Dune, eine xenogothische Kathedrale


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Müsste ich Dune (2021) mit einem Wort beschreiben, dann xenogothisch. Aber es ist nicht einfach, diesen Film überhaupt in Worten zu beschreiben, auch wenn er sich nahtlos aus Denis Villeneuves früheren Filmen herleiten lässt. Nun, xenogothic ist zunächst einmal der Titel einer Webseite von Matt Colquhoun, der an der Veröffentlichung der letzten Vorlesungen des großen Mark Fisher beteiligt war. Ich möchte den Begriff jedoch spezifischer verwenden, hierzu lohnt sich ein kurzer Blick in die Geschichte.

Xeno ist ein altgriechisches Präfix, abgeleitet von xénos für Fremder, Gast. Das Gothische (»gothic«) verweist auf eine eigene umfassende Kulturgeschichte, die ich hier nur skizzieren kann. Der Begriff leitet sich historisch von dem Germanenstamm der Goten ab. (Die haben eigentlich wenig mit dem zu tun, was wir heute als »gothic« verstehen, weswegen ich das „h“ in der Übersetzung erhalten möchte.) Im Mittelalter steht die Gotik für einen Baustil. Dann ist da natürlich die Gruftie-Ästhetik im »Gothic«-Kleidungsstil, die im Kontext der Musiksubkulturen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden ist. Im 19. Jahrhundert beschreibt das Gothische die aufkommende literarische Gattung des Schauerromans, der mit der Wiederentdeckung der Folklore in der Romantik und dem kulturellen und politischen Niedergang des Adels einhergeht. Zunächst prägte dieses Genre die Angst vor familiären und dynastischen Geheimnissen und eine romantische Faszination für das in einer zunehmend industrialisierten Welt Zurückgebliebene, kurz eine Angst vor den (Alt-)Lasten und dem Gewicht der Geschichte und ihren chaotischen Verfallserscheinungen. Das ändert sich, als das Genre mit Edgar Allan Poe und insbesondere H. P. Lovecraft in Amerika Fuß fasste. Hier erreichen wir das, was ich als Xenogothik bezeichnen möchte. Lovecrafts Werk führt die allzu-menschlichen und spiritualistischen, d. h. anthropozentristischen Belange des Schauerromans in die Moderne.  Doch sollte man nicht vergessen, dass Lovecraft weniger für eine Überwindung des Gothischen als für dessen Ausdehnung in das sich vertiefende Verständnis des Kosmos im 20. Jahrhundert steht. Aus dem familiären wird ein naturhistorischer Horror, aus dem vom Sündenfall inspiriertem moralischen Verfall wird evolutionäre Degeneration und aus einer an übernatürliche Wesen gebundene Magie wird eine okkulte Wissenschaft, die lediglich wie Mystik erscheint, weil sie unseren Gehirnen und unserem Weltverständnis so weit voraus ist. Der Einfluss des Gothischen auf die Science-Fiction, von Mary Shelleys Frankenstein bis zur Cybergothik in William Gibsons Neuromancer, beschränkt sich aber keinesfalls auf Lovecraft. Frank Herberts Dune und die verschiedenen Adaptionen der Vorlage wird zwar normaler Weise nicht in diese Tradition gestellt – dafür fehlen die üblichen Bezüge –, aber es teilt die thematischen Obsessionen des xenogothischen Genres mit (natur-)historischer Tiefe, menschlicher (Selbst-)Entfremdung und der doppelten Funktion des Mystischen als Verschleierung und mitunter schreckenerregende Offenbarung von Wissen. Die von Villeneuve dirigierte Verfilmung von 2021 materialisiert diese latente Präsenz im Roman nun in kolossalen Bildern.

 

Was nun Dune (2021) so großartig macht, lässt sich wiederum auf vielfache Weise begründen. Da ist erstens die handwerkliche Meisterhaftigkeit der Bilder und die Schauspielkunst vor dem Hintergrund der absolut perfekt besetzten Rollen (von Stellan Skarsgård als Baron Harkonnen über Timothée Chalamat als Paul Atreides bis zu Jason Momoa als Duncan Idaho). Ich glaube auch nicht, dass es untertrieben ist, Denis Villeneuve den Stanley Kubrick des 21. Jahrhunderts zu nennen. Die Vergleiche mit 2001: A Space Odyssey (1968) drängen sich schon bei Arrival (2016) und letztendlich auch bei Dune (2021) förmlich auf. Die Tiefe der Figuren, die so viel von ihrem Charakter allein schon in Bewegungen, Reaktionen und Kostümen kommunizieren, und ihre landschaftliche wie architektonische Einbettung ruft Erinnerungen an die großen Tragödien von Shakespeare bis Wagner wach, aber (und das ist wichtig) ohne sie lediglich in der Veränderung ästhetischer Belanglosigkeiten zu reinszenieren. Die Atmosphäre der Inszenierung kommuniziert erdrückende Größe und schwindelerregende Tiefe. Dieses Gefühl der Unendlichkeit spiegelt einerseits die Indifferenz und Grausamkeit der Natur wieder, verzaubert und befremdet aber auch. So wird der Film nicht nur der Vorlage gerecht, sondern kommt dabei auch völlig ohne den Kitsch und das esoterische Geschwafel aus, welche die Filme von Terrence Malick plagen. Die Einflüsse von Jodorowsky’s nicht realisierten Interpretation, wie sie im Dokumentarfilm von Frank Pavich erhalten geblieben sind, sind erkennbar, auch wenn sie (willkommener Weise) nicht an ihrer psychedelischen Farbpalette festhält und sie so in die Xenogothik überführt.

 

Die klassische Science-Fiction überschätzt häufig die Wirkmacht technischer Entwicklungen in der (Natur-)Geschichte und unterschätzt die Beharrlichkeit sozialer, kultureller und ideologischer Konstrukte. Je stärker die Aufklärung den Reduktionismus der naturwissenschaftlichen Methode (das heideggerische Gestell einer neuen Wahrnehmung) auf andere Teilbereiche des Lebens ausdehnt und sie einer Standardisierung unterwirft, desto blinder wird sie für die Wirkmacht dieser Wissensgefüge. Die ihnen innewohnende, nicht reduzierbare Komplexität wird fortan der Makel des Okkultismus angehängt. Dabei ist die Wissenschaft selbst aus dem Okkultismus, also der Suche nach arkanen Zusammenhängen im Kosmos hervorgegangen. Aus Astrologie wurde Astronomie, aus Alchemie Chemie und Physik. Diese abgeleugnete Vergangenheit führt zu einer sehr spezifischen Blindheit in der materialistischen Weltanschauung. Durch die Verbannung des Virtuellen in das Imaginäre, verleiht man ihm paradoxer Weise eine totalitäre Macht, gegen die sich eine rein instrumentelle Vernunft kaum erwehren kann. Das Ergebnis ist, was Adorno und Horkheimer als Dialektik der Aufklärung diagnostiziert haben, aber bereits von Mary Shelley in Frankenstein erahnt worden ist. Doch das Okkulte und das Wissenschaftliche müssen keine Gegensätze sein. Ein modernistischer Okkultismus, wie er auch die Traumlandschaften der xenogothischen Literatur beherrscht, hat die Moderne stets mitgestaltet. Das Problem an der materialistischen Weltanschauung ist nicht ihre Selbstdisziplinierung in der Suche nach arkanem Wissen, sondern die atomisierende Totalisierung dieses erkenntnistheoretischen Modells. Im Essenzialismus tauscht die naturwissenschaftliche Wahrheit oft genug den Platz mit einer reduktionistischen Kulturtotalität (Mannheim), die dem eigenen Anspruch nach alles andere als wissenschaftlich ist. So schreibt Marcuse in den 1950ern: 

 

 »Nietzsche exposes the gigantic fallacy on which Western philosophy and morality were built – namely, the transformation of facts into essences, of historical into metaphysical conditions.« 
(Marcuse, Herbert (1955/1974). Eros and civilization. A philosophical inquiry into Freud. Boston: Beacon Press, S. 121)

 

Das Echo dieser stofflichen Virtualisierung, das Gespenst der alchemistischen Salze, findet sich allerorts in der Wissenschaftsgeschichte, von den pseudowissenschaftlichen Rassenlehren des 19. Jahrhunderts bis zu den unseriösen Diätcoachings und kalifornischen Selbsthilfegurus des 21. Jahrhunderts. Das Virtuelle mitzudenken bedeutet dabei eben nicht, die eigenen Ansprüche an die Wahrheitsbildung aufzugeben, sondern die Grenzen dieses Wahrheitsbegriffs als einsehbar zu bewahren. Der durch den mystifizierten Rationalismus verstümmelte Mensch unterwirft sich nur zu gerne einem sadomasochistischem Verlangen, das er nicht versteht, den Zwecken, die beliebig bleiben. Wahrheit erlangt – das ist die zentrale Erkenntnis der nietzscheanischen Philosophie – keinen intrinsischen Wert, nur weil sie nun messbar und vorhersagbar wird. Die Reflexion hat der materialistische Verstand in die Kunst ausgelagert, wo sie an ihrer eigenen Isolation erkrankt. In den Worten von Shulamith Firestone:

 

»Thus, though often well-versed in a academic way about the arts – the frequency of this, at any rate, is higher than of artists who are well-versed in science – the scientist is generally out of touch with his direct emotions and senses, or, at best, he is emotionally divided. His ‚private‘ and ‚public‘ life are out of whack; and because his personality is not well-integrated, he can be surprisingly conventional (‚Dear, I discovered how to clone people at the lab today. Now we can go skiing at Aspen.‘). He feels no contradiction in living by convention, even in attending church, for he has never integrated the amazing material of modern science with his daily life. Often it takes the misuse of his discovery to alert him to that connection which he has long since lost in his own mind.«

(Firestone, S. (1970). The Two Modes of Cultural History. In: Robin Mackay, Armen Avanessian (2014). #Accelerate#. The Accelerationist Reader (109-130). Berlin: Merve, S. 121.)

 

Die einzige Lösung dieses Dilemmas liegt in der Verschmelzung der technischen und ästhetischen Modi des Denkens, was sowohl die Möglichkeit der kritischen Distanz bewahrt als auch neue Innovationen in ihrer Denkbarkeit erst möglich werden lässt. Auf den ersten Blick könnte man einwenden, dass es sich bei Dune keinesfalls um einen in diesem Sinne kritischen Text handeln kann, weil er dem Archaischen eine so totalitäre Präsenz zugesteht. Aber eine solche Kritik an der Kritik, die sowohl reaktionär (als vermeintliche Lobeshymne auf den Traditionalismus) als auch progressiv (als Kritik am »white-saviour«-Narrativ) formuliert werden kann, verwechselt Inhalt mit Darstellung. Das Herrschaftssystem von Dune hat in der Arroganz seines Anspruchs auf Ewigkeit erst die Bedingungen für die eigenen Vernichtung in Paul Atreides geschaffen. Villeneuves Film visualisiert beständig den Konflikt zwischen der klobigen Schwerfälligkeit des Sozialen auf der einen und der dynamischen Gewalt des Universums auf der anderen Seite. Anders als beispielsweise bei Shakespeare, dessen Dramen stets auf die Wiederherstellung der legitimen Kulturtotalität in der göttlich legitimierten Monarchie abzielen, scheint dieser Neofeudalismus keinesfalls ein stabiler Anker gegen das Chaos zu sein. Dune ist als Dystopie geschrieben, nicht als Utopie. Nicht weniger grausam geht die Geschichte daher mit ihrer Messiasfigur Paul Atreides um, die zum Gefangenen der eigenen Erzählung wird: Ein Hamlet, der am Ende nicht nur für sein Zögern, sondern auch für sein Schicksal in der Instrumentalisierung der Fremen abgestraft wird. Die Logik von Cowboys-and-Indians in Space, die so viel konventionelle Science-Fiction plagt, wird hier bewusst vermieden. Andere (Aliens) gibt es nicht, nur Andersgemachte. Paul Atreides’ Erfolg ist maßgeblich durch die soziokulturelle Landschaft wie das geologische Terrain der Wüste von Arrakis, d. h. eine virtuelle Architektur, vorherbestimmt. Er ist kein »white-saviour«, sondern eine Kugel, die durch eine Murmelbahn fällt. Kontrollverlust ist nicht nur ein wichtiges Element der zeitlosen Tragödie, sondern auch ein ästhetischen Instrument der Kritik.

 

Die grundlegenden Fragen, die sich Dune stellt, beschäftigen sich mit der xenogothischen Ehrfurcht, die eine furchteinflößende Vision der Zukunft erzeugen kann, mit der Frage, wie sie uns mit der Autorität der historischen Gewalt verführen will. Frank Herbert hat in Interviews immer wieder betont, dass er Dune als eine anti-autoritäre Kritik an der menschlichen Tendenz verfasst hat, sich charismatischen Herrschern zu unterwerfen. Diese Welt ist also eine These, keine Vorhersage. Im butlerischen Dschihad löst sich die Menschheit von der Versklavung durch die Maschine, nur um in einem neofeudalen Kastensystem wieder aufzuwachen, das aus Menschen Maschinen macht. Das Bedürfnis nach Herrschaft, das als Hass auf die Maschine projiziert, aber nicht überwunden worden ist,  wird schließlich in den Fortsetzungen durch Paul Atreides’ Sohn in einer letzten, performativen Tyrannei des goldenen Pfades die Menschheit aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit befreien und sie so vor dem maschinischen Untergang (Kralizec) zu bewahren. Es ist kein Zufall, dass die späteren Bücher sich um die Schöpfung eines Menschen dreht, der nicht durch Hellsicht (lese eine determistische Vorhersagbarkeit der Welt) aufgespürt werden kann. Entscheidend darf nicht das möglichst akkurate Wissen um die menschliche Form sein, sondern die Anwendung dieses Wissens zur Überwindung ihrer Beschränktheit. In anderen Worten: Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muss.

 

Doch diese Chance muss ergriffen werden oder sie hat nie existiert. Das ist, im Sinne von Deleuze und Guattari, gekrönte Anarchie. Im Wissen um die soziale wie die biologische Organbildung liegt das Potenzial vergraben, den Menschen in einen organlosen Zustand zurückzuführen und eine technische Organbildung zu höheren Zwecken zu lernen. In diesem Sinne steht Dune für eine verlorene Zukunft, weil die Menschheit die Präsenz des Maschinenwesens, als Fratze und Spiegelbild ihres Verstandes, nicht auszuhalten vermochte und sich ihnen unwissend letztendlich ausliefern trotzdem musste. Sind die Organe so festgewachsen, dass sie sich kaum mehr lösen lassen, bedarf es der übernatürlichen Magie oder der Radikalität, um ein Recht auf Veränderung noch durchsetzen zu können. Nur so, durch Annahme der (Selbst-)Entfremdung in der Organauflösung, lässt sich die Geschichte als Prozess vor Verfall und Degeneration bewahren. Die xenogothische Ästhetik von Dune (2021) lässt sich demnach aus drei Perspektiven betrachten: xenofeudalistisch, xenographisch und xenolinguistisch. Die Idee des Xenofeudalismus bezieht sich auf den konkreten posthumanistischen Geschichtsentwurf Frank Herberts, der von den unreflektierten Gespenstern seiner Vergangenheit und Zukunft heimgesucht wird. Ein lovecraftischer Hamlet. Die anderen beiden xenologischen Perspektiven bauen auf Villeneuves Erfahrungen mit entfremdeten Landschaften in Bladerunner 2049 (2017) und entfremdender Sprache in Arrival (2016) auf. Ersteres bezieht sich auf die erdrückende Wirkung entropischer Landschaften, die nach Philipp K. Dicks John D. Isidore in Do Androids dream of electric sheep? alles in »Kipple« verwandelt. Viel wurde im Vorfeld über das brutalistische Setdesign diskutiert, das maßgeblich zur xenogothischen Atmosphäre des Films beträgt. Doch es handelt sich eben nicht um eine bloße, historistische Referenz, sondern um die gezielte Kreuzung der totalitären Architektur des 20. Jahrhunderts mit den von Nietzsche verklärten tragischen Monumentalbauten der Antike. Das Design von Dune (2021) kreuzt diese (Selbst-)Entfremdung der Moderne, wie sie sich etwa im Campus der Ruhr-Universität Bochum materialisiert hat oder in NaissenceE (2014) virtuell erkundet werden kann, mit der ägyptischen Monumentalarchitektur und den lovecraftischen Traumlandschaften eines H. R. Giger.

 

Ebenso wichtig wie die xenographische Einschreibung des Menschen in die Landschaft, die der gewaltsamen Einschreibung der Architektur in den Menschen gleichkommt, ist der Bezug zur Sprache. Einerseits wird die Kommunikation in Codes, das Verstehen von Sprachen (in Zeichen- und Fremdsprachen, aber auch die sozialen Codes von höfischem Protokoll und höfischer Intrige) für die Atreides auf Arrakis überlebenswichtig. Andererseits ist es bezeichnend, dass Villeneuves Film visuell gerade dort brilliert, wo Lynchs  Interpretation geradezu lachhafte Züge annimmt: In der Darstellung des Energieschilds und der (Bene Gesserit) Stimme. In den Büchern führt die Entdeckung des Holtzmann-Effekts u. A. zur Technologie des Schutzschilds, der herkömmliche, schnelle Projektile abwehrt und in Konfrontation mit Energiewaffen zu selbstzerstörerischen Explosionen führt, was (neben dem butlerischen Dschihad) die technologische Landschaft von Dune rechtfertigen soll. Bei dem Wechsel von fortschrittlichen Projektil- zu traditionellen Handwaffen handelt es sich also eher um das Ergebnis kalkulierter Abrüstung und nicht um einen Rückschritt. In der Verfilmung von Denis Villeneuve kehrt die Ästhetik des Energieschild gleichzeitig aber das ludische Selbstverständnis der feudalistischen Kriegsführung nach außen. Wie in einem Computerspiel verfärbt sich der Schutzschild im Kampf zu einem bläulichen Schimmer und leuchtet bei einem tödlichen Treffer rot auf. Game Over. Die xenolinguistische Kommunikation findet also auch mit den Zuschauenden statt. Die Architektur und die Kostüme in Dune (2021) dienen nicht nur der Entfremdung des Zuschauers, sondern auch der Vermittlung der virtuellen, sozialpsychologischen Architektur, der Psychotektur der fiktionalen Gesellschaft, in der sich die Charaktere bewegen. Sie soll verstören und anziehen. Kunstwerke dieser Art sind selten geworden.  Die Stimme (der Bene Gesserit) wirkt wie eine tatsächliche xenolinguistische (Sprach-)Technologie, die wie schon in Arrival (2016) in der Lage ist, durch Kommunikation Veränderungen im Bewusstsein zu erzeugen. Ein sprachliches Virus, das den Körper in Besitz nehmen kann.

 

Der Lisan al Gaib verweist zusammenfassend auf eine doppelte Bedeutung: Da ist die fiktionale Fremenprophezeiung von einem außen-weltlichen Propheten, die als Social Engineering (Missionaria Protectiva) gezielt von den Bene Gesserit gestreut worden ist, und die aus dem arabischen Wort (wörtlich: versteckte/unsichtbare Zunge) übernommene Bedeutung für einen außerweltlichen Propheten, der eine höhere Dimension der Realität (al Gaib) einsehen kann. Wie die zwei Gesichter des Paul Atreides seinen Kosmos für immer verändern werden, durchbricht der Film die vierte Wand als Prophezeiung und lädt das vom kapitalistischen Realismus geplagte und vom Historismus des beginnenden 21. Jahrhunderts gelangweilte Publikum ein, sich der Selbstentfremdung zu öffnen und den Wert des Anderen und des Anderswerden auf der Leinwand gespiegelt zu sehen. Das Ende der Ära Merkel, diese lange Stagnation, kann zur Chance werden, aber nur, wenn wir uns auch trauen, die Herausforderung anzunehmen ohne uns mit falschen Kompromissen zufrieden zu geben. Die 2020er Jahre müssen Jahre der Organbildung und der Organempfindung werden. Politisch wie ästhetisch brauchen wir dafür Stimmen aus der Außenwelt. Anders als uns die Propheten der Konsumbanalität und die priesterlichen Verwalter der toten Träume des 20. Jahrhunderts weismachen wollen, brauchen wir radikale Fremdheitserfahrungen, um diese neue Welt denkbar zu machen. Denis Villeneuve mausert sich hier zu einem der bedeutendsten Künstler des frühen 21. Jahrhunderts. Wir müssen unseren Platz finden, aber nicht um ihn als neue Generation im Schlachthaus des Klimawandels zu übernehmen, sondern um die Welt tatsächlich aus den Angeln heben zu können, das Szepter dort zu übernehmen, wo Boomer und GenX versagt haben. Wie uns unser Freund Jamis (gespielt von Babs Olusanmokun) gelehrt haben könnte: Wir müssen das Andere nicht ergründen (können), wir müssen es erfahren (wollen). Affirmation ist in erster Linie ein Bekenntnis zum Werden, das wieder unschuldig werden muss:

»For perhaps flows are not yet deterritorialized enough, not decoded enough, from the viewpoint of a theory and a practice of a highly schizophrenic character. Not to withdraw from the process, but to go further, to ‚accelerate the process‘, as Nietzsche put it: in this matter the truth is that we haven’t seen anything yet.«

(Deleuze, G. – Guattari, F. (1972). The civilized capitalist machine. In: Robin Mackay, Armen Avanessian (2014). #Accelerate#. The Accelerationist Reader (147-162). Berlin: Merve, S. 121.)

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