Coronapokalypse



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Ich habe lange überlegt, ob ich etwas zur Corona-Krise schreiben soll. Das ging mir leichter von der Hand. Es wird kaum noch über andere Dinge gesprochen. Andererseits kann man es verstehen, denn die Ereignisse überschlagen sich und man bekommt Bilder vor Augen geführt, die man sonst nur aus fiktiven Welten kennt. Der Unentschlossenheit folgte eine Schreibblockade, sodass ich die letzten Wochen vor allem mit Lesen und Graphic-Design verbracht habe. Die Wellen der Solidarität auf allen Ebenen der Gesellschaft sind ebenso ermutigend wie der hamsternde Egoismus beunruhigend ist. Deswegen möchte ich auch heute nicht spezifisch über Sinn und Unsinn der drastischen Maßnahmen urteilen, die zurzeit überall getroffen werden. Die Krise übersteigt ideologische Grenzen und politische Überzeugungen. Jetzt braucht es technokratischen Pragmatismus. Klar ist aber, dass die Verschlankung der Gesundheitssysteme zur Eskalation der Krise erheblich beigetragen hat. Der Markt, bzw. das profitorientierte Individuum, das er herangezüchtet hat, reagierte wie Märkte eben reagieren. Es geschieht, was Linke seit den 1990ern vorausgesagt haben, aber erst jetzt geraten Neoliberale in Erklärungsnot. Es hat etwas Komisches: Geht es ihnen an die eigene Haut, zählen Prinzipien offenbar nicht viel. Dann wird beim verteufelten Staat die Hand aufgehalten oder, wie die Affäre Bosselmann zeigt, unter falschen Prämissen in den sozialen Medien herumgeheult. Heuchelei und Doppelmoral tritt zurzeit aus jedem konservativ-liberalen Schlupfwinkel hervor. Anscheinend gibt es doch diese Gesellschaft, die Margaret Thatcher nicht gesehen haben will. Ausgerechnet China und Kuba schicken Fachleute in stark betroffene Gebiete, um zu helfen, und Singapur, dessen Wohlstand auf einem höchst zentralisierten System beruht, meisterte die Krise mit Bravour. Ich will diese Systeme nicht in den Himmel loben. Da ist immer noch das Problem der Autokratie in diesen Ländern. Den will ich nicht, auch wenn er mir Viren vom Leib hält. Dass diese Interventionen natürlich von der Propaganda dieser Staaten ausgeschlachtet werden, bedeutet nicht, dass man nicht auch von ihnen lernen kann, ohne das politische System gleich mit zu importieren. Meiner Ansicht nach sollten wir uns Gedanken machen, wie wir in Zukunft verhindern können, dass sich autokratische Systeme auf Kosten der demokratischen Idee profilieren können. Märkte sind hier keine Antwort. Marktlogik ist das Problem. Das sieht man in Italien, Spanien, Frankreich, Großbritannien, Amerika und ja auch in Deutschland. Der Neoliberalismus zeigt sein wahres Gesicht – wohlgemerkt das Gesicht, welches Hartz4-EmpfängerInnen, Kulturschaffende und AktivistInnen schon lange kennen ­– und seine absolute Inkompetenz im Umgang mit dem Unerwarteten. Hier sollten wir uns nicht zügeln und sehr nachtragend werden, damit der profitorientierte Wachstums- und Privatisierungswahn ein Ende findet. Corona wird nicht die letzte Krise sein, aber der unsichtbare Erreger ist paradoxer Weise im Vergleich mit Klimawandel, Extremismus und sozialer Ungleichheit eben ein sehr sichtbares Problem. Es lässt sich nicht kleinreden, umdeuten oder verurteilen. Hier offenbart sich die eigentliche Wahrheit: Unser Wirtschaftssystem und der Virus sind gar nicht so verschieden.

Austerität als Utopie

Der Neoliberalismus ist ein Machwerk kognitiver Dissonanz. Ursprünglich der Mont-Pélerin-Gesellschaft ersonnen, deren prominenteste Köpfe August von Hayek und Milton Friedman waren, gibt es hier zwei Strömungen ein- und derselben Sprache, zwischen denen nach Belieben gewechselt wird. Der Siegeszug des Neoliberalismus begann in den 1970ern und wurde für die NATO-Staaten in den 1980ern relevant. In Ronald Reagan und Margaret Thatcher fanden Hayek und Friedman ihre politische Exekutive. Allerdings reichte diese rechtskonservative Strömung noch nicht, um den neoliberalen Ideen die Vorherrschaft zu sichern. Hierzu müsste der (linke, keynesianische) politische Gegner nicht zerschlagen, sondern integriert werden. Die offene Feindseligkeit gegenüber Armut, Wohlfahrtsstaat und Steuern kann einen ideologieübergreifenden Zusammenschluss seiner GegnerInnen herbeiführen. Das war, so zumindest hofften die WählerInnen, dann auch das, was Thatcher und Reagan zu Fall brachte. Die konservativ-neoliberale Allianz, die dem Keynesianismus den Krieg erklärt hatte, wurde abgelöst von sozialdemokratischen Erdrutschsiegen. Tony Blair, Bill Clinton, Gerhard Schröder, sie alle hätten die Werkzeuge in der Hand gehabt, um eine massive Kurskorrektur zu vollziehen. Schön wäre es gewesen. Stattdessen unterzog sich der Neoliberalismus einem Rebranding, das Nancy Fraser unter dem Begriff »progressiver Neoliberalismus« zusammenfasste. Verkauft wurden NAFTA, Agenda 2010 und andere volkswirtschaftlich desaströse Projekte als »dritter Weg« einer weltoffenen, marktorientierten Globalisierung. Dass Wertschöpfungsketten dadurch fragiler, der gesellschaftliche Zusammenhang geschwächt und Kontrolle über Marktmechanismen eingebüßt wurden, konnte ausgeblendet werden. Kurzfristiges Profitdenken offener Kreisläufe und verschwenderischen Umgang mit Ressourcen, Arbeitskräften und Konsumgütern entwickelte sich zur Norm. Schlimmer noch: Erst hier wurde der Neoliberalismus zur »Alternativlosigkeit«, also einer vermeintlich natürlichen Unausweichlichkeit. Margaret Thatcher nannte nicht umsonst ihren größten Erfolg »New Labour«. Deutschland zeichnete sich historisch bedingt durch eine besondere Form der kognitiven Dissonanz aus: War doch die soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhardts ursprünglich Ausdruck vom Konsens konservativer und sozialdemokratischer Politik, dass der Kapitalismus Mitverantwortung für die Zerstörung der europäischen Demokratien trug. Man denke nur an den Grundsatz des Ahlener Programms der CDU: »Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.« Die soziale Marktwirtschaft war in der Nachkriegszeit dann auch erfolgreich, bis der Thatcherismus dem Keynesianismus ein Ende setzte. Seitdem existiert eine leere, ideologische Hülle der sozialen Marktwirtschaft weiter, während sich hinter dem Vorhang der Simulation Hayek und Friedman die Finger ableckten. Es spielte nie eine Rolle unter welcher Fahne die Märkte regierten, solange sie regierten. Der Herzinfarkt schien früher oder später unausweichlich.

Der virale Gewinn

Die Finanzkrise 2008 versetzte der neoliberalen Ideologie, die sich im Dschungel der Repräsentationsgrabenkämpfe versteckt hielt, einen ersten Dämpfer. Der freie Markt war keine harmonisierende Kraft, sondern destabilisierte sich regelmäßig selbst. Schlimmer noch: Die Verantwortlichen der selbstverschuldeten Krise verhielten sich wie eine auf den Rücken gedrehte Schildkröte: Sie fand keinen Weg, sich selbst wieder auf die Beine zu stellen. Ohne staatliche Hilfe wäre das Bankensystem zusammengebrochen und mit ihm die Weltwirtschaft. Das war aber bei weitem nicht die einzige Front, an der Hayek und Friedman kontinuierlich versagten. Aber von regulierten Märkten wollte man nach wie vor nichts wissen. Durch cleveren Lobbyismus, Staatsverschuldung und Rettungsschirme perlte die Krise von 2008 aber trotz der Bemühungen von Protestbewegungen wie »Occupy Wallstreet« an den Mauern der Ideologen ab. Es folgte die Eurokrise, die so umgemünzt wurde, dass sie vermeintlich nichts mit der massiven Neuverschuldung infolge der Bankenrettung zu tun haben konnte. Stattdessen wurde »der faule Südeuropäer« durch die Medien getrieben. Ein paar Jahre später wunderte man sich, wie dort auf dem Rücken eines antieuropäischen Populismus der neue europäische Rechtsextremismus zuallererst Einzug in die Parlamente finden konnte. Die Alternativlosigkeit ist eine mächtige Waffe. Schuld ist immer der andere (der Südeuropäer, der Flüchtling, der Faulenzer etc.), niemals das gezinkte Spielfeld. Der Neoliberalismus krankt schon seit geraumer Zeit an seinen unrealistischen Zielsetzungen. Die identitätspolitischen Erfolge (Rechtspopulismus auf der einen und elitärer Hipstergentrifizierung auf der anderen Seite) auf der ganzen Welt sind der Verehrung neoliberaler Charaktereigenschaften des natürlichen Egoismus und dem Mythos von Glück durch Leistung geschuldet. Der Neoliberalismus konnte sich hinter seiner vermeintlich natürlichen Unhintergehbarkeit verstecken. Selbst wenn man Märkte mit Ökosystemen gleichsetzt (was ich regelmäßig tue, weil es tatsächlich gut funktioniert), zeugt die historische Entwicklung der neoliberalen Ideologie von einem erheblichen Unverständnis dessen, was Natürlichkeit eigentlich ist. Der Mythos eines stabilisierenden Gleichgewichts in der Ökologie, der seit Jahrhunderten das Fundament liberaler und konservativer Lebenslügen bildet, ist schlichtweg nicht haltbar. Jedes Ökosystem verändert sich ständig. Natur und Harmonie sind so weit voneinander entfernt wie Hans Werner Sinn von intelligenten, sinnhaften Aussagen. Wir schrecken auch nicht davor zurück, dort in die Natur einzugreifen, wo sie uns oder sich selbst Schaden zufügt. Eine der größten Missverständnisse naiver Empirie besteht im Glauben, dass Natürlichkeit unumkehrbar ist, da jedes Ökosystem letztendlich nur aus geborgten Zuständen besteht. Natur ist und war immer Veränderung. Disruption, nicht Harmonie ist ihr Normalverständnis. Harmonie entsteht nur dann, wenn keine disruptive Entwicklung dominant werden kann, und selbst dann ist sie von zeitlich begrenzter Dauer, weil die Zeit immer für die Disruptionen Position ergreift. Mit Verweis auf Nassim Nicolas Taleb kann man behaupten, dass schwarze Schwäne unwahrscheinlich bleiben, aber die Konfrontation mit ihnen letztendlich unvermeidlich wird. Die Natur gleicht ihre Fehler, durch die verhältnismäßige Gemächlichkeit ihrer Mechanismen aus. Sie hat uns nicht wegen des Wettbewerbs, sondern trotz der Wettbewerbsmechanismen hervorgebracht. Dementsprechend macht es keinen Sinn, stur an dogmatischen Überzeugungen festzuhalten, wenn sie fundamentale, empirische Fehler enthalten. Daher verstehe ich auch nicht, warum die progressive Linke sich diesen Fakt im Kampf gegen liberale und konservative Lebenslügen nicht verstärkt zunutze macht. Stattdessen beharrt man darauf, dass Märkte unnatürlich (und dementsprechend veränderlich), weil von Menschenhand geschaffen sind. Es gilt ihnen genau diesen Boden streitig zu machen und die wissenschaftlichen Erkenntnisse lassen das auch zu. Der Neoliberalismus ist ein System, das auf den tönernen Füßen eins unterkomplexen Natur- und Gesellschaftsbildes errichtet worden ist:


»The objective side of the crisis is no mere multiplicity of separate dysfunctions. Far from forming a dispersed plurality, its various strands are interconnected and share a common source. The underlying object of our general crisis, the thing that harbors it multiple instabilities is the preset form of capitalism – globalizing, neoliberal, financialized. Like every form of capitalism, this one is nor mere economic system but something larger: an institutionalized social order.« (Fraser 2019, S. 37)

Das bringt uns zurück zur Pandemie. Corona greift die Weltwirtschaft so aggressiv an, weil ihr Wachstum in den vergangenen Jahrzehnten nicht durch robuste Verstrebungen abgesichert ist, und plötzlich werden staatliche Eingriffe selbst von überzeugten Neoliberalen wie Benedikt Brechtken gefordert. Sie werden damit konfrontiert, dass die Welt ihren Tellerrand übersteigt. Hier müssen Linke ansetzen und nicht lediglich mantrahaft alte Forderungen vergangener Gesellschaftsformen wiederholen. Wir sollten diesen Moment der Schwäche nutzen, um zu betonen, dass es gerade die Hayekjünger waren, die die Überhangkapazitäten der Krankenhäuser zusammenkürzen ließen, Fachpersonal aus wirtschaftlichen Gründen abbauten und die Produktion systemrelevanter Güter wie Medikamente in Billiglohnländern zentralisierten. Die Verpflichtung zu Wachstum und Profit zwang die globalen Wertschöpfungsketten, Effizienz dadurch vorzutäuschen, dass sie nur noch von der Hand in den Mund arbeiteten und produzierten. Der Mangel ist ein zentrales Charakteristikum der neoliberalen Austerität, was zu Überforderung führt, wenn mehr als »Business-as-usual« gefragt wird. In der Folge brechen sie infolge eines mehrwöchigen Ausnahmezustands vollständig zusammen, wenn auch nur eines oder mehrere Glieder der Kette ausfallen. Eine Optimierung von Wertschöpfungsketten im Sinne der Shareholder-Profite, mag diese kurzfristig erhöhen, aber ihr mangelt es an Nachhaltigkeit. Das riesige Kartenhaus droht bei jedem Windstoß einzubrechen. Rücklagen, sowohl finanzieller, personeller und sachlicher Natur gelten als Verschwendung, weil sie keine Gewinne abwerfen. Die Corona-Infektionen überfordern nicht ohne Grund das von der Schuldenkrise gebeutelte Südeuropa, welche im Rahmen der Eurokrise zu drakonischen Sparmaßnahmen gezwungen wurden und darüber hinaus, lange mit der Verwaltung der Flüchtlinge alleingelassen wurden. Dass Italien zum Epizentrum der Pandemie in Europa wurde, hat Ursachen in derselben neoliberalen Austeritätspolitik, die dort auch den Rechtspopulismus Salvinis erfolgreich werden ließ. Der Staat war im Neoliberalismus immer ein Boxsack, aber auch notwendig, um ihn vor sich selbst zu schützen. Nun kann plötzlich von heute auf morgen an der schwarzen Null der schwäbischen Hausfrau gerüttelt werden. Der Neoliberalismus ist und war nie krisenfest. Sein »Free for all« mag der Natur nachmodelliert sein, doch blenden VertreterInnen der sogenannten Alternativlosigkeit die selbstzerstörerischen und autokannibalistischen Tendenzen im evolutionären Spiel bewusst aus. Das Virus ist hierfür eigentlich das perfekte Beispiel: Ein unselbstständiger Replikator, der durch seine anspruchslose und zerstörerische Spezialisierung kurzfristig Maximalgewinne (im Sinne der Vermehrung, welche das Produkt der Natur ist) einfährt. Dieses Wachstum kann durch die parasitäre Funktionsweise der Erreger aber niemals dauerhaft erhalten werden. Strebt man die Vereinfachung durch Reduktion an, macht man sich paradoxer Weise abhängig vom Immunsystem des Körpers, den man befällt. Um die eigene Lebensgrundlage zu erhalten, ist der Virus darauf angewiesen, unterdrückt zu werden. Ist er zu effektiv, vernichtet er seinen Wirt, bevor dieser den Virus exponentiell verbreiten kann. Ist er zu schwach, gelingt es dem Erreger nicht, sich auch nur in einem Körper festzusetzen. Das Virus ist wie das neoliberale Startup oder ein Produktvertrieb im Schnellballsystem ein Gefangener des Wettbewerbs, von dem er sich abhängig macht. Der Staat funktioniert besser, weil er sich unabhängig vom Wettbewerb machen kann. Er ist wie ein schlafender Riese, der im rechten Moment erwachen und sich wieder zur Ruhe legen kann. Wettbewerb als Prinzip schafft nur mehr Wettbewerb, genauer gesagt: In einem allumfassenden Kampf ums Überleben werden nur Instrumente entstehen, die die Fortführung eines Wettrüstens zur Folge haben, auf Kosten aller anderen, ungenutzten Möglichkeiten. Das ist der eigentliche Grund, warum Symbiose (jene natürliche Utopie der AnarchistInnen) dem Wettbewerb so überlegen ist. Es ist die Symbiose (sowohl innerhalb einer Art als auch zwischen verschiedenen Arten), die Komplexität schafft und absichert, indem sie auf den Egoismus der Ausbeutung zugunsten der Zusammenarbeit verzichtet. Würde es heute Menschen geben, hätten Zellen vor Milliarden Jahren nicht darauf verzichtet, Chloroplasten und Mitochondrien zu verdauen?

Die Corona-Krise

In Capitalist Realism machte Mark Fisher die interessante Vorhersage, dass der neoliberale Konsens erst dann ins Wanken geraten wird, wenn er mit dem »Realen« seines Handelns konfrontiert wird und dass sich gerade hier Potenziale für neue, linke Utopien verbergen:

»The long, dark night of the end of history has to be grasped as an enormous opportunity. The very oppressive pervasiveness of capitalist realism means that even glimmers of alternative political and economic possibilities can have a disproportionately great effect. the tiniest event can tear a hole in the grey curtain of reaction which has marked the horizons of possibitly under capitalist realism. From a situation in which nothing can happen, suddenly anything is possible again.« (Fisher 2009, S. 80/81)

Ist es daher verwunderlich, dass gerade ein Virus alle libertären und neoliberalen Ideale ins Wanken bringt, wo linke Appelle an die Vernunft, Studien zur Wirkungslosigkeit von neoliberaler Governance und ganze Wirtschaftskrisen scheiterten? Das Corona-Virus ist nicht nur ein Spiegel dessen, wie sehr der neoliberale Optimierungswahn und die Shareholder-Profitorientierung die Weltwirtschaft geschwächt haben. Wenn Corona ähnliche Symptome wie die Grippe hervorruft, kann man vom Neoliberalismus behaupten, dass es sich um eine Autoimmunerkrankung handelt. Er ist der Inbegriff unnachhaltigen (viralen) Wirtschaftens, das dem Wettbewerb zwar immer schärfere Waffen des Wettbewerbs abringt, mit jeder externen Disruption aber vollkommen überfordert ist. Die schärfste Waffe mag sich am Ende durchsetzen, aber wenn alles Leben tot ist, was gibt es dann noch zu besiedeln? Um die Verhältnisse aufrechtzuerhalten, bedarf es des schlafenden Riesen, der das Spielfeld bereitstellt und pflegt. Die historische Inkarnation dieses Riesen war bisher der (National-)Staat. Als Anarchist bin ich der Überzeugung, dass es hier auch Alternativen gibt, aber diese müssen noch gefunden werden. Hierzu bedarf es staatenloser Utopien, die sich dem radikalen Diskurs zur Freiheit stellen und sich damit überhaupt erst der Frage stellen, was Freiheit eigentlich ist. Nichts ist gefährlicher für die Freiheit als ein glücklicher Sklave. Das wissen alle Propagandisten. Das römische Staatssystem brachte zwei Formen des Diktators hervor: Cincinnatus und Caesar. Ersterer übernahm die Führungsverantwortung in Krisenzeiten und gab sie ab, sobald die Krise überwunden war. Letzterer entmachtete den Senat und erschuf die Grundfesten einer Tyrannei, die nur noch damit beschäftigt war, die von ihr selbst erzeugten Probleme zu beseitigen. Den schlafenden Riesen nicht in einen rastlosen Riesen zu verwandeln, muss das Gebot freiheitlicher Gesellschaften auch in Krisenzeiten bleiben können. Rücklagen und Überkapazitäten gerade in wirklich systemrelevanten Bereichen wie dem Gesundheitswesen sind essenziell, um sowohl Tyrannei als auch Kollaps zu vermeiden. Es bleibt abzuwarten, wie sehr die Corona-Krise die institutionell verankerte Hegemonie des Neoliberalismus ins Wanken bringen wird. Am Horizont wartet noch der Klimawandel bereits neue Disruptionen auf unsere Gesellschaft. Wir sollten nicht als Individuen in die Supermärkte stürmen, um dann zu preppen, wenn die Krise über uns hereinbricht, sondern als Gemeinschaft vorsorgen und uns somit belastbarer machen. Der Griff des Realen verfestigt sich um die Kehle der Marktutopien. Was mir am meisten Angst macht ist nicht ihr Untergang, sondern, dass wir diesen freiwillig und voller Überzeugung wählen. Nicht umsonst prophezeite Baudrillard in Simulacra and Simulation, dass sich die Ökosysteme der kulturellen und natürlichen Art ineinander verschwimmen werden:

»The apocalypse is finished, today it is the precession of the neutral, of forms of the neutral and of indifference. I will leave it to be considered whether there can be a romanticism, an aesthetic of the neutral therein. I don’t think so – all that remains, is the fascination for desertlike and indifferent forms, for the very operation of the system that annihilates us.« (Baudrillard 1994, S. 160)
Dutzende falsche Apokalypsen flimmerten in den letzten Jahrzehnten über unsere Bildschirme. Doch hat uns das auf das Kommende vorbereitet oder uns lediglich empfindlicher und reizbarer gemacht? Man kann die Hamsterkäufe bei gleichzeitigen Corona-Partys auch als Resultat der Fiktionalisierung von infektiösen Naturkatastrophen verurteilen. Aber wie viel absurde Verschwörungstheorien gibt es bereits, die den schwarzen Schwan seinen Platz in der Welt absprechen, von Laboren, einer »Rache von Mutter Erde« oder einer Entlastung der Rentensystem schwadronieren? Nun ist die Corona-Pandemie real da und muss eingedämmt werden. Doch wie lange sind wir den Folgen der Infektion mit den von uns erschaffenen Gedankenmaschinen schon erlegen? Im Anbetracht der Geister, die durch uns wirken, werden wir zu Zwergen, die an den Armen einer Vielzahl von schlafenden Riesen hängen. Viren sind Akteure des Untodes, das hat mich immer fasziniert. Sie sind weder lebendig noch tot und dennoch unfassbar eng mit dem Baum des Lebens verflochten. Ungefähr acht Prozent des menschlichen Genoms sind viralen Ursprungs. Ein Virus erschafft keine Zombieapokalypse. Stattdessen zersetzt es die untote Hüllen, in die wir uns gekleidet haben, und holt das darunter voreilig begrabene Menschliche hervor. Es liegt an uns, ob wir uns entscheiden, diesen Weg weiterzugehen oder in den Mantel der Simulation zurückkehren. Der Natur ist es einerlei.
Sie erzwingt Veränderung auf die eine oder andere Art.

Literatur:

Baudrillard, J. (1994). Simulacra and Simulation. Translated by Sheila Faria Glaser. Ann Arbor: University of Michigan Press.
Deleuze, G. (1994). Difference and Repetition. Translated by Paul Patton. New York: Columbia University Press.
Deleuze, G.–Guattari, F. (1987). A Thousand Plateaus. Capitalism and Schizophrenia. translation and foreword by Brian Massumi. Minneapolis: University of Minnesota Press.
Deleuze, G.–Guattari, F. (1974). Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Übersetzt von Bernd Schwibs. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Fisher, M. (2014). Ghosts of my life. Writing on Depression, Hauntology and lost futures. Winchester/Washington: Zero Books.
Fisher, M. (2013). The Metaphysics of Crackle: Afrofuturism and Hauntology. In: Journal of Electronic Dance Music Culture 5 (2), 42-55.
Fisher, M. (2009). Capitalist Realism: Is There no Alternative? Winchester/Washington: Zero Books.
Fraser, Nancy (2019): The Old Is Dying and the New Cannot Be Born. London/New York: Verso.
Mannheim, K. (1984). Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens. Herausgegeben von David Kettler, Volker Meja und Nico Stehr. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

Video-Essays:

Ole Nymoen/ Wolfgang M. Schmitt (11.03.2020). Das Coronavirus und der Börsencrash (Wohlstandfür alle Ep. 31). Youtube.
Ole Nymoen/Wolfgang M. Schmitt (18.03.2020). Corona: Das Ende des Neoliberalismus?(Wohlstand für alle Ep. 32). Youtube.

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LeO Tiresias

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