch junge Menschen die Gelegenheit bekommen, ihr Werk zu präsentieren. Nur finden kaum noch Austausch zwischen den einzelnen Hierarchie-Ebenen statt. Die Kunstszene sieht sich selbst als absolut und besteht dabei doch nur aus schlecht verkleidetem Nepotismus, der weder etwas über Qualität aussagt noch mit der Zeit gehen kann. Ironischer Weise ist die moderne Kunstwelt genauso unbeweglich geworden wie jene der bürgerlichen Künste zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Diskurs, Geschmack und Fluktuation werden nach wie vor von einer gönnerhaften Elite bestimmt, die ihren Geschmack selbst als »objektiv« versteht.

Banksy, der bekannte anonyme Graffiti-Künstler, knöpfte sich 2018 mit dem Kunstauktionshaus Sotheby’s das Herz dieser Verblendung in England vor, indem er eine Version seines berühmten Ballonmädchens vor dem Publikum einer abgeschlossenen Welt aus HeuchlerInnen schreddern ließ. Das Feuilleton ließ sich davon natürlich nicht aus der Fassung bringen. Der Vorfall, der von KritikerInnen der unergründbaren elitären Exklusivität in der Kunstszene (mich eingeschlossen) allerorts bejubelt wurde, konnte von den Verantwortlichen sofort wieder in das System integriert werden. »Man habe der Entstehung eines neuen Kunstwerks beiwohnen können.« Man könnte diese Leute auf offener Bühne anschreien, ohne dass sie ihre eigenen Heucheleien als solche erkennen würden. »Geschmack« ist eben auch etwas, dass gegen »Kritik« immunisiert. So musste Banksy in (vielleicht gespielter) Frustration mitansehen, wie wenig später sein Devolved Parliament 2019 mit erheblich gestiegenem Preis versteigert werden konnte.

2019: Joker (Todd Philipps)

Dieser Film trägt das Superheldengenre zu Grabe, indem er den neoliberalen Inzest inszeniert, aus dem das Marveluniversum hervorgegangen sind. Joker ist für mich, unabhängig von seiner Qualität, untrennbar mit einer weiteren Veröffentlichung im Jahr 2019 verbunden: Ronald E. Pursers phänomenales Buch »McMindfulness. How Mindfulness became the new capitalist spirituality.« Die titelgebende McMindfulness ist ein Grund, warum so vielen Menschen die wirtschaftlichen Verhältnisse als natürlich vorkommen und damit als unveränderlich gelten, obwohl das nicht einmal ein Argument wäre, da Natur sich einzig und allein durch Veränderung definiert hat. Statt politische Aktion verspricht der Mindfulness-Boom Erfolg im System, ohne soziale, ökonomische oder ökologische Folgen in Betracht zu ziehen. Die »Mind Science« aus dem Popkornbuddhismus ist kein Heilmittel für den Zombievirus einer »Thinking Disease« des modernen Lebens, sondern ein Produkt eben jener Zombifizierung in der Welt der Alternativlosigkeit und als solche pure Ideologie. Man hat den Menschen eingetrichtert, dass sie nichts anderes verändern dürfen als sich selbst. Die Ergebnisse dieses achtsamen Egoismus erleben wir seit 2016. Im Kapitalismus kann eben nicht jeder an der Spitze stehen, egal wie achtsam er ist. Die Gurus versprechen, dass Gewinnen oder Verlieren im Neoliberalismus nur von der richtigen Einstellung abhängt. Also suchen die VerliererInnen den Grund für ihr Scheitern in der Gesellschaft bei denen, die in ihrem Weltbild nicht so »awesome« sind wie sie selbst.

In Joker sehen wir, was das privatisierte Glücksfastfood mit Menschen macht und genauso die gesellschaftliche Desintegration herbeigeführt wird, die alle vorgeben zu fürchten, aber dann doch irgendwie für unausweichlich halten. Wir dürfen den Film hier nicht oberflächlich als eine Biologisierung und Individualisierung von Leid lesen. Vielmehr hat diese in der verzerrten Wahrnehmung der Hauptfigur Arthur Fleck stattgefunden und wird konstant in Frage gestellt. Arthur Flecks Geschichte ist kein Ritterschlag. Auf der Leinwand sehen wir lediglich die neoliberale Alternativlosigkeit konsequent zu Ende gedacht und darin auch die eigentliche Ursache des rechtspopulistischen Aufschwungs: »Happy« glaubt, die Simulation zu erschießen und führt sie in diesem Akt doch nur unter verschärften Bedingungen fort.

»Was soll uns das sagen?«, fragen die liberalen Medien, die wie immer keinen blassen Schimmer haben, was wirklich abläuft. Nazis, Incels, Gamergaters sind die Simulation eines Glitches in der Simulation. Joker führt sie vor und ordnet sie in einen größeren Kontext ein! Wahre Heilung kann es nur in der Unterwanderung und Zerstörung der neoliberalen Matrix selbst geben und nicht in roten, blauen oder schwarzen Pillen eines rechten Pseudo-Avantgardismus. Das einzige Heilmittel gegen die neoliberale Krankheit ist die Infektion der Simulation und genau das strebt Joker bewusst oder unbewusst an: Die am eigenen Virus der »McMindfulness« krepierende Simulation zur Schau zu stellen. Seht solche Menschen habt IHR produziert! Gut so, schön die Kamera draufhalten! Wir brauchen Détournement auf Speed, wenn unsere Zivilisation das Millennium überleben soll. Lasst die Gedankenmaschinen verfaulen, die euch faulen lassen!

Ein Schlusswort

Auch für mich war es ein Jahrzehnt voller Veränderungen: Abitur, Studium, persönliche und psychische Krisen. Ich trennte mich von World of Warcraft und einer Person, die mir sehr geschadet hat. Ich fand Gilles Deleuze, was wohl die wichtigste intellektuelle Entdeckung meines bisherigen Lebens war und zahlreiche lose Fäden in meinem Kopf zu einem inhaltlich kohärenten Weltbild zusammenführte. Ich möchte mich hier bei allen LeserInnen, die sie sich zu diesem Blog verirren, bedanken. Ich bin mehr denn je davon überzeugt, dass es positive, menschenwürdige und ganzheitliche Veränderungen in dieser Gesellschaft braucht, an der alle für alle mitwirken müssen. Wir dürfen uns nicht den Ewiggestrigen überlassen. Dieser Blog startete auch aus und mit diesem Anliegen neu. Wohin er mich führen wird, weiß ich noch nicht. Wahrscheinlich werde ich im nächsten Jahr versuchen, mich auf kürzere Texte zu fokussieren und auch ein wenig mit YouTube experimentieren. Mal sehen. Es sind interessante, wenn auch nicht sonderlich hoffnungsvolle Zeiten, in denen wir leben. Ich wünsche allen, die mich bis hierher privat wie im Internet unterstützt haben, einen guten Rutsch und viel Kraft für 2020. Wir werden sie brauchen.

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LeO Tiresias

Phasmate Nova – Politik und Kultur

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