Coronapokalypse
Ich
habe lange überlegt, ob ich etwas zur Corona-Krise schreiben soll. Das ging mir
leichter von der Hand. Es wird kaum noch über andere Dinge gesprochen.
Andererseits kann man es verstehen, denn die Ereignisse überschlagen sich und
man bekommt Bilder vor Augen geführt, die man sonst nur aus fiktiven Welten
kennt. Der Unentschlossenheit folgte eine Schreibblockade, sodass ich die
letzten Wochen vor allem mit Lesen und Graphic-Design verbracht habe. Die
Wellen der Solidarität auf allen Ebenen der Gesellschaft sind ebenso ermutigend
wie der hamsternde Egoismus beunruhigend ist. Deswegen möchte ich auch heute
nicht spezifisch über Sinn und Unsinn der drastischen Maßnahmen urteilen, die zurzeit
überall getroffen werden. Die Krise übersteigt ideologische Grenzen und
politische Überzeugungen. Jetzt braucht es technokratischen Pragmatismus. Klar
ist aber, dass die Verschlankung der Gesundheitssysteme zur Eskalation der Krise
erheblich beigetragen hat. Der Markt, bzw. das profitorientierte Individuum, das
er herangezüchtet hat, reagierte wie Märkte eben reagieren. Es geschieht, was
Linke seit den 1990ern vorausgesagt haben, aber erst jetzt geraten Neoliberale
in Erklärungsnot. Es hat etwas Komisches: Geht es ihnen an die eigene Haut,
zählen Prinzipien offenbar nicht viel. Dann wird beim verteufelten Staat die
Hand aufgehalten oder, wie die Affäre Bosselmann zeigt, unter falschen
Prämissen in den sozialen Medien herumgeheult. Heuchelei und Doppelmoral tritt zurzeit
aus jedem konservativ-liberalen Schlupfwinkel hervor. Anscheinend gibt es doch
diese Gesellschaft, die Margaret Thatcher nicht gesehen haben will. Ausgerechnet
China und Kuba schicken Fachleute in stark betroffene Gebiete, um zu helfen,
und Singapur, dessen Wohlstand auf einem höchst zentralisierten System beruht,
meisterte die Krise mit Bravour. Ich will diese Systeme nicht in den Himmel
loben. Da ist immer noch das Problem der Autokratie in diesen Ländern. Den will
ich nicht, auch wenn er mir Viren vom Leib hält. Dass diese Interventionen
natürlich von der Propaganda dieser Staaten ausgeschlachtet werden, bedeutet
nicht, dass man nicht auch von ihnen lernen kann, ohne das politische System
gleich mit zu importieren. Meiner Ansicht nach sollten wir uns Gedanken machen,
wie wir in Zukunft verhindern können, dass sich autokratische Systeme auf
Kosten der demokratischen Idee profilieren können. Märkte sind hier keine
Antwort. Marktlogik ist das Problem. Das sieht man in Italien, Spanien,
Frankreich, Großbritannien, Amerika und ja auch in Deutschland. Der
Neoliberalismus zeigt sein wahres Gesicht – wohlgemerkt das Gesicht, welches
Hartz4-EmpfängerInnen, Kulturschaffende und AktivistInnen schon lange kennen –
und seine absolute Inkompetenz im Umgang mit dem Unerwarteten. Hier sollten wir
uns nicht zügeln und sehr nachtragend werden, damit der profitorientierte
Wachstums- und Privatisierungswahn ein Ende findet. Corona wird nicht die
letzte Krise sein, aber der unsichtbare Erreger ist paradoxer Weise im
Vergleich mit Klimawandel, Extremismus und sozialer Ungleichheit eben ein sehr
sichtbares Problem. Es lässt sich nicht kleinreden, umdeuten oder verurteilen.
Hier offenbart sich die eigentliche Wahrheit: Unser Wirtschaftssystem und der
Virus sind gar nicht so verschieden.
Austerität als Utopie
Der
Neoliberalismus ist ein Machwerk kognitiver Dissonanz. Ursprünglich der
Mont-Pélerin-Gesellschaft ersonnen, deren prominenteste Köpfe August von Hayek
und Milton Friedman waren, gibt es hier zwei Strömungen ein- und derselben
Sprache, zwischen denen nach Belieben gewechselt wird. Der Siegeszug des
Neoliberalismus begann in den 1970ern und wurde für die NATO-Staaten in den
1980ern relevant. In Ronald Reagan und Margaret Thatcher fanden Hayek und
Friedman ihre politische Exekutive. Allerdings reichte diese rechtskonservative
Strömung noch nicht, um den neoliberalen Ideen die Vorherrschaft zu sichern.
Hierzu müsste der (linke, keynesianische) politische Gegner nicht zerschlagen,
sondern integriert werden. Die offene Feindseligkeit gegenüber Armut,
Wohlfahrtsstaat und Steuern kann einen ideologieübergreifenden Zusammenschluss
seiner GegnerInnen herbeiführen. Das war, so zumindest hofften die WählerInnen,
dann auch das, was Thatcher und Reagan zu Fall brachte. Die
konservativ-neoliberale Allianz, die dem Keynesianismus den Krieg erklärt
hatte, wurde abgelöst von sozialdemokratischen Erdrutschsiegen. Tony Blair,
Bill Clinton, Gerhard Schröder, sie alle hätten die Werkzeuge in der Hand
gehabt, um eine massive Kurskorrektur zu vollziehen. Schön wäre es gewesen. Stattdessen unterzog sich der
Neoliberalismus einem Rebranding, das Nancy Fraser unter dem Begriff
»progressiver Neoliberalismus« zusammenfasste. Verkauft wurden NAFTA, Agenda
2010 und andere volkswirtschaftlich desaströse Projekte als »dritter Weg« einer
weltoffenen, marktorientierten Globalisierung. Dass Wertschöpfungsketten
dadurch fragiler, der gesellschaftliche Zusammenhang geschwächt und Kontrolle
über Marktmechanismen eingebüßt wurden, konnte ausgeblendet werden. Kurzfristiges
Profitdenken offener Kreisläufe und verschwenderischen Umgang mit Ressourcen,
Arbeitskräften und Konsumgütern entwickelte sich zur Norm. Schlimmer noch: Erst
hier wurde der Neoliberalismus zur »Alternativlosigkeit«, also einer
vermeintlich natürlichen Unausweichlichkeit. Margaret Thatcher nannte nicht
umsonst ihren größten Erfolg »New Labour«. Deutschland zeichnete sich historisch
bedingt durch eine besondere Form der kognitiven Dissonanz aus: War doch die
soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhardts ursprünglich Ausdruck vom Konsens konservativer
und sozialdemokratischer Politik, dass der Kapitalismus Mitverantwortung für
die Zerstörung der europäischen Demokratien trug. Man denke nur an den
Grundsatz des Ahlener Programms der CDU: »Das kapitalistische Wirtschaftssystem
ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht
gerecht geworden.« Die soziale Marktwirtschaft war in der Nachkriegszeit dann auch
erfolgreich, bis der Thatcherismus dem Keynesianismus ein Ende setzte. Seitdem
existiert eine leere, ideologische Hülle der sozialen Marktwirtschaft weiter,
während sich hinter dem Vorhang der Simulation Hayek und Friedman die Finger ableckten.
Es spielte nie eine Rolle unter welcher Fahne die Märkte regierten, solange sie
regierten. Der Herzinfarkt schien früher oder später unausweichlich.
Der virale Gewinn
Die
Finanzkrise 2008 versetzte der neoliberalen Ideologie, die sich im Dschungel
der Repräsentationsgrabenkämpfe versteckt hielt, einen ersten Dämpfer. Der
freie Markt war keine harmonisierende Kraft, sondern destabilisierte sich
regelmäßig selbst. Schlimmer noch: Die Verantwortlichen der selbstverschuldeten
Krise verhielten sich wie eine auf den Rücken gedrehte Schildkröte: Sie fand
keinen Weg, sich selbst wieder auf die Beine zu stellen. Ohne staatliche Hilfe
wäre das Bankensystem zusammengebrochen und mit ihm die Weltwirtschaft. Das war
aber bei weitem nicht die einzige Front, an der Hayek und Friedman
kontinuierlich versagten. Aber von regulierten Märkten wollte man nach wie vor
nichts wissen. Durch cleveren Lobbyismus, Staatsverschuldung und
Rettungsschirme perlte die Krise von 2008 aber trotz der Bemühungen von
Protestbewegungen wie »Occupy Wallstreet« an den Mauern der Ideologen ab. Es
folgte die Eurokrise, die so umgemünzt wurde, dass sie vermeintlich nichts mit
der massiven Neuverschuldung infolge der Bankenrettung zu tun haben konnte.
Stattdessen wurde »der faule Südeuropäer« durch die Medien getrieben. Ein paar Jahre
später wunderte man sich, wie dort auf dem Rücken eines antieuropäischen
Populismus der neue europäische Rechtsextremismus zuallererst Einzug in die
Parlamente finden konnte. Die Alternativlosigkeit ist eine mächtige Waffe. Schuld
ist immer der andere (der Südeuropäer, der Flüchtling, der Faulenzer etc.),
niemals das gezinkte Spielfeld. Der Neoliberalismus krankt schon seit geraumer
Zeit an seinen unrealistischen Zielsetzungen. Die identitätspolitischen Erfolge
(Rechtspopulismus auf der einen und elitärer Hipstergentrifizierung auf der
anderen Seite) auf der ganzen Welt sind der Verehrung neoliberaler
Charaktereigenschaften des natürlichen Egoismus und dem Mythos von Glück durch
Leistung geschuldet. Der Neoliberalismus konnte sich hinter seiner vermeintlich
natürlichen Unhintergehbarkeit verstecken. Selbst wenn man Märkte mit
Ökosystemen gleichsetzt (was ich regelmäßig tue, weil es tatsächlich gut
funktioniert), zeugt die historische Entwicklung der neoliberalen Ideologie von
einem erheblichen Unverständnis dessen, was Natürlichkeit eigentlich ist. Der
Mythos eines stabilisierenden Gleichgewichts in der Ökologie, der seit
Jahrhunderten das Fundament liberaler und konservativer Lebenslügen bildet, ist
schlichtweg nicht haltbar. Jedes Ökosystem verändert sich ständig. Natur und
Harmonie sind so weit voneinander entfernt wie Hans Werner Sinn von
intelligenten, sinnhaften Aussagen. Wir schrecken auch nicht davor zurück, dort
in die Natur einzugreifen, wo sie uns oder sich selbst Schaden zufügt. Eine der
größten Missverständnisse naiver Empirie besteht im Glauben, dass Natürlichkeit
unumkehrbar ist, da jedes Ökosystem letztendlich nur aus geborgten Zuständen
besteht. Natur ist und war immer Veränderung. Disruption, nicht Harmonie ist
ihr Normalverständnis. Harmonie entsteht nur dann, wenn keine disruptive
Entwicklung dominant werden kann, und selbst dann ist sie von zeitlich begrenzter
Dauer, weil die Zeit immer für die Disruptionen Position ergreift. Mit Verweis
auf Nassim Nicolas Taleb kann man behaupten, dass schwarze Schwäne unwahrscheinlich
bleiben, aber die Konfrontation mit ihnen letztendlich unvermeidlich wird. Die
Natur gleicht ihre Fehler, durch die verhältnismäßige Gemächlichkeit ihrer
Mechanismen aus. Sie hat uns nicht wegen des Wettbewerbs, sondern trotz der
Wettbewerbsmechanismen hervorgebracht. Dementsprechend macht es keinen Sinn, stur
an dogmatischen Überzeugungen festzuhalten, wenn sie fundamentale, empirische
Fehler enthalten. Daher verstehe ich auch nicht, warum die progressive Linke
sich diesen Fakt im Kampf gegen liberale und konservative Lebenslügen nicht verstärkt
zunutze macht. Stattdessen beharrt man darauf, dass Märkte unnatürlich (und
dementsprechend veränderlich), weil von Menschenhand geschaffen sind. Es gilt
ihnen genau diesen Boden streitig zu machen und die wissenschaftlichen Erkenntnisse
lassen das auch zu. Der Neoliberalismus ist ein System, das auf den tönernen
Füßen eins unterkomplexen Natur- und Gesellschaftsbildes errichtet worden ist:
»The objective side of the crisis is no mere multiplicity of separate dysfunctions. Far from forming a dispersed plurality, its various strands are interconnected and share a common source. The underlying object of our general crisis, the thing that harbors it multiple instabilities is the preset form of capitalism – globalizing, neoliberal, financialized. Like every form of capitalism, this one is nor mere economic system but something larger: an institutionalized social order.« (Fraser 2019, S. 37)
Das
bringt uns zurück zur Pandemie. Corona greift die Weltwirtschaft so aggressiv
an, weil ihr Wachstum in den vergangenen Jahrzehnten nicht durch robuste
Verstrebungen abgesichert ist, und plötzlich werden staatliche Eingriffe selbst
von überzeugten Neoliberalen wie Benedikt Brechtken gefordert. Sie werden damit
konfrontiert, dass die Welt ihren Tellerrand übersteigt. Hier müssen Linke
ansetzen und nicht lediglich mantrahaft alte Forderungen vergangener Gesellschaftsformen
wiederholen. Wir sollten diesen Moment der Schwäche nutzen, um zu betonen, dass
es gerade die Hayekjünger waren, die die Überhangkapazitäten der Krankenhäuser zusammenkürzen
ließen, Fachpersonal aus wirtschaftlichen Gründen abbauten und die Produktion
systemrelevanter Güter wie Medikamente in Billiglohnländern zentralisierten. Die
Verpflichtung zu Wachstum und Profit zwang die globalen Wertschöpfungsketten, Effizienz
dadurch vorzutäuschen, dass sie nur noch von der Hand in den Mund arbeiteten
und produzierten. Der Mangel ist ein zentrales Charakteristikum der
neoliberalen Austerität, was zu Überforderung führt, wenn mehr als »Business-as-usual«
gefragt wird. In der Folge brechen sie infolge eines mehrwöchigen
Ausnahmezustands vollständig zusammen, wenn auch nur eines oder mehrere Glieder
der Kette ausfallen. Eine Optimierung von Wertschöpfungsketten im Sinne der
Shareholder-Profite, mag diese kurzfristig erhöhen, aber ihr mangelt es an
Nachhaltigkeit. Das riesige Kartenhaus droht bei jedem Windstoß einzubrechen. Rücklagen,
sowohl finanzieller, personeller und sachlicher Natur gelten als Verschwendung,
weil sie keine Gewinne abwerfen. Die Corona-Infektionen überfordern nicht ohne
Grund das von der Schuldenkrise gebeutelte Südeuropa, welche im Rahmen der Eurokrise
zu drakonischen Sparmaßnahmen gezwungen wurden und darüber hinaus, lange mit
der Verwaltung der Flüchtlinge alleingelassen wurden. Dass Italien zum
Epizentrum der Pandemie in Europa wurde, hat Ursachen in derselben neoliberalen
Austeritätspolitik, die dort auch den Rechtspopulismus Salvinis erfolgreich
werden ließ. Der Staat war im Neoliberalismus immer ein Boxsack, aber auch
notwendig, um ihn vor sich selbst zu schützen. Nun kann plötzlich von heute auf
morgen an der schwarzen Null der schwäbischen Hausfrau gerüttelt werden. Der
Neoliberalismus ist und war nie krisenfest. Sein »Free for all« mag der Natur
nachmodelliert sein, doch blenden VertreterInnen der sogenannten
Alternativlosigkeit die selbstzerstörerischen und autokannibalistischen Tendenzen
im evolutionären Spiel bewusst aus. Das Virus ist hierfür eigentlich das
perfekte Beispiel: Ein unselbstständiger Replikator, der durch seine
anspruchslose und zerstörerische Spezialisierung kurzfristig Maximalgewinne (im
Sinne der Vermehrung, welche das Produkt der Natur ist) einfährt. Dieses
Wachstum kann durch die parasitäre Funktionsweise der Erreger aber niemals
dauerhaft erhalten werden. Strebt man die Vereinfachung durch Reduktion an,
macht man sich paradoxer Weise abhängig vom Immunsystem des Körpers, den man
befällt. Um die eigene Lebensgrundlage zu erhalten, ist der Virus darauf angewiesen,
unterdrückt zu werden. Ist er zu effektiv, vernichtet er seinen Wirt, bevor
dieser den Virus exponentiell verbreiten kann. Ist er zu schwach, gelingt es
dem Erreger nicht, sich auch nur in einem Körper festzusetzen. Das Virus ist
wie das neoliberale Startup oder ein Produktvertrieb im Schnellballsystem ein
Gefangener des Wettbewerbs, von dem er sich abhängig macht. Der Staat
funktioniert besser, weil er sich unabhängig vom Wettbewerb machen kann. Er ist
wie ein schlafender Riese, der im rechten Moment erwachen und sich wieder zur
Ruhe legen kann. Wettbewerb als Prinzip schafft nur mehr Wettbewerb, genauer
gesagt: In einem allumfassenden Kampf ums Überleben werden nur Instrumente entstehen,
die die Fortführung eines Wettrüstens zur Folge haben, auf Kosten aller
anderen, ungenutzten Möglichkeiten. Das ist der eigentliche Grund, warum
Symbiose (jene natürliche Utopie der AnarchistInnen) dem Wettbewerb so
überlegen ist. Es ist die Symbiose (sowohl innerhalb einer Art als auch
zwischen verschiedenen Arten), die Komplexität schafft und absichert, indem sie
auf den Egoismus der Ausbeutung zugunsten der Zusammenarbeit verzichtet. Würde
es heute Menschen geben, hätten Zellen vor Milliarden Jahren nicht darauf
verzichtet, Chloroplasten und Mitochondrien zu verdauen?
Die Corona-Krise
In
Capitalist Realism machte Mark Fisher
die interessante Vorhersage, dass der neoliberale Konsens erst dann ins Wanken
geraten wird, wenn er mit dem »Realen« seines Handelns konfrontiert wird und
dass sich gerade hier Potenziale für neue, linke Utopien verbergen:
»The long, dark night of the end of history has to be grasped as an enormous opportunity. The very oppressive pervasiveness of capitalist realism means that even glimmers of alternative political and economic possibilities can have a disproportionately great effect. the tiniest event can tear a hole in the grey curtain of reaction which has marked the horizons of possibitly under capitalist realism. From a situation in which nothing can happen, suddenly anything is possible again.« (Fisher 2009, S. 80/81)
Ist es daher verwunderlich, dass gerade ein Virus alle libertären und neoliberalen Ideale ins Wanken bringt, wo linke Appelle an die Vernunft, Studien zur Wirkungslosigkeit von neoliberaler Governance und ganze Wirtschaftskrisen scheiterten? Das Corona-Virus ist nicht nur ein Spiegel dessen, wie sehr der neoliberale Optimierungswahn und die Shareholder-Profitorientierung die Weltwirtschaft geschwächt haben. Wenn Corona ähnliche Symptome wie die Grippe hervorruft, kann man vom Neoliberalismus behaupten, dass es sich um eine Autoimmunerkrankung handelt. Er ist der Inbegriff unnachhaltigen (viralen) Wirtschaftens, das dem Wettbewerb zwar immer schärfere Waffen des Wettbewerbs abringt, mit jeder externen Disruption aber vollkommen überfordert ist. Die schärfste Waffe mag sich am Ende durchsetzen, aber wenn alles Leben tot ist, was gibt es dann noch zu besiedeln? Um die Verhältnisse aufrechtzuerhalten, bedarf es des schlafenden Riesen, der das Spielfeld bereitstellt und pflegt. Die historische Inkarnation dieses Riesen war bisher der (National-)Staat. Als Anarchist bin ich der Überzeugung, dass es hier auch Alternativen gibt, aber diese müssen noch gefunden werden. Hierzu bedarf es staatenloser Utopien, die sich dem radikalen Diskurs zur Freiheit stellen und sich damit überhaupt erst der Frage stellen, was Freiheit eigentlich ist. Nichts ist gefährlicher für die Freiheit als ein glücklicher Sklave. Das wissen alle Propagandisten. Das römische Staatssystem brachte zwei Formen des Diktators hervor: Cincinnatus und Caesar. Ersterer übernahm die Führungsverantwortung in Krisenzeiten und gab sie ab, sobald die Krise überwunden war. Letzterer entmachtete den Senat und erschuf die Grundfesten einer Tyrannei, die nur noch damit beschäftigt war, die von ihr selbst erzeugten Probleme zu beseitigen. Den schlafenden Riesen nicht in einen rastlosen Riesen zu verwandeln, muss das Gebot freiheitlicher Gesellschaften auch in Krisenzeiten bleiben können. Rücklagen und Überkapazitäten gerade in wirklich systemrelevanten Bereichen wie dem Gesundheitswesen sind essenziell, um sowohl Tyrannei als auch Kollaps zu vermeiden. Es bleibt abzuwarten, wie sehr die Corona-Krise die institutionell verankerte Hegemonie des Neoliberalismus ins Wanken bringen wird. Am Horizont wartet noch der Klimawandel bereits neue Disruptionen auf unsere Gesellschaft. Wir sollten nicht als Individuen in die Supermärkte stürmen, um dann zu preppen, wenn die Krise über uns hereinbricht, sondern als Gemeinschaft vorsorgen und uns somit belastbarer machen. Der Griff des Realen verfestigt sich um die Kehle der Marktutopien. Was mir am meisten Angst macht ist nicht ihr Untergang, sondern, dass wir diesen freiwillig und voller Überzeugung wählen. Nicht umsonst prophezeite Baudrillard in Simulacra and Simulation, dass sich die Ökosysteme der kulturellen und natürlichen Art ineinander verschwimmen werden:
»The apocalypse is finished, today it is the precession of the neutral, of forms of the neutral and of indifference. I will leave it to be considered whether there can be a romanticism, an aesthetic of the neutral therein. I don’t think so – all that remains, is the fascination for desertlike and indifferent forms, for the very operation of the system that annihilates us.« (Baudrillard 1994, S. 160)
Dutzende
falsche Apokalypsen flimmerten in den letzten Jahrzehnten über unsere
Bildschirme. Doch hat uns das auf das Kommende vorbereitet oder uns lediglich
empfindlicher und reizbarer gemacht? Man kann die Hamsterkäufe bei
gleichzeitigen Corona-Partys auch als Resultat der Fiktionalisierung von infektiösen
Naturkatastrophen verurteilen. Aber wie viel absurde Verschwörungstheorien gibt
es bereits, die den schwarzen Schwan seinen Platz in der Welt absprechen, von Laboren,
einer »Rache von Mutter Erde« oder einer Entlastung der Rentensystem
schwadronieren? Nun ist die Corona-Pandemie real da und muss eingedämmt werden.
Doch wie lange sind wir den Folgen der Infektion mit den von uns erschaffenen
Gedankenmaschinen schon erlegen? Im Anbetracht der Geister, die durch uns
wirken, werden wir zu Zwergen, die an den Armen einer Vielzahl von schlafenden
Riesen hängen. Viren sind Akteure des Untodes, das hat mich immer fasziniert. Sie
sind weder lebendig noch tot und dennoch unfassbar eng mit dem Baum des Lebens
verflochten. Ungefähr acht Prozent des menschlichen Genoms sind viralen
Ursprungs. Ein Virus erschafft keine Zombieapokalypse. Stattdessen zersetzt es die
untote Hüllen, in die wir uns gekleidet haben, und holt das darunter voreilig
begrabene Menschliche hervor. Es liegt an uns, ob wir uns entscheiden, diesen
Weg weiterzugehen oder in den Mantel der Simulation zurückkehren. Der Natur ist
es einerlei.
Sie
erzwingt Veränderung auf die eine oder andere Art.
Literatur:
Baudrillard, J. (1994). Simulacra and Simulation. Translated by
Sheila Faria Glaser. Ann Arbor: University of Michigan Press.
Deleuze,
G. (1994). Difference and
Repetition. Translated by Paul Patton. New York:
Columbia University Press.
Deleuze, G.–Guattari, F. (1987). A Thousand Plateaus. Capitalism and
Schizophrenia. translation and foreword by Brian Massumi. Minneapolis:
University of Minnesota Press.
Deleuze, G.–Guattari, F. (1974). Anti-Ödipus. Kapitalismus
und Schizophrenie I. Übersetzt von Bernd Schwibs. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp.
Fisher, M. (2014). Ghosts of my life. Writing on Depression,
Hauntology and lost futures. Winchester/Washington: Zero Books.
Fisher, M. (2013). The Metaphysics
of Crackle: Afrofuturism and Hauntology. In: Journal of Electronic Dance
Music Culture 5 (2), 42-55.
Fisher, M. (2009). Capitalist Realism: Is There no Alternative?
Winchester/Washington: Zero Books.
Fraser, Nancy (2019): The Old Is Dying and the New Cannot Be Born.
London/New York: Verso.
Mannheim,
K. (1984). Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens.
Herausgegeben von David Kettler, Volker Meja und Nico Stehr. Frankfurt a.
M.: Suhrkamp
Video-Essays:
Jim
Sterling (23.03.2020). The VideogameRetailers That Would Rather Kill Than Die (The Jimquisition). Youtube.
Ole
Nymoen/ Wolfgang M. Schmitt (11.03.2020). Das Coronavirus und der Börsencrash (Wohlstandfür alle Ep. 31). Youtube.
Ole
Nymoen/Wolfgang M. Schmitt (18.03.2020). Corona: Das Ende des Neoliberalismus?(Wohlstand für alle Ep. 32). Youtube.
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