Rammstein und der Missbrauch der Kunst
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Der Rammstein-Skandal schlägt jeden Tag neue Wellen und hat viele Rammstein-Fans, zu denen ich mich auch zähle, zutiefst erschüttert. Neben den von der Irin Shelby Lynn gesammelten Erfahrungsberichten auf ihren Social-Media-Profilen und den von verschiedenen Redaktionen anonym aufgenommenen Geschichten, hat die Influencerin Kayla Shyx ein überaus sehenswürdiges Video veröffentlicht, das die Vorwürfe auf den Punkt bringt. Trotz all dem ziehen es manche Rammsteinverteidiger vor, die zahlreichen Opfer zu erniedrigen oder ihnen alternative Motive unterstellen. Die Tiefpunkte dieser Debatte, von den zum Derailment herbei gerufenen »grabschenden Ausländern im Freibad« bis zum auf Shelby ausgesetzten Kopfgeld, nehmen kein Ende. Der letzte Höhepunkt dieser Verachtung gegenüber den Anliegen der jungen Frauen, war wohl der in München geplante Kniefall vor der Band und die menschenverachtenden Kommentare seitens einiger Rammsteinfans gegenüber einer kleinen, harmlosen Gegendemonstration. Die Band selbst fühlte sich nur genötigt, einige halbgare Statements zu veröffentlichen und die »Sex-Casterin« Alena Makeeva zu entlassen, obwohl sie nach wie vor im Umfeld der Konzerte aktiv sein soll und keineswegs die einzige Enablerin war.
Die Empörung über das Verhalten der Verantwortlichen und ihrer Verteidiger*innen ist richtig, wichtig und notwendig. Die bedingungslose Solidarität mit den Opfern steht außer Frage. Auch wahr ist allerdings, dass selbsternannte Moralapostel nur darauf gewartet zu haben scheinen, ihrer Häme gegenüber Rammsteinhörer*innen und der immer schon missbräuchlichen Musik freien Lauf zu lassen. Solche Abgründe tun sich ja keineswegs nur bei denen auf, die auch Kunst über Abgründe machen und manchmal fragt man sich, als ehemaliger Rammsteinfan schon, was all die Spötter*innen tun würden, wenn es ihr liebstes Musikgenre treffen würde. Kognitive Dissonanz ist eben ein menschliches Problem und nicht lediglich auf schmutzige Musik beschränkt.
Ich war nie auf einem Rammsteinkonzert, ich kenne die Vorgänge nicht, aber ich glaube den Opfern. Wie üblich bei solchen Lagerbildungen in Social-Media-Blasen, ist nicht immer leicht, die Sachlage, Vorurteile und berechtigte Schuld- und Verantwortungsfragen auseinanderzuziehen. Das entbindet einen aber nicht davon, eine Sache, die zum Himmel stinkt, mit kritischem Blick zu hinterfragen statt an den eigenen guten Erinnerungen an die Musik festzuhalten. Es gab unzählige, differenzierte Texte zum Thema: Da sind die (vor Kayla Shyx veröffentlicht und danach) Videos vom dunklen Parabelritter, das (nach Kayla Shyx veröffentlichte) Video von Rezo. Sehr lesenswert sind außerdem die Blogbeiträge von Meike Stoverock (Eine Frage der Haltung, Rammstein II).
Gleichzeitig möchte ich betonen, dass die Transgression in der Kunst einen wichtigen Platz einnimmt und diese Rebellion gegen den guten Geschmack aufzugeben, das Problem weder lösen wird noch aufklären kann. Genauso wie Rammsteintexte die dunkelsten Impulse menschlicher Natur am spießbürgerlichen Dekor vorbei ins Licht zerren, dreht sich der Wettbewerb um die „schönste Seele“ der öffentlichen Selbstdarstellung in den sozialen Medien den Spieß um: Die durchtriebensten Gelüste der Psyche erhalten Absolution in der abstrakten Form einer Zugehörigkeitsformel (»für« oder »gegen«). Um Zizek zu paraphrasieren: Du hast den großen Anderen auf deiner Seite, also kannst du machen, was du willst. Gerald Bronner hat das in seinem Buch Kognitive Apokalypse auch sehr gut auf den Punkt gebracht im Paradox der menschlichen Seele, dazugehören zu wollen und gleichzeitig einzigartig zu sein jenseits aller künstlichen Konstrukte der Entfremdung. Jedes Zeichen (z. B. Merch oder alte CDs, die man schon vor langer Zeit gekauft hat) wird so plötzlich zum Makel, das als Stigma dient, um die Verwerflichen von sich werfen zu können. Wenn man also zur symbolischen Zerstörung des eigenen Besitzes aufruft (statt eine kritische Auseinandersetzung zu fordern und die Band nicht mehr zu unterstützen), drängt sich der Vergleich mit den ebenfalls von Social Media angeheizten Boykott-Exzessen der Rechten auf, wenn wieder einmal eine Marke »zu woke« geworden ist und damit den eigenen moralischen Vorstellungen einer cis-normativen Kernfamilie nicht mehr genügt. Die Fantasie hier ist die eines Reinheitsgedankens, der nicht nur absurd ist, sondern auch gefährlich. Schaut man Riefenstahl-Filme mit dem Blick des Historikers, fällt sofort auf, wie sehr sie den Schmutz leugnen. Straßen sind sauber, Körper geordnet, Sexualität existiert nicht. Und hier gibt es einen gewichtigen Unterschied zur Inkorporation bestimmter libidinaler Elemente der Nazi-Ästhetik bei Rammstein zu politischen Rechten und ihren Vorgängern wie Laibach unterscheidet: Sie sehen den Schmutz, die Perversion, das Untote und Sexuelle als unabtrennbares Glied des Menschen und so wird der Bedeutungshorizont der rechten Mystik als etwas Fiktives selbst entzaubert. In Nazi-Deutschland musste das Schmutzige an den Rand verbannt werden, in die Lager, an die Front. Ebenso wurde die Perversion selbst für die Opfer, die am Stärksten unter diesem Regime gelitten haben, zu einem Ausweg, um die erlittenen Traumata zu verarbeiten. So kursierten in Israel unter Holocaustüberlebenden die sogenannten Stalag-Hefte – Heftromane mit sadomasochistischen, pornografischen Inhalten, die oft um das Fantasiebild der Nazi-Domina (ähnlich des Kostüms von Ruby Commey im Musikvideo zu Deutschland) kreisten. Aber Spuren dieser emotionalen Aufarbeitung der Traumata des 20. Jahrhunderts finden sich auch in der Philosophie des Franzosen Georges Batailles oder der Literatur J. G. Ballards.
Psychologisch betrachtet haben diese Exzesse, die von Rammstein dann kommerzialisiert worden sind, also einen Sinn, der über bloßen Machismo, Verherrlichung von Nazi-Ästhetik und Frauenverachtung hinausgeht. Ob diese Texte dann selbst problematisch werden oder das lyrische Ich mit dem Autoren identisch ist, sind andere Fragen, die gleichzeitig mit dieser bewussten Zerstörung der »schönen Seele« existieren können. Denn die schöne Seele mag sich im Bild der kindlichen Unschuld suhlen, was ja im Ökosystem der Gegenkulturen des 20. Jahrhunderts auch stattfand, aber diese Ästhetik kann genau so mit Horror, Missbrauch und Sexismus gefüllt werden. Das drohen wir zu vergessen: Wir sehen die Ikonografie von Soldatenstiefel, Wehrmachtszombies und bewaffneten Riesenpimmeln, aber nicht »die Kraft durch Freude«, die den Deutschen den neuen Vernichtungskrieg schmackhaft gemacht hat. Durch schlichte Identifikation mit einem »für« oder »gegen« wird auch von diesen tiefer führenden Zusammenhängen abgelenkt, die die Sache zum Symptom werden lassen. Was zum Unding erklärt wird, ist die Graustufe, die Ambivalenz, das »professionelle Drüberstehen« und hinter diesem Urteil verschwindet dann das eigentliche Problem. Die Rockstar-Publikumsbeziehung hatte immer etwas Faschistisches und zwar unabhängig davon, was auf der Bühne gespielt wird, ob der Popstar ehrlich mit seiner eigenen libidinalen Maschinerie war oder nicht. Das kann man reflektieren. Hitler war der erste Rockstar. Der Faschismus ist kein sorgsam eingezäuntes Abartiges, das man nur wieder ausgrenzen muss, um sicher zu sein. Man muss Es reflektieren, aber mit Blick auf die gesamtgesellschaftliche Rolle der Konzerterlebnisindustrie in der heutigen Welt und mit einem Sinn für die Parallelen dieser analogen Dynamik mit den durch die Resonanz der Algorithmen gesteuerten Prozesse in sozialen Medien – nicht im Tunnelblick auf das vermeintlich transgressiv Regressive.
Hier zeigt sich leider eben auch eine interessante (und vielsagende) Parallele zwischen denen, die Rammstein mit allen Mitteln verteidigen, und jenen, die Rammstein mit allen Mitteln bekämpfen. Ich meine damit explizit nicht die Opfer und ihr Recht auf Emotionalität, sondern die Zweit- und Drittkommentatoren, die es anhand der Texte oder der Ästhetik der Band immer schon gewusst haben wollen. Ich meine die, für die das Meer ein Urlaubsfoto ist und nicht auch der Gestank verwesender Tierleichen – die, die sich den Luxus leisten können, all dieses Reale aus ihrer Realität ausschließen zu können. Die einen sagen, die »Groupies« hätten ja wissen müssen, was »bei solchen Leuten« Backstage passieren kann. Die anderen meinen, wenn Till Lindemann ein Vergewaltigungsgedicht schreibt oder einen Porno dreht, der nur schwer erträglich ist, war er immer schon als Monster erkennbar. In anderen Worten: Die »Groupies« (begrifflich erweitert auf »die Fans«) hätten es wissen müssen.
So
war die erste Anlaufstelle nach der Entzauberung einer Band, die auch
mir viel bedeutete, ein Rewatch der ersten Staffel von True
Detective, die den Tod der Gegenkultur viel besser illustriert
hat als alle Fantasien einer heilen Welt, zu der man nur zurückkehren
müsste. Das Gegenteil ist der Fall: Nichts ist gelöst. Die Zeit ist
ein flacher Kreislauf. Das einzige, was wir tun können, ist sich
immer wieder neu in den Prozess zu werfen. Solange es Licht gibt, hat
die Dunkelheit (der Natur, die uns alle hervorgebracht hat) nicht
gewonnen.
Poetik der Existenz
So poetisch diese letzte Einsicht ist, sie ist selbst eine fiktive Projektion. Was Rust Cole zu einer interessanten Figur macht, ist sein dynamischer Relativismus zwischen dem Licht in seinen selbstverleugnenden Instanzen (dessen Extrem Marty sowie die korrupten Strukturen des Staates und der Religion sind) und der Dunkelheit der Natur, dem Sumpf und den Wucherungen des polymorph-perversen Untergrunds der Existenz. Die Dunkelheit hat ihre eigene Wahrheit, die man braucht, um die Lügen im Licht zu durchschauen. Beides ist grundsätzlich amoralisch.
Aber was ist was?
Das Ende der Staffel zeigt Rust Cole als einäugigen Odin, als träumend-komatösen Märtyrer des 20. Jahrhunderts, der ein Auge geopfert hat, um Weisheit zu erlangen. Freiheit vom Licht und von der Dunkelheit gibt es nur im Prozess und dieser Prozess ist ein Kreislauf der Selbstzerstörung. Das ist das Leben, vom Tod erschaffen, um aufs umgebracht werden zu können.
Es heißt also, man könne das lyrische Ich nicht als Trennung von Autor und Werk herhalten und auf gewisse Weise stimmt das. Wir sind dunkle Natur und lichte, sprachliche Illusion, so kann auch der Kampf gegen die Dunkelheit und/oder gegen das Licht nur im Prozess der Erleuchtung und/oder Verdunklung geführt werden. Der Selbsttäuschung kann man nicht entkommen, egal für wie rational und/oder moralisch man sich hält. Wenn wir das lyrische Ich als Vorboten des Autoren verstehen, führt es uns in die nächste Sackgasse, denn dann kann man nicht anders (oder wird ermutigt, wie im Argument der mit rechter Ikonografie spielenden Ironie, die echte Nazis anziehen kann), das Gute im Schönen und vermeintlich Unschuldigen zu verorten. Aber hüte dich vor denen, deren erster Impuls es ist, zu verurteilen und zu strafen. Moralismus ist nicht Moral.
Gehe
stattdessen wechselnde Allianzen ein. Also möchte ich noch einmal
klar und eindeutig feststellen, worum es im Rammsteinskandal geht:
Machtgefälle, Machtmissbrauch, patriarchale Strukturen in der
Musikindustrie und Erwartungshaltungen um die (ent-)romantisierte
Figur des Rockstars, des alten weißen Mannes im Provokationsanzug.
Es geht NICHT um:
- Die Grenzen des Sagbaren in der Kunst
- die Überlegenheit einer schönen (apollinischen) Kunst gegenüber einer hässlichen (dionysischen) Kunst
- Die Sichtbarkeit von Autorschaft in der Kunst
- Die Unsichtbarkeit von Autorschaft in der Kunst
In manchen Reaktionen nimmt man jedoch einen beunruhigenden Trend im politisierten, akademischen und schöngeistigen Feuilleton wahr, der sich doch so problemlos in die (den Anderen oft vorgeworfene) zunehmende Infantilisierung der Kulturkritik einreihen lässt. Als ob es die zahllosen (auch sexuellen) Skandale in der klassischen Hochkultur nie gegeben hätte, als wäre #Metoo am »netten« Sitcom-Onkel Bill Cosby vorbei gegangen. Als hätte er nur auf die Enthüllung gewartet.
Selektive Blindheit, Pedro Pascal wird uns retten...
Tár ist ein hochproblematischer, kulturreaktionärer Film? Nein, ich darf mir Lydia Tár zum ästhetischen Vorbild nehmen, obwohl sie explizit als Sexualstraftäterin markiert wird und alles, was außerhalb dieser Missbrauchsindustrie stattfindet (repräsentiert durch POC-Cosplayer auf einer Fantasy-Convention am Ende des Films) als niedere Form von Kunst abwertet. Blackmetal ist natürlich auch in Ordnung, denn man kann ein Meme daraus machen, dass Linke erst immer recherchieren müssen, dass die Band nicht aus Nazis besteht – was man natürlich auch bei jedem Rapper tut, den man mag … richtig? Wenn man schon dabei ist, kann man gleich auch nochmal betonen, dass Laibach ja in Nordkorea aufgetreten ist, sodass man weder die Band als rechts framen, noch Nordkorea als Gesellschaft kritisieren kann. Eine Diktatur ist ja nicht die Summe ihrer progandistischen Darstelllung im Ausland (Ich bin sehr klug).
Achja, Russland hat legitime …
Wie DU findest, man kann im Marquis de Sade feministische Ansätze und eine ironische Totalisierung der Aufklärung erkennen? Wie kann man es rechtfertigen, diese Vergewaltigungsfantasien, diesen Schmutz und diese Lust an der Identifikation mit dem Täter als lyrische Philosophie zu lesen? Wie Das ist ja ungeheuerlich, du ekliger Typ, du. Pervers, sexistisch, unwert links genannt zu werden.
Tja, liebe Angela Carter …
Wenn das der süße Führer … ehm … Pedro Pascal wüsste ...
In die Unterwelt und das Purgatorium hinauf
Wäre die Welt doch eindeutig, wäre doch nicht bereits die Natur ein Dreckpfuhl an Ambivalenz, Krankheit und Wahnsinn, wäre doch die Sprache in der Lage das Verbrechen eindeutig vom Gesetz zu trennen, das Böse eindeutig vom Guten zu unterscheiden…. Ich halte es daher mit John Wick, der im vierten Teil der Saga, mit der Hilfe von Klaus (»Ich bin Klaus!«) auf orphischer Odyssee ins Berghain eindringt, um dort das hyperstitutionale Abbild von Till Lindemann (Killa Harkan, gespielt von Scott Adkins) zu töten. Ich nehme als wahrer als die Wahrheit wahr, was er hier in Form der tragischen Fiktion sagt: Einer versucht, sich aus dem System herauszudienen (Caine). Einer will sich heraustöten (Wick). Einer will sich herauskaufen (der Tracker/Nobody).
Der Vierte hält alle Trümpfe in der Hand, …
… weil er die Mittel besitzt, das System zu seinen Zwecken zurechtzubiegen oder so glaubt er zumindest, denn die ultimative Konsequenz dieser Instrumentalisierung des Machbaren kann er im Film wie im realen Leben nicht entkommen.
Die John-Wick-Reihe ist ein klassischer Mythos, wie man ihn in einer solch überwältigend reinen und ehrlichen Bildsprache lange nicht mehr erzählt bekommen hat. Winstons Stoizismus (»Such is Life«), gespielt von Ian McShane, affirmiert weder den Täter- noch den Opferstatus dieses Systems, sondern nur die an den Engel der Rache gerichtete Frage: Wohin soll das führen, wo endet es, Jonathan?
Ein kleines Dilemma, eine Quadriga an Dilemmata (get it, weil Brandenburger Tor?). John Wick stirbt, nachdem er gemordet hat, um der Schuld und die von ihr evozierten Trauer zu entkommen. Der klassische Mythos kennt auch seine nicht unerhebliche Anzahl an vergewaltigenden Göttern und Heroen, die das Schicksal einholt - ebenso wie Artemis/Diana, die Männer schon für einen falschen Blick erblinden lässt und Ehefrauen (Hera), die die Opfer ihres Mannes (Zeus) abstrafen, statt den eigentlichen Täter. Dantes Werk, eine andere große Inspirationsquelle dieser Filme von Stahelski, zeigt, dass der Genuss der Bestrafung der Anderen ebenso der Lust entspringt wie der Machtmissbrauch, der unter dem Blick des großen Anderen stattfindet. Rammstein ist eine Tragödie der Unterwelt, doch das ändert nichts daran, dass am Ende der Reise Gott trotzdem sterben muss und jeder Weg der Buße nicht in den Himmel, sondern lediglich an die Macht führt. Und dort ist nichts mehr wahr und alles erlaubt. Die Zeit ist ein flacher Kreislauf. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Dante von Machiavelli nur im göttlichen Dekor seiner Tugend.
Der
Gewalt ohne Namen, ein Marquis
de Sade.
Die Kirchlichkeit der Kritik
Der Postillion hat es verstanden und vermittelt Rammstein in der internen Aufklärung der Missbrauchsvorwürfe vielsagend an die katholische Kirche. Die Symmetrie ist das eigentlich Schreckliche. Das trifft hier (und mit dem für tot erklärten Stilmittel der Ironie) den Kern einer Problematik, die in den Selbstbildern unserer »Gesellschaft der Singularitäten« (Andreas Reckwitz) »advertised by kitschy-cutesy Pop« (Mark Fisher) zunehmend und auf besorgniserregende Weise ausgeblendet wird. Dass der Zauber der Gegenkultur sich in einen kulturindustriellen Muff der Konformismen verwandelt hat, dass die Macho-Rebellion gegen »Mom-ism« (vgl. Simon Reynolds/Joy Press »Sex revolts«) immer auch ein Problem mit Frauenfeindlichkeit hatte, dass Idole sich immer wieder als Monster entpuppen, darf man der neuen Mittelklasse nicht als Entschuldigung durchgehen gelassen werden, die pastorale, apollinische 1950er -Fantasy-Idylle als »wholesame« Gegenwelt hochzustilisieren – denn die gibt es nicht ohne ihre Bill-Cosby-Sitcoms und dem Dorfpfarrer, der im Keller Messdiener vergewaltigt. Vor solch »kleinen« Sünde kann Gott dann ja die Augen verschließen. Der Perverse kennt keine Unsicherheiten. Man ist eben Mensch, weder Gott noch Heros. Bei Aufdeckung der privaten Lüge durch die öffentliche Wahrheit wird der Priester dann natürlich an einen Ort versetzt, damit er das Narrativ der Reinheit nicht gefährdet.
Nichts davon ist neu.
Neo-Suburbia kann aus denselben Gründen wieder zum Reenactment pädophil-patriarchaler Gewalt werden, wie die Fiktion eines lyrischen Ichs Tarnumhang für echte oder gewollte Taten sein kann. Hier hat die Musik von Rammstein den alten wie den neuen Spießern aber eines voraus: In der Ehrlichkeit seiner Texte blieb Lindemann stecken wie der Marquis de Sade bei Adorno zum Beweisstück A für die dunkle Seite der Aufklärung gemacht wurde und sich bei Carter zum Enthüllungsinstrument der Gewalt des bürgerlichen Scheins im Ehebett mauserte. Können wir ähnlich über die Musik von Rammstein reden oder wäre das zu grausam für unsere menschlich, allzu menschlichen Augen? Das lyrische Ich hat sich gegen Lindemann gewandt, nicht umgekehrt. Fakt ist, würde unsere Kultur immer noch primär aus schönem Geist und schöner Seele bestehen, wäre all diese Empörung unmöglich – so unmöglich, dass sich die Kritiker*innen vermutlich selbst zu Außenseiter*innen machen müssen, zu unterkomplexen Rebellen, zu einer fehlerhaften Gegenkultur. Diese Tatsache war es, die im 20. Jahrhundert zum Anlass wurde gegen den Status Quo zu rebellieren, nicht die Mütter, sondern der Vater, der sich hinter der Mutter versteckte. Aber dieser Vater kam dann und zeigte auf die Mutter: »Das war ich nich! Du willst nicht so sein wie sie, du willst nur so sein wie ich.«
Das ist »Mom-ism« und auch der zentrale Grund, warum man zwar den vom System Versklavten zuhören muss, aber ihrer Rolle am Spiel im nietzscheanischen Sinne nicht immer vertrauen kann. Aus dem Sklaven spricht der Herr. Ohne Herr zu werden, kann der Sklave nicht über sich sprechen.
Geschichte wiederholt sich, einmal als Tragödie, dann als Farce.
Früher versteckte sich der Sexismus hinter hohen Konzepten wie Rationalität, Schöngeistigkeit und Religion. Die Vergewaltigung fand im Hinterzimmer dieser Werte statt, dem Ehebett, und tut es immer noch. Nun sind es die gealterten Rockstars, die sich ein »Frauenverwurstungssystem« einrichten lassen, weil »Groupies« existieren (müssen). Die Sonne stürzt in ihre Dunkelheit. Die Kritik am Altherrenwitz ist Altherrenwitz geworden. Hat sich das kritisch Authentische zu einer mechanisierten Gewaltstruktur verfestigt, wie Gerald Bronner es am Bild der Medusa illustriert hat, besteht die Herausforderung weniger darin, mit einer Meinung, Stellungen zu verteidigen oder anzugreifen, sondern sich vor diesem nicht sehr schmeichelhafte Spiegelbild unserer Spezies nicht wie ein Kaninchen auf der Autobahn versteinern zu lassen oder in überkommene Illusionen zu flüchten. Man muss diese Rückschlüsse zum Anlass zu nehmen, produktive Veränderung jenseits eines Urteils von »gut« und »böse« anzustreben.
Die Sonne macht den Sumpf erst lebendig.
Das Sichtbare sichtbar machen
Das Problem ist hier das Problem einer Dialektik der Sichtbarkeit, nicht einer kulturellen Identität oder der moralisch korrekten Wertung. Das erste ist ein Prozess der Bilddeutungen ohne Anfang und Ziel, das zweite mit Rückgriff auf das Absolute effektiv unmöglich. Wie die wunderbaren Arbeiten von Hito Steyerl zeigen, kann Sichtbarkeit ein Anliegen vor der Gewalt schützen oder es kann über Proxies, Fantasmen, Bots, versteinerte Erwartungshaltungen oder gezielte Desinformation neue Abgründe der Unsichtbarkeit erzeugen. In einem ihrer wundervollen Essays in »Dutyfree Art« wählt sie zur Illustration das Schicksal eines sowjetischen Panzers, der im Donbass als sowjetisches Mahnmal existierte, bevor er von Separatisten wieder zur Waffe gemacht wurde. Diese Anekdote steht symbolisch für eine Gefahr, die implizit jeder Form von Historismus inne wohnt: Es gibt einen Unterschied zwischen Waffen, die authentisch ins Museum gestellt werden, d. h. solche, die sich nur funktional also ihrem Bedeutungszweck nach verändert haben, und solchen, die auch auf physische Weise unbrauchbar gemacht werden, z. B. Renaissance-Kanonen, deren gusseiserne Körper mit Zement gefüllt werden. Die Reaktion einiger vermeintlicher Kulturkritiker*innen auf Skandale wie den um Rammstein, Manson etc. liest sich weniger wie eine kritische Reflexion, sondern eher wie das, was der russische, rechtsextreme Philosoph Dugin an der Postmoderne schon in den 2000ern als Heroisierung des Degenerierten lamentiert hat. (Und wie wir alle wissen hat Russland ja ….) Wir müssen die Kanonen mit Zement füllen oder wir werden von der Geschichte eingeholt, die in unseren Worten schläft - das gilt sowohl für die historisierten Formen der Gegenkultur als auch für die Kulturen der Leugnung, die ihr vorausgingen.
Die Zeit ist ein flacher Kreislauf. Nichts ist gelöst, alles ist auflösbar.
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