Intellektuelle Geisterjagd & elitärer Geist
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Im Rahmen meiner Abschlussarbeit beschäftigte ich mich wissenschaftlich mit dem Phänomen Steampunk. Als eines der ersten Bücher zum Thema fiel mir Uchronie. Ungeschehene Geschichte von der Antike bis zum Steampunk (2015) in die Hände. Der Autor, ein Historiker namens Johannes Dillinger, deutet Steampunk als eine spezifische Thematik in der von ihm untersuchten literarischen Spielart, über ungeschehene Geschichte (»Uchronie«) zu spekulieren. Im Steampunk gehe es dabei aber weniger darum, konkrete Divergenzpunkte der Geschichtsschreibung (»von hier aus hätte es anders verlaufen können«) auszumachen. Viel mehr steht die Wiederbelebung eines historisierten Lifestyles im Mittelpunkt, der gleichermaßen durch Hommage an die Unterhaltungsliteratur des 19. Jahrhunderts, die noch heute popkulturelle Welten maßgeblich mitbestimmen, fiktionalisiert wird. So lasse sich die Faszination mit dem Sammeln, Übertragen und Nachbilden spezifischer Artefakte, die man grob unter der Bezeichnung »Victoriana« zusammenfassen kann, erklären. Was im Laufe der Geschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere seit den 1960er Jahren mehr und mehr als biedermeierlich, kitschig oder altbacken gesehen wurde, galt plötzlich in einem nicht unbeachtlichen Nischenpublikum, wieder als modern und hipp. Die Frage, warum eine solche retrofuturistische Bewegung gerade Anfang des 21. Jahrhunderts ihren Boom erlebte, ist wohl ebenso faszinierend wie komplex und lässt sich wohl nie zufriedenstellend beantworten. Nach der Dominanz von imaginierten Futurismen und Nihilismen in gegenkulturellen Gruppen, die ihre Legitimation aus der Popularisierung von neuen Technologien und Erkenntnissen zog, tobten sich hier Kreative mit überschwänglichem Optimismus in einer als »überkommen« ad acta gelegten Vergangenheit aus und beschäftigten sich mit unmodernem Kunsthandwerk und ineffizienter, schmutziger Technologie. Was als literarisches Genre in den 1980ern anfing, entwickelte sich zu einer eigenen Subkultur, die ihren Höhepunkt der Popularität einer persönlichen Einschätzung nach um 2011 erreichte. Gleichzeitig konnte sich Steampunk aber nie in der Massenkultur etablieren, wie zahlreiche gefloppte Kreativprojekte (zuletzt die Verfilmung von »Mortal Engines« 2018) zeigen. Man blieb ein erfolgreiches gesellschaftliches Randphänomen und die eigene Passion ein ikonographisch einprägsamer Stil.
Der Intellektuelle aus der Box
Dillinger
spart nicht mit Kritik am Steampunk. Er legt der Szene u. a. ihre Faszination
mit der bürgerlichen und aristokratischen Oberschicht des 19. Jahrhunderts zur
Last und wirft ihnen deswegen eine Romantisierung der Vergangenheit vor, weil Steampunks
sich nur für privilegierte Schichten interessieren würden und die Rolle der brutalen
sozialen Ungleichheit im 19. Jahrhundert herunterspielt hätten. Einer
reflexiven Annäherung an die historischen Realitäten dieser Zeit, stehe der
Wunsch entgegen, per Selbstzuordnung zu der High
Society im imperialen Großbritannien gehören zu wollen. Hier hat Steampunk
nach Dillinger einen Bezug zur Gegenwart und sei als Protest gegen die
Unsicherheiten eines sich verändernden Arbeitsmarkts in der Gegenwart zu bewerten,
der auch AkademikerInnen immer öfter in prekäre Beschäftigungsverhältnisse
zwinge. Man fordere ein, was einem vermeintlicher Weise standesgemäß zustehe. Abgehobene,
geschlossene Gesellschaften auf prunkvollen, isolierten Anwesen:
"Man
sieht Steampunkkostüme erst dann richtig, wenn man sie auch als Kommentar dazu versteht,
wie ihre Träger ihre tatsächliche soziale Situation in der realen Welt
verstehen. Steampunk ist weitgehend eine Bewegung von Intellektuellen und
Akademikern. Das Kostüm soll entsprechend die Intellektuellen und Akademiker
des 19. Jahrhunderts zeigen. Man kommentiert den eigenen sozialen Status."
(Dillinger 2015, S. 250)
Mal
abgesehen davon, dass Steampunks sich aus allen Schichten rekrutieren, nicht
nur unter Studierenden, ist es definitiv richtig, dass diese Form des Retrofuturismus keinesfalls zufällig
Anfang des 21. Jahrhunderts und im Kontext eines hegemonialen Neoliberalismus populär
wurde. Allerdings greift Dillingers Analyse hier zu kurz und missachtet andere
breitenwirksame Zusammenhänge. Mark Fisher erläuterte mit Bezug auf den
Afrofuturismus – einer anderen, subalternen Spielart der »Uchronie«, die das
Potenzial eines nichtkolonialisierten Afrika auszuschöpfen gedenkt –, dass
alternative Geschichtsentwürfe vor allem deswegen existieren, um mit Vehemenz darauf
zu bestehen, dass Alternativen zum Status Quo immer existieren werden und immer
existiert haben, Geschichte also formbar ist und immer formbar bleiben wird: »Time
in Afrofuturism is plastic, stretchable and prophetic—it is, in other words, a
technologised time, in which past and future are subject to ceaseless de- and
recomposition« (Fisher 2013, S. 47). Daraus folgt nicht nur, dass eine
Auseinandersetzung mit Geschichte niemals objektiv erfolgen kann, sondern auch,
dass ein Rückgriff auf die Vergangenheit niemals nur im Interesse der
Vergangenheit geschehen muss. Geschichte bzw. Geschichtsdeutung kann als
politisch-ästhetische Waffe gegen ein dominierendes Geschichtsverständnis, und
damit auch bestimmte Legitimationsansprüche und Zukunftserwartungen, in
Stellung gebracht werden. Assemblage, also die Rekombination alter
Objekte in einem neuen Bedeutungszusammenhang zu neuen Zwecken, ist nicht
gleichbedeutend mit dem Schwelgen im romantischen goldenen Zeitalter eines nie
existierenden Moments in der Geschichte. Zentral in der Uchronie, wie sie im
Steampunk gepflegt wird, ist der Gedanke des Upcyclings. Die Sedimente der verrosteten Potenziale vergangener
Geschichte werden in ihre Einzelbestandteile zerlegt, neu interpretiert und neu
zusammengesetzt.
Auch
wenn sich Steampunk und Afrofuturismus als Geschwister im Geiste verstehen
lassen, befindet sich Steampunk in einer schwierigeren und moralisch
ambivalenteren Position, weil das hier angestrebte alternativhistorische Spiel
immer mit der realhistorischen, hegemonialen Erinnerung an das »Empire«
verknüpft sein wird. Die Ethik der historischen Aneignung problematischer
Rollen, Geschichtsverfälschung (als ob diese in öffentlichen Museen und
staatlichen Institutionen nicht stattfinden würde) und den Umgang mit den fragwürdigen
Menschenbildern des 19. Jahrhunderts werden im Steampunk aber keineswegs unter
den Teppich geschoben. In internen Medien der Szene wie dem Steampunk-Magazine
lässt sich der Streit um Deutungshoheit und Ethik sehr gut nachvollziehen. Statt
einem reaktionären Wunsch nach Wiederkehr alter Verhältnisse wird eine
selbstkritische »Kolonialisierung der Vergangenheit der Kolonialisierer« angestrebt.
Zumindest fand dies im harten Kern der Szene statt. Was Steampunk mit dem
Afrofuturismus teilt, ist die Offenheit im Umgang mit dem Ursprung historischer
Entwicklungen, die einem Bruch mit einer fremdbestimmten Historizität
gleichkommt und, letztendlich, die kreative Herrschaftslosigkeit zum Ziel hat. In
der gegenwärtigen Politik des Mainstreams, rechts wie links und in der
apolitischen Fantasiewelt der gesellschaftlichen Mitte im Besonderen, herrscht
die Tendenz vor, sich von allem, was auf den ersten Blick nicht in die Fassade
der eigenen Marke integrierbar scheint, sofort und rigoros zu distanzieren.
Dies ist ein Effekt der neoliberalen Indoktrination, die ungleich auch in der
Identität des Einzelnen neue Märkte wittert und demnach den Wettbewerb zwischen
unterschiedlich markierten Gruppen fördert. Über sozialpsychologische Effekte
wie Peer Pressure und FOMO (Fear of Missing Out) sollen aus
der kultivierten Identität, wie
YouTuber Peter Coffin dieses Phänomen taufte, Profite extrahiert werden. In
anderen Worten: Es ging Steampunks nie darum, sich in eine Tradition zu
stellen, d. h. Authentizität zu faken,
sondern die Gedankenmaschinerie anzuwerfen und zu sehen, wohin sie hätte führen
können, um für die Gegenwart neue Perspektiven und Möglichkeiten zu erschließen.
Aber was macht Steampunk anders? Warum handelt es sich dabei nicht um eine
weitere Form der kultivierten Identität?
Hier kommt das Scheitern des Mainstreamings der Bewegung ins Spiel, die ich
zweifach erklären würde: (1) durch den bewusst inszenierten Antimodernismus,
sei er nun individuell progressiv oder reaktionär begründet, und (2) durch die
Verweigerung der Festlegung, was Steampunk eigentlich ist und damit auch, was
Steampunk eigentlich sein kann. Der Zusammenhalt in der Szene wird durch eine
gemeinsame Praxis und nicht lediglich durch eine festgelegte (und damit
vorgeschriebene) Ästhetik definiert. Steampunk ist eine Lebenseinstellung und
nicht (nur) ein Lebensstil. Man ist zwar offen gegenüber denjenigen, die
lediglich nach einer Möglichkeit suchen, sich auszudrücken – etwa, indem man
die eigenen kreativen Erzeugnisse auf Conventions und Events zum Kauf anbietet
– lässt sich aber niemals durch Standardisierung vereinnahmen. Die Fragen nach
dem »Wie« und dem »Was« bleiben immer Gegenstand von Verhandlungen. Steampunks
bewegen sich ästhetisch zwar lose in dieselbe Richtung, aber der Unterschied
etwa zu dem durchweg kommerzialisierten Verständnis einer
Fußballfangemeinschaft oder Gamercommunity ist enorm. Stattdessen kommentiert und bedient Steampunk den gegenwärtigen
Trend zu Retromanie und Nostalgie, der alle kulturellen Ausdrucksformen
durchzieht:
»We
live in a time when the past is present, and the present is saturated with the
past. Hauntology emerges as a crucial—cultural and political—alternative both
to linear history and to postmodernism’s permanent revival. What is
mourned most keeningly in hauntological records, it often seems, is the very
possibility of loss. With ubiquitous recording and playback, nothing escapes,
everything can return.« (Fisher 2013, S. 49)
Die
Geister, die Steampunk ruft, sollen in dieser Konstellation durchaus anecken,
aber ohne zu verletzen, um (wie der Afrofuturismus) aufzuzeigen, dass die
vermeintliche Alternativlosigkeit der Gegenwart keineswegs unumgänglich war und
dass Freiheit mehr ist, als nach einem langen Arbeitstag auszusuchen, ob man im
Kino Marvel oder Arthaus passiv über sich ergehen lässt. Hauntology richtet sich
einerseits gegen Geschichtserzählungen, die unkritisch der Selbsterhaltung des
Status Quo dienen. Die exemplarische Darstellung eines Retrofuturismus, d. h. das Wiederaufgreifen und die Weiterentwicklung von kulturellen Visionen aus der
Vergangenheit in eine alternative Zukunft, wirkt zugleich nostalgisch und fremdartig,
womit eine Geschichtsauffassung sich ablösender Phasen menschlicher Kultur oder
das Bild der historischen Selbstauflösung in einer ewigen Gegenwart nicht umgehen
kann. Dementsprechend können solche Gesellschaften die widersprüchliche
Abwesenheit von Geschichte nur temporär als Hommage bewegen und in streng
regulierten Kontexten (Jubiläumsjahre, Museen, Zitate) wiederaufleben lassen. Alles
andere wäre ein Tabubruch. Der »Nostalgiedruck« wird von Fisher im Anschluss an
Fredric Jameson als gesellschaftliche Postmoderne interpretiert, ist aber
keineswegs allein ein Phänomen der Zeitgeschichte, wie Walter Benjamin,
Friedrich Nietzsche oder Karl Mannheim schon Anfang des 20. Jahrhunderts bezeugten.
So wähnt man sich zwar mit der Bewahrung der ironischen bzw. professionellen Distanz
zur »historisierten Wirklichkeit«, dem geschichtlichen Einzelfall, in
Sicherheit vor der Vereinnahmung durch reaktionäre Kräfte, verirrt sich dann aber
durch die Loslösung von der Substanz sozialen Handelns in der eigenen
Passivität, was es den oftmals unterschätzten Geistern überlässt, zu
entscheiden, wann und in welcher Gestalt sie ihre Wiederkehr zu forcieren
gedenken. Das Schlachtfeld der Praxis wird dem Spiel der Repräsentation
geopfert, um die Illusion der ewigen Gegenwart zu bewahren. Modeerscheinung
folgt auf Modeerscheinung, weil jeder Stil für sich bedeutungslos wird.
Historismus bleibt aber nur solange Kammerspiel, bis der Faschismus »aus dem
Nichts« erscheint und lernt eben jene Geister als Waffen gegen die willkürlichen
Ziele der eigenen Paranoia zu instrumentalisieren.
Atemporalität
Eine
schleichende Entfremdung vom historischen Verantwortungsbewusstsein ist genau
das, was wir zurzeit wieder erleben. Ich möchte im Anschluss an diese These
noch auf zwei Begriffe verweisen, die gleichermaßen in erklärender Funktion zu
Rate gezogen werden können, »linker Praxis« aber auch als Leitfaden oder
zumindest als ein Anreiz zur Selbstreflexion dienen können: Anti-Intellektualismus
und Anti-Elitarismus. Zwischen beiden »Antis« herrscht ein kleiner, aber feiner
Unterschied. Sie werden nur zu gerne als zusammenhängend wahrgenommen und genau
das bildet die sozioökonomische Grundlage für eine Entfremdung von historischer
Verantwortung, worunter man nichts anderes zu verstehen braucht als die
Verdrängung bereits erlebter Erfahrungen im großen wie im kleinen Stil. Im
Vorfeld möchte ich Intellektualismus als kritisches Denken, experimentelle
Praxis und Forscherdrang definieren. Sich intellektuell zu verhalten, bedeutet (für
mich) eine gewisse Lebenseinstellung anzunehmen, die auf temporärem,
anzweifelbarem Wissen beruht. Ein
Intellektueller muss nicht im akademischen Betrieb tätig sein, um intellektuell
zu sein. Elitarismus hingegen ist ein Phänomen des sozialen Handelns, das an
intellektuelle Deutungshoheit eine (willkürliche) Abgrenzung von »Oben« nach
»Unten« zum Ziel hat. Eine Verwechslung beider Phänomene kommt deshalb
zustande, weil im kulturellen Mainstream (gerade in Deutschland) der sogenannte
»Marsch durch die Institutionen« zu oft als Qualitätsanspruch an und für sich
bewertet wird. Zwischen Intellektualismus und Elitarismus besteht also realgesellschaftlich
durchaus ein Zusammenhang, aber dieser wird durch Macht (soziales, kulturelles,
ökonomisches Kapital) und nicht durch Intellekt hervorgerufen. Genau hier liegt
das Problem, das die gesellschaftlichen Konflikte unserer Zeit mit Brennstoff beliefert.
Will man verstehen, was aus der Autorität der Fakten gegenüber »alternativen
Fakten« geworden ist, muss man annehmen, dass Wissenschaft, etablierte Medien
und Politik derzeit in weiten Kreisen gemäß diesen Definitionen als elitär und
nicht als intellektuell wahrgenommen werden, was vom Rechtspopulismus
ausgenutzt wird. Den Enttäuschten wird vorgegaukelt, dass ein obskurer Blog
oder ein privatfinanzierter Kleinverlag einen höheren Anspruch auf
Intellektualität hat als wissenschaftliche Publikationen, auch und gerade, weil
dort empirisch nicht haltbare Verschwörungstheorien verbreitet werden. Als Anti-Elitarismus
verkleidet wird dem eigenen Publikum so nach und nach jeder wirkliche
Intellektualismus madig gemacht. Die neue Rechte bedient hier auch elitäre
Bilder der Vergangenheit, um menschenfeindliche Positionen durch Bedienen
weitverbreiteter Ressentiments wieder salonfähig zu machen, an Seriosität zu
gewinnen, ohne auf die Dissidentenrolle zu verzichten. Man denke an Götz
Kubitschek, der sich bewusst auf einem Rittergut niederlässt, aber gleichzeitig
moderne Politstrategien der subversiven Linken für eine reaktionäre Agenda
instrumentalisiert. Aber wie passt das zusammen? Wie kann ein alter Elitarismus
plötzlich als anti-elitaristisch wahrgenommen werden? Die Antwort ist denkbar
einfach: Was heute im Common Sense (nicht in der Selbstauffassung besagter
Gruppen) als elitär gilt, ist nicht mehr das, was im 19. Jahrhundert oder auch
noch im 20. Jahrhundert elitär war. Auf einer anderen Ebene wirkt so auch der Steampunk
anziehend, weil der veraltete Luxus als anti-elitäre Subversion
(wieder-)entdeckt wurde. Man hat die Zeichen der Zeit hier richtig erkannt:
(1)
Steampunk positioniert sich über historisierte Archetypen (z. B. ErfinderInnen
und EntdeckerInnen) gegen eine Normierung und Standardisierung gesellschaftlicher
Schaffens- und Denkprozesse, wie sie bspw. in warenförmiger Massenkultur und
Konsumproduktion (»Kulturindustrie«) sowie im bürgerlichen Ideal des Karrierismus
mit lückenlosem Lebenslauf und Selbstoptimierung verortet werden. Was den
Mythos dieser Archetypen des 19. Jahrhunderts definiert, ist ein
Leistungswillen, der aber über eine gewisse Spontaneität und eine forschende,
ergebnisoffene Einstellung verfügt. Der Intellektuelle im Steampunk ist der idealtypische
Autodidakt, der hier und dort etwas Neues lernt, um es nicht zu rezitieren,
sondern anzuwenden. Er oder sie generiert eigenständig experimentelles Wissen. So
gehörte die kostenlose Verbreitung von Anleitungen und Bauplänen sowie Wissen
zum Selbstverständnis des Steampunks. Ob diese Archetypen in der
intellektuellen Oberschicht im 19. Jahrhundert tatsächlich existiert haben, ist
unerheblich. Es handelt sich um Extrapolationen historisierten Wissens, das
immer schon aus Fakten und Fiktionen bestand. Wichtiger scheint, inwiefern das
heutige gesellschaftliche Feld dem Einzelnen Freiheit als Selbstverwirklichung
zwar beständig verspricht, aber die Erfüllung dieser Versprechen nur einer
privilegierten Minderheit ermöglicht.
(2)
Dass der avantgardistische Ansatz im Steampunk in vielen Analysen keine
Beachtung findet, liegt u. a. auch daran, dass die Ausdrucksformen, die wir als
kulturelle Avantgarde verstehen, vollständig in das System integriert worden
sind. Sie haben sich somit selbst zu ausgrenzenden Markierungen einer in ihrer
Konformität (nicht mittels ihrer subversiven Kraft) erfolgreichen Bildungselite
entwickelt. Man ist dann kultiviert, wenn man dreißig Minuten über eine an der
Wand fixierte Banane referieren kann, auch wenn – lassen Sie mich hier kurz betonen,
dass ich (intelligente) moderne, abstrakte und auch konzeptuelle Kunst durchaus
zu schätzen weiß. Es geht nicht um eine Kritik an der Legitimität der Ausdrucksweise – alles Relevante zu
diesem Thema bereits hundert Jahre zuvor von Marcel Duchamp gesagt worden ist. Jener
materielle Elitarismus, der heute die moderne Kunst befallen hat, unterscheidet
sich kaum mehr von der idealrealistischen Trägheit der schönen Künste, gegen
die einst die ersten ModernistInnen rebellierten. Ähnlich verhält es sich mit
den popkulturell begründeten alternativen Lebensmodellen, die grob in der Zeit
von 1960 bis 2000 als Jugendkulturen entstanden sind. Man ist heutzutage nicht
mehr Rebell, wenn man sich die Haare färbt oder sich Tattoos stechen lässt. Ein
soziokultureller Historismus, der in der ewigen Gegenwart des Neoliberalismus
revitalisiert wird, bedient kultivierte
Identitäten, denen wiederum spezialisierte Märkte zugeordnet sind und die
somit alle politische Relevanz oder Radikalität verloren haben. Der Zwang zur
Markenbildung, die im Konsum einer kultivierten
Identität aber hergestellt werden soll, ist aber auf »Rebellion« und
»Radikalität« als zu vermarktende Zeichen angewiesen. Eine solche Marke ist
nicht am eigenständigen Denken interessiert, sondern am Konsum vorgeschriebener
Eigenständigkeit. So kann die Rückbesinnung auf ehemals als biedermeierlich verschriene
Stile im Steampunk durchaus als Forderung nach Eigenständigkeit im Kontext der
gegenwärtigen Hegemonie beobachtet werden, die sich bezeichnender Weise an
vielen Stellen immer noch so verhält, als würde sie die von ihr dominierte Welt
unterwandern. Vielerorts stellt Kreativität die Welt nicht mehr infrage,
sondern erfüllt die Erwartungen an Produkte für (große und kleine) Märkte.
Diesem Kult der Ware in Hoch- wie in Populärkultur, der sich seit Andy Warhol und
der Pop-Art nicht einmal mehr in der Selbstreferenzialität der eigenen
Filterblase versteckt, stellt sich Steampunk mit einer Do-It-Yourself-Kultur und
ergebnisoffenem Upcycling der vom Massenmarkt (als antiquiert, kaputt,
umständlich) abgestoßenen Gegenstände entgegen. Hardcore-Steampunks
interessieren sich (im Gegensatz zu vielen LiebhaberInnen moderner Künste) nicht
für Luxusboutiquen, sondern für Trödelmärkte.
(3)
Steampunk lehnt demnach sowohl die rechtselitäre Vereinnahmung der Geschichte als
Illustration vermeintlich naturgegebener Hierarchien ab als auch den sich in
der Nachkriegszeit besonders in der Intellektuellen- und Kreativwirtschaft
etablierenden Linkselitarismus, der sein Selbstbild zunehmend durch einen
ästhetischen, nicht notwendiger Weise intellektuellen Modernismus bestätigt. Dieser
Limbo einer ewigen Rebellion der Zeichen verendet immer in der Récupération (vgl. Guy Debord), d. h.
der ökonomischen Vereinnahmung durch Marktintegration, und untergräbt so das
antikapitalistische Anliegen von linken Avantgarde-Bewegungen. Nach ihrem Tod
hingen noch nie so viele überzeugte KommunistInnen und AnarchistInnen in
Luxusapartments wie in den Goldrahmen der modernen Kunst. Überhaupt scheint
dies der einzige, verlässliche Weg zu sein, das Domizil der Superreichen
überhaupt noch betreten zu können. Niemand bringt dies wiederum besser auf den
Punkt als Mark Fisher, der voller Bitterkeit 2017 dem Beispiel Guy Debords folgte
und sich das Leben nahm:
»Witness
for instance, the establishment of settled ‚alternative‘ or ‚independent‘
cultural zones, which endlessly repeat older gestures of rebellion and
contestation as if for the first time. ‚Alternative‘ and ‚independent‘ don’t
designate something outside mainstream culture; rather, they are styles, in
fact the dominant styles, within the
mainstream.« (Fisher 2009, S. 9)
Wer
erinnert sich nicht an Joe Corré, der zum Anlass des 40. Jahrestags
seine Punk-Sammlung aus genau diesem Grund öffentlich verbrannte? Die Definition von Wahnsinn ist, immer
dasselbe zu versuchen, aber ein anderes Ergebnis zu erwarten. Steampunk
nimmt stattdessen nicht die Abwertung, sondern die Umwertung bestehender
Zeichen vor. Wo sich die heutige Elite überwiegend durch uniform saubere
Effizienz, erlebnisorientierte Lifestyles und minimalistische Ästhetik
definiert, rekombiniert Steampunk die chaotisch-kreative Do-It-Yourself-Kultur
des Punks mit der Faszination für die untote Romantik verfallener Familienanwesen
im Goth. Offenbar ist Steampunk in dem Sinne erfolgreich, dass es scheinbar
schwerer fällt, diese Alternativkultur mainstreamfähig zu machen, was man
allerdings auch nicht überbewerten sollte. Märkte müssen heute nicht mehr groß
sein, um eine kultivierte Identität zu
bedienen. Tendenzen zur Kommerzialisierung finden sich auch im Steampunk – nur
irgendwie anders. Die Inanspruchnahme
klassistischer Ästhetik zu antiklassistischen Zwecken erreicht einen höheren
Grad der Demokratisierung als sie dem Modernismus in seiner rein dualistischen Form
jemals zugänglich war. Das Catastrophone
and Arts Collective formuliert es 2007 im Artikel Colonizing the Past so we can Dream the Future so:
"Steampunk
overthrows the factory of consciousness by means of beautiful entropy, creating
a seamless paradox between the practical and the fanciful. This living dream of
technology is neither slave nor master, but partner in the exploration of
otherwise unknowable territories of both art and science." (Catastrophone
Orchestra and Arts Collective 2007, S. 5)
Es
wäre selbstverständlich heuchlerisch, den
Steampunkstil nun auf den Thron eines neuen
Zeitalters zu setzen und alles andere für nichtig zu erklären. Dann würde
man sich in dieselbe Zwangsjacke begeben. Kunst und Kultur sind sehr
individuelle Phänomene, weil sie immer nur in Teilaspekten, niemals
ganzheitlich, die eigene Person (ab-)bilden
können. Genau deswegen darf man Kollektiven und Marktmechanismen nicht die
alleinige Deutungshoheit zusprechen. Dort verliert sich das Spezifische, das
Anziehende des jeweiligen Lebens- und Ausdrucksstils und wird reine Performanz.
Die ganze Idee eines Kanons in einer Ära führt sich selbst ad absurdum.
Ich kann mich noch gut an eine Unterhaltung erinnern, wo mein Gegenüber
feststellte: »Dafür, dass du dich als Außenseiter siehst, kennst du aber nicht
die typische Außenseitermusik.« Kunst und Kultur, die als kultivierte Identität
einer bestimmten gesellschaftlichen Position verschrieben werden wie ein Medikament gegen Magenbeschwerden, sind
kein individueller Ausdruck. Der Geschmack wird hier fremdbestimmt, weil am
Ende doch die Form und nicht die eigene Identität darüber entscheidet, welche
Türen in der Gesellschaft offenstehen und welche geschlossen bleiben werden. »Aber,
aber an der Meinungsfreiheit rütteln wir doch gar nicht. Sie dürfen Ihr
anarchistisches A doch zeigen, aber bitte auf dem dafür vorgesehenen
Festivalgelände des Punkkonzerts draußen auf dem abgeernteten Kartoffelfeld!
Tickets: 54,50 €.« So schreibt Fisher mit Verweis auf den slowenischen
Philosophen Slavoj Žižek:
»Capitalist
ideologiy in general, Žižek maintains, consists precisely in the overvalueing
of belief – in the sense of inner subjective attitude – at the expense of the
beliefs we exhibit and externalize in our behavior. So long as we believe (in our
hearts) that capitalism is bad, we are free to continue to participate in
capitalist exchange.« (Fisher 2009, S. 13)
Eine
freie, d. h. in der Regel auch kritische, experimentelle und forschende
Entfaltung, ist aber die Grundvoraussetzung für eine echte, intellektuelle
Entwicklung. Freiheit findet sich nur jenseits eines herrschenden Dualismus. Das
Abgrenzungsverhalten (vermeintlich) intellektueller, konformer Oberschichten unterliegt
selbst einem historischen Wandel und macht weltanschaulich blind, wie eine
solch alternativhistorische Opposition für jene, die sich nicht erfolgreich in
die Oberschicht geerbt haben, an Bedeutung gewinnen kann. In intelligenter
linker Kulturkritik, von H. G. Wells‘ The
Time Machine bis zu Bong Joon-Ho’s Parasite,
wird die herrschende Klasse deshalb auch in kindlicher Naivität (und nicht als
Monster) dargestellt. Der Neoliberalismus mit seinen standardisierten
Bildungsinstitutionen, die die Parameter für Individualschicksale,
intellektuelle Divergenz, Neurodiversität und sozioökonomische
Grundvoraussetzungen in ihren statistischen sozioökonomischen Modellen gar
nicht erfassen kann, lässt seine Subjekte die Vielfältigkeit der Möglichkeit
verlernen. Der mathematische Reduktionismus macht Alternativlosigkeit erst
möglich. Er produziert letztendlich und vorrangig die Repräsentation von
Kompetenz, nicht Kompetenz selbst. Genau hier liegt die brillante, sanfte
Provokation, die sich Steampunk zunutze macht: Elite, aber für alle! Der (ganz und gar nicht rationale) Elitarismus
ist nur ein soziokulturelles Spiel mit Bildern. Gleichzeitig macht die
trügerische Eintracht von Intellektualität und elitärem Abgrenzungsverhalten eine
wesentlich bösartigere Agenda möglich, nämlich beides als übereinstimmend
wahrzunehmen und in einem Handstreich wegzuwischen. Der Elitarismus reißt den Intellektualismus
auf diese Weise mit in das Loch, das er sich selbst geschaufelt hat. Logik
gewinnt keine Auseinandersetzung, die rhetorische Repräsentation von Logik als
Waffe schon – im Besonderen, wenn besagte Logik vermeintlich unmittelbar
»verstanden« wird. So operiert die neue Rechte. Nicht nur liberale und
konservative Medien, sondern auch viele vermeintlich linke Intellektuelle, die
ihre eigene Position in der Gesellschaft nicht wirklich verstanden haben, gehen
ihr auf den Leim, weil sie der eigenen Repräsentation von logischem Denken zu
viel Wert beimessen.
Outsideness
Zwei
Gespenster gehen um, das Gespenst der Heuchelei und das Gespenst einer
alternativen Geschichte, die Tabu gemacht
worden ist. Der »Biedermeier«, der »Philister«, das »Spießbürgertum« als
klassische Feindbilder altlinker Bewegungen verloren an Funktionalität, weil sie
die Lebenswirklichkeit der neuen Abgehobenheit in der Gesellschaft nach 1968
nicht mehr widerspiegelte. Nicht für jene Gruppen natürlich, diese befanden
sich immer noch im Kampf gegen das System, an deren Spitze sie schon lange
stehen und kichern vor ihrer 150000 $ schweren Banane. Das Scheitern der
gesellschaftlichen Linken bzw. das Totschweigen dieses Scheiterns bei
gleichzeitiger neoliberaler Unterwanderung des performativen Leichnams linker
Politik machte die (hoffentlich nicht allzu lange) Karriere einer Avantgarde von
rechts gegen »das Establishment« erst möglich.
Das hat uns, in den Augen der unmittelbar Betroffenen und einigen
OpportunistInnen mit dunklen Absichten, zu Komplizen durch Unterlassung
gemacht. Hier, ein Auszug aus Nick Lands Blog-Essay The Dark Enlightenment, das
zu einem der grundlegenden Texte neurechter und neureaktionärer Bewegungen
wurde:
»Since
winning elections is overwhelmingly a matter of vote buying, and society’s
informational organs (education and media) are no more resistant to bribery
than the electorate, a thrifty politician is simply an incompetent politician,
and the democratic variant of Darwinism quickly eliminates such misfits from
the gene pool. This is a reality that the left applauds, the establishment
right grumpily accepts, and the libertarian right has ineffectively railed
against. Increasingly, however, libertarians have ceased to care whether anyone
is ‘pay[ing them] attention’ – they have been looking for something else
entirely: an exit.« (Land 2013)
Trotz
der eindeutigen Rhetorik gewinnt man den Eindruck, dass das Feindbild (antistaat,
antihegemonial, antielitär) nach wie vor links(-anarchistisch) motiviert
verortet wird, nur, dass »die politische Linke« nun als Teil des Problems und
nicht der Lösung gesehen wird. Die rechtslibertäre Lösung hingegen wird implizit
als »Exit« dargestellt. Man habe nur noch nicht die richtige Strategie
gefunden, um gehört zu werden, obwohl die beklagten gesellschaftlichen Zustände
natürlich keiner sozialistischen, sondern einer (offen und verhüllt
ausgetragenen) rechtsliberalen Unterhöhlung demokratischer Prinzipien des
Wohlfahrtsstaats geschuldet sind. Ähnlich argumentiert Mencius Moldbug, der
heutzutage oft mit Land in einem Satz genannt wird. Das Konzept der
»Kathedrale« dient der neuen Rechten prinzipiell als verstümmelte
Ideologiekritik, verkleidet in typisch rechten Geschichtsmystizismus. Zwar
behaupten viele der VerfechterInnen dieses Denkens, ein lineares Geschichtsbild
abzulehnen, nur um im Anschluss dann Zeitstrahlen, aufeinander folgende
Kreisläufe von Aufstieg und Degeneration oder (rückblickend) Epochen an die
Tafel zu malen. So ist es auch mit Moldbug: Ein Mischmasch aus den
pseudointellektuellen Untergangsfantasien eines Oswald Spengler und den
ernsthafteren postmarxistischen Analysen, die bei Gramsci angefangen haben. Man
mag von mir schockiert sein, aber ich glaube, »die Kathedrale« existiert tatsächlich,
nur nicht zu den Zwecken, die Moldbug konzeptualisiert. Deswegen ist ein Blick
auf diese neurechte Ideenwelt auch für Linke gewinnbringend, zumindest, wenn
man sich zuvor gegen die ihnen inhärenten anti-intellektuellen und
menschenfeindlichen Ideen immunisiert. Man kann den gegenwärtigen Zustand der performativen
linken Opposition zum Status Quo in der Tat mit der Situation des Christentums
unter der Dominanz der katholischen Kirche vor der Reformation vergleichen.
Scholastizismus tötet Praxis, indem er sich mehr und mehr auf impotente Gesten
der Repräsentation versteift und intellektuelle Selbstbestätigung mit Posten
auszeichnet. Die eigentlichen Werte, die die ursprüngliche Idee zu ihrer Zeit
so revolutionär machten, werden bewusst vergessen, um sie in der Simulation konsumieren
zu können und nicht als Realität herbeiführen zu müssen. Das Christentum in
seiner Urform bestand aus (für die damalige Zeit) radikalsozialistischen
Forderungen, die gleichsam gegen die römische Kolonialisierung als auch gegen die
einheimischen Eliten agitierten. Statt nach Übernahme der römischen
Institutionen auf eine Praxis der Nächstenliebe hinzuarbeiten, ging das
Engagement für eine bessere Gesellschaft in die untote Praxis der Predigt über,
d. h. kultische und damit substanzlose Forderungen als repräsentative
Reinszenierung des eigenen Widerstands in der gesellschaftlichen Maschine, deren
Fortbestehen aber längst auch die Pseudo-Opposition einer scholastischen
Bildung gesichert wird. Der abstinente Mönch ist die Maske des Orgien feiernden
Papstes, die Demut vor Gott der Spiegel des Ablasshandels und die Vergebung der
Sünden im Beichtstuhl die Ablenkung vom Kerkersystem der Inquisition. Wollte
man eine fundierte Kritik der gegenwärtig zahnlosen sozialistischen Opposition
in Verkettung mit dem neoliberalen Mainstream, also an der empirisch
beobachtbaren »Kathedrale«, formulieren, sollte man an dieser Stelle ansetzen.
Wir leben in einem rechtslibertären System, das einen rhetorischen Sozialismus
und eine hippe, kulturell-modernistische, mit linkem Denken assoziierte
Avantgarde-Ästhetik nutzt, um die Intensivierung der ökonomischen
Ungerechtigkeiten und die Machtambitionen einer etablierten Technokratie zu
maskieren. Brot und Spiele. Simulationen und Simulakren. Die Beobachtungen von
Nick Land, Mencius Moldbug und anderen neurechten VordenkerInnen sind nicht
notwendiger Weise falsch (ebenso wie z. b. Carl Schmitt, ein Denker der
ursprünglichen »konservativen Revolution«, durchaus manch valide Kritik formulierte).
Nicht die Diagnosen, sondern die Schlussfolgerungen, die in rechten Weltbildern
immer die gleichen zu sein scheinen, sind fundamental abzulehnen: Die
eigentliche Gefahr in MigrantInnen oder einer Unterwanderung der
Bildungssysteme durch linke, dekadente Eliten zu verorten, ist nicht nur
moralisch nicht vertretbar, sondern auch sachlich schlichtweg falsch. Eine
linke Kurskorrektur des Kapitalismus hat bisher nicht stattgefunden. Das
Problem ist, dass man trotzdem feiert,
an einer tradierten Form des wirkungslosen Widerstands festzuhalten, anstatt
sich neuen Wegen zu öffnen (der Widerstand etwa gegen das bedingungslose
Grundeinkommen auch in linken Kreisen auf Basis der Annahme, dass dadurch der
Klassenkampf enden würde, ist bezeichnend). Die Definition von Wahnsinn ist,
immer das gleiche zu versuchen und ein anderes Ergebnis zu erwarten.
Interpassivität
Der
Begriff »Wutbürger« etablierte sich 2010 im Rahmen der Proteste gegen das
Großprojekt Stuttgart 21. Die
»Occupy«-Bewegung erreichte 2011 die Schlagzeilen. Kurzfristige Erfolge der
Piratenpartei folgten in den Parlamenten. Die Sehnsucht nach einer Eruption im
politischen System war zu spüren. Der arabische Frühling war in vollem Gange
und fand ein jähes Ende. Der Unmut tropfte damals schon in Rinnsalen an die
Öffentlichkeit und zeugte von einem größeren Leck hinter der medialen Wand
systemkonformer Berichterstattung. Das brachte auch Momentum in kulturelle Bewegungen
wie den Steampunk, war aber politisch noch ungeformt, weil eine klare Strategie
gegen einen vage definierten Antagonisten fehlte. Kombiniert man diese
Beobachtungen zu einem breitenwirksamen Trend, lässt sich rekonstruieren, warum
eine neue Rechte und nicht eine neue Linke an Stärke gewann. Statt diese
ungeformte Energie zu beanspruchen und progressiv zu formen, machte man ihr die
Gestaltlosigkeit zum Vorwurf. Das sind die negativen Auswirkungen eines
Scholastizismus, der schon lange nicht mehr mit der Wirklichkeit im
historischen Moment kommuniziert, sondern in der abgeschlossenen
Selbstreferenzialität versinkt. Die neue Rechte passte sich den Verhältnissen
an, indem sie die Untergrundforen bespielte (Internetblasen, lokale
Gemeinschaften, kleine Publikationen) und bestimmte dann sehr erfolgreich den
Diskurs, als die sogenannte »Flüchtlingskrise« die idealen Sündenböcke für ihr
antihumanitäres Projekt lieferten. Seit 2014 wurde der »Wutbürger« im Kontext
von Pegida zum »Hutbürger« und zeigte sich zunehmend bereit, allen rechten
Verschwörungstheorien nach dem Mund zu reden. Die Wut, die Anfang der 2010er
Jahre omnipräsent war, hätte aber von einer Neuauflage linken Gedankenguts konstruktiv
genutzt werden können. Steampunk scheint mir ein Beispiel zu sein, wie sich ein
solcher Reformprozess außerhalb der »Kathedrale« gegen die Alternativlosigkeit in
der »Kathedrale« hätte formieren können. Gescheitert ist Steampunk letztendlich
aber daran, dass die politischen Implikationen der eigenen Ästhetik nicht erkannt
wurden und das Potenzial der Bewegung ungenutzt blieb. Das subkulturelle Spiel kultivierter Identitäten wurde letztendlich
auch hier priorisiert. Es gibt keine sicheren Konsequenzen in der Politik. Nun,
Anfang der 2020er Jahre, stehen wir wieder vor einer Reihe ungeformter globaler
Protestbewegungen: Vom Irak nach Hongkong, von Frankreich in die USA. Trump und
Brexit haben die Linke revitalisiert, nur sind in Bernie Sanders und Jeremy
Corbyn noch die Residuen des marxistischen Scholastizismus erkennbar. Letzterer
ist bereits gescheitert, wird ersterer das Blatt wenden? Das linke Projekt
braucht dringend Erfolge mit Signalwirkung. Aber woher sollen die kommen? Es
bleibt abzuwarten, ob Sanders sich durchsetzen kann und ob die DemokratInnen
ihre Lektion endlich gelernt haben. Nie war der einprägsame Titel von Nancy
Frasers Buch relevanter: »The Old is dying and the new cannot be born.« Dieses
Essay strebt keine Allheilmittel an, aber ich konnte hoffentlich skizzieren,
weswegen wir, meiner Ansicht nach, immer noch zum Warten verdonnert sind. Wir
als Linke müssen uns zu Hebammen fortbilden und nicht das Echo lange toter
Stimmen auffangen. Niemand redet mehr über Proletariat, Hammer und Sichel. Man
muss die Vergangenheit auch nicht beim Wort nehmen. Das Porträt von Che Guevara
findet sich auf Zigerattenetuits gedruckt in Ein-Euro-Läden wieder. Eine
Erneuerung ist unumgehbar. In einer Welt, die durch unausweichliche Veränderung
determiniert ist, macht es keinen Sinn etwas zu bewahren, was seinen Glanz
verloren hat. Es ist diese Fassade der »Kathedrale«, nicht die
dahinterstehenden Inhalte, auf die Rechtspopulisten seit Mitte der 2010er Jahre
mit großem Erfolg faule Eier werfen, was ihnen den Beifall eines klassisch
linken WählerInnen-Milieus sowie des vom Abstieg bedrohten Mittelstands
eingebracht hat. Rechtspopulismus ist reine Repräsentationspolitik, die darauf
aufbaut, den eigentlichen Zustand der Welt solange zu leugnen, bis äußere
Umstände Veränderungen herbeizwingen. Die neue Rechte ist ein
Anti-Intellektualismus, der sich als Anti-Elitarismus tarnt und genau das macht
sie gefährlich. Der Anti-Elitarismus ist es, der ihr den meisten Zuspruch
generiert, während Anti-Intellektualismus (»alternative Fakten«) der eigentlichen
Intention von Misinformation und Desinformation zugutekommt. Die Linke muss dem
nun einen anti-elitären Intellektualismus entgegensetzen, der sich an den
Parametern unserer Zeit orientiert. Warum fangen wir nicht an, den Keller zu
entrümpeln?
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Land,
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Land, N. (2012). Fanged Noumena. Second Edition. Windsor
Quarry: Urbanomic.
Mannheim,
K. (2015). Ideologie und Utopie. Mit
einer Einleitung von Jürgen Kaube. 9., um eine Einleitung erweiterte Auflage.
Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann.
Video-Essays:
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